Was Urbanität heute bedeutet

Megastadt Was, wenn die Slums von Kalkutta oder Rio nicht „Auswüchse“, keine bloßen Wucherungen, sondern Vorwegnahmen globaler Entwicklungen sind?

Unser historisches Verhältnis zur Stadt, so befand der Philosoph Boris Groys vor einiger Zeit, sei vom utopischen Traum nach vollständiger Vernünftigkeit, Übersichtlichkeit und Kontrollierbarkeit der eigenen Umwelt geprägt. Zwar sind Anspruch und Wirklichkeit selten deckungsgleich. Aber in kaum einem Handlungsfeld klaffen sie so weit auseinander wie im Urbanismus. Im Projekt „Stadt“ verbinden sich mit einer Lebens- und Sozialform gleichzeitig Realitäten wie Wünsche. Stadt ist so verstanden ein analytischer und ein normativer Begriff. Das Verständnis von Urbanität als Vorstellung „guten Lebens“ wirkt ebenso normativ, wie es die analytische Betrachtung der Stadt bestimmt.

Als Georg Simmel 1903 schrieb, die Stadt sei keine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt, lebte gerade einmal ein knappes Zehntel der Menschheit in Großstädten. Heute ist es mehr als die Hälfte. Und mit der drastisch zunehmenden Verstädterung werden die räumlichen Formen des Zusammenlebens immer bizarrer. Zwar gibt es viele Regionen, die von urbanen Schrumpfungserscheinungen geprägt sind – wie es das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „shrinking cities“ unlängst eindrucksvoll illustriert hat. Aber aus globaler Perspektive fallen sie quantitativ kaum ins Gewicht. Was man beschwichtigend Verstädterung nennt, wird durch einen kontinuierlichen Zustrom von Arbeitssuchenden, vom Land „vertriebenen“ Migranten genährt, welche sich im Zuge der (wirtschaftlichen) Modernisierung in der Stadt eine neue, bessere Lebensgrundlage erhoffen. Dieses Problem auf eine individualistische Goldgräber-Mentalität zurückzuführen, greift allerdings zu kurz. Stehen die Städte doch unter dem Druck der fortschreitenden Tertiärisierung ihrer Wirtschaft, einer grenzüberschreitenden Arbeitsteilung, der Transnationalisierung der Produktion, der Segregation ihrer Bevölkerung und anderem.

Wie es wimmelt

Hinter der nüchternen Betrachtung von Fakten und Tendenzen verbirgt sich ein weiteres Bild. Denn zu den immensen realen Problemen gesellt sich bei vielen (Groß)Städten ein bestimmtes Negativ-Image. Gerade das bengalische Kalkutta genießt dieses zweifelhafte Privileg: „Warum nicht ein Gedicht über einen Haufen Scheiße schreiben, wie Gott ihn fallen ließ und Kalkutta nannte. Wie es wimmelt, stinkt und lebt und immer mehr wird.“ Günther Grass, von dem diese Worte stammen, ist nicht der Einzige, den die ehemalige Hauptstadt Britisch-Indiens an seine ästhetischen, moralischen und psychischen Grenzen geführt hat. Bilder wie diese prägen sich all jenen ein, die eine Megacity aufmerksam durchstreifen: Es ist die unmittelbare, kognitive, haptische Erfahrung dessen, was Migration, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot in Städten und Agglomerationen namentlich der Dritten Welt bewirken. Zusammen mit exorbitanten Geburtenraten bedingt dies eine akute, ja explosive Situation. Kein Platz, kein Job, kein Geld – was tun?

Als Konsequenz haben sich die ärmeren Bevölkerungsgruppen vielfach auf informelle und illegale Weise mit Obdach versorgt. Man zieht in die Slums oder wird Squatter. In schon bebauten, verdichteten Stadtbereichen geschieht dies entweder durch Überbelegung und Aufstockung bestehender Wohngebäude: In Kairo sterben jährlich Dutzende durch den Kollaps völlig überladener Baustrukturen. Oder auf Flächen, die aus topographischen Gründen (Sumpf, Steilhang etc.) von konventioneller Bebauung frei geblieben sind. Hauptsächlich aber wird an den Stadtrandzonen ohne Baugenehmigung auf Acker- oder Brachland mittels kleiner Bauhandwerksfirmen oder auch Selbsthilfe gebaut – genauer: eine Behausung aus allen möglichen (Abfall)Materialien zusammengeflickt. Gecekondu werden solche Siedlungen genannt, Favela und Bidonville, Barriada oder Bustees.

Groß sind die Unterschiede zwischen ihnen nicht. In Städten wie Bombay, Nairobi, Rio de Janairo oder Jarkata sind die Quartiere aus Wellblech und Pappe zu riesigen Kolonien zusammengewachsen. Sechs, acht Menschen hausen in einem winzigen Raum, fast immer ohne Wasser und ohne Latrinen. Wenn es regnet, verwandeln sich die schmalen Gänge zwischen den Hütten in einen abgrundtiefen Morast. Der Kot steht den Menschen buchstäblich bis zu den Knien. Man erlebt eine Kakophonie der gegenwärtigen Stadt, ein Zerrbild dessen, was in unserem Kulturkreis als Urbanität beschworen wird. Aber was wenn dies keine beklagenswerten Auswüchse sind, keine bloßen Wucherungen, sondern Vorwegnahmen globaler Entwicklungen? Allen himmelschreienden Zuständen zum Trotz scheint ja der Satz zu gelten: In der Stadt hungert es sich besser. Und tatsächlich haben selbst die schlimmsten Monsterstädte ein Mindestmaß an Infrastruktur und vor allem – Attraktivität zu bieten, auch wenn letztlich nur ein geringer Teil der Zuwanderer in deren Genuss kommt. Aber ihr sichtbares Vorhandensein erzeugt eine offenbar unwiderstehliche Hoffnung.

Neue Ordnungsaufgaben

Doch die Hoffung trügt – auch in der Ersten Welt. Die moderne Wirtschaftsstruktur garantiert keineswegs (mehr) die Integration in das gesellschaftliche System. Sie macht die „globale“ auch zu einer „dualen“ Stadt. Einerseits verdeutlicht die Gentrifizierung, die von Verdrängungsprozessen begleitete Aufwertung von Stadtquartieren, in einer für die Betroffenen sehr unmittelbaren Art und Weise, dass und warum es mit der angeblichen Dezentralisierung im Zuge der Dienstleistungsgesellschaft nicht weit her ist. Andererseits ruft die global city, die Schaltzentrale der Weltwirtschaft, förmlich nach einem enggewebten Netz eben auch persönlicher Beziehungen. Die Eliten sind selbst im Zeitalter fortschrittlichster Kommunikationssysteme auf der Suche nach einem räumlichen Umfeld, das die wirtschaftliche Dynamik fühlbar macht.

Die Stadtentwicklung sieht sich mit einem fundamentalen Problem konfrontiert, das der renommierte Planer Rem Koolhaas so formuliert hat: „How to explain the paradox that urbanism, as a profession, has disappeared at the moment when urbanisation everywhere – after decades of constant acceleration – is on its way to establish a definitive, global ‚triumph‘ of the urban condition?“ Planung steht in der zeitgenössischen Gesellschaft nicht eben hoch im Kurs. In gewisser Weise gilt sie als ein Relikt des Kalten Krieges, und mit ihm glaubte man die Welt vom modernen Planungswahn befreit. Nicht von ungefähr: Was sich seit 1945 urbanistisch durchsetzte – und nach wie vor gilt –, ist eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Analyse- und Planungstechnik. Aus ihr entstand unsere heutige Siedlungsstruktur. Das einzelne Haus wurde zum Bestandteil der Megamaschine Stadt, die durch ihre vielfältigen Ver- und Entsorgungstechnologien den Haushalt von zahlreichen Arbeiten entlastete, aber um den Preis einer immer stärkeren Belastung der natürlichen Umwelt.

In den Text der Stadt sind seit je kulturpessimistische Energien eingeflossen. Nachdem Alexander Mitscherlich in den sechziger Jahren die Unwirtlichkeit der Städte weltanschaulich auf den Begriff gebracht hatte, dauerte es zunächst einige Jahre, ehe sich der postmoderne Zeitgeist mittels eines Wortspiels in den achtziger Jahren der „Unwirklichkeit der Städte“ zu öffnen vermochte. Das klang inszeniert und künstlich, war aber auch eine Art Neuentdeckung des Städtischen als Gestaltungs- und Fantasieraum. Man nahm nun weit mehr wahr als nur den Waschbeton der Fußgängerzonen und die Verödung der Innenstädte nach Büro- und Ladenschluss. Seither ist die Stadt nicht mehr nur Wohn- und Wirtschaftsraum, sondern auch bevorzugte Austragungsfläche der Eventgesellschaft.

In und mit der Stadt lässt sich die schleichende Verschiebung der gesellschaftlichen und kulturellen Gewichte erahnen. Es ist eben jenes ‘Unsichtbare’, dem der Schriftsteller Italo Calvino nachspürte: „Es scheint, dass die Stadt von der einen Seite zur anderen perspektivisch weitergeht und ihr Repertoire von Bildern multipliziert; doch sie hat keine Dichte, sie besteht nur aus einer Vorderseite und einer Rückseite, wie ein Blatt Papier mit einer Figur hier und einer Figur dort, die sich nicht ablösen und nicht ansehen können.“ Im Ergebnis solcher Prozesse werden Städte möglicherweise nicht mehr als Orte, sondern als Identitäten verstanden: Sie stellen heute weniger einen geographischen Bezugspunkt dar als vielmehr eine verdinglichte Erwartungshaltung.

Damit ist „Stadtpolitik“ keineswegs entbehrlich geworden. Gerade weil sie mit der Befriedigung alltäglicher Lebensbedürfnisse zu tun hat, liegt ihre zentrale Aufgabe nach wie vor darin, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen der Orientierung am Gemeinwohl und der Optimierung von Eigentums- und Individualrechten Einzelner. Stadtplanung ist dabei, um einen Gedanken des Kultursoziologen Lucius Burckhardt aufzugreifen, ein Zuteilen von Bequemlichkeiten und von Leiden. Denn alles, was Stadtplanung bewirkt, bringe irgendwelchen Leuten Vorteile und anderen Nachteile. Damit aber müsse man „umgehen“. Die Architektur übernimmt als räumliches System noch immer Ordnungsaufgaben innerhalb der Gesellschaft. Allerdings muss man sich dessen neu bewusst werden.

Robert Kaltenbrunner leitet die Abteilung Bauen, Wohnen, Architektur des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung

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