Ostdeutschland scheint den einen als ein gelungenes und im Prinzip abgeschlossenes, anderen eher als ein gescheitertes Projekt postsozialistischer Transformation. Kontinuität bzw. Umkehr und Neubeginn lauten die entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Das eigentliche Problem Ostdeutschlands ist meines Erachtens jedoch als "blockierte Entwicklung" zu definieren. Die Frage, ob bereits die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt sei oder nicht, ist sekundär gegenüber der notwendigen Antwort: ein neuer Entwicklungsschub ist erforderlich.
Entstanden ist nämlich in den letzten zwölf Jahren ein spezifischer Entwicklungstyp ostdeutscher Transformation. Dieser führt im besten Fall objektiv zu einer nachholenden Modernisierung ohne ausreichende eigene Antriebskräfte für selbsttragende Entwicklung und Innovation. Bei den Menschen bewirkt er Anpassungen ohne gesellschaftliches Engagement und Partizipation. Mit einem "Weiter so" - lediglich mit erweiterter Zeitdimension - ist der neuen Situation nicht beizukommen. Um die Blockaden ostdeutscher Transformation aufzulösen, bedarf es eines Umsteuerns. Ein Königsweg ist dabei nicht in Sicht, ein Masterplan nicht vorhanden und nicht realisierbar. Vielmehr geht es um neue Ideen, um einen neuen konzeptionellen Ansatz ostdeutscher Entwicklung.
Perspektivenwechsel und neues Leitbild
Die Diskussion über die Zukunft des Ostens verlangt einen Perspektivenwechsel. Die Leitfrage kann nicht mehr sein, wann endlich holt der Osten recht oder schlecht den Westen ein, wann endlich ist die sozialökonomische Angleichung und kulturell-mentale Anpassung Ost an West vollzogen. Das bislang dominierende Aufholjagd- und Anpassungsszenario, das nie das anvisierte Ziel erreicht, lähmt auf Dauer die Kräfte. Ebenso wie das dem entgegengesetzte Niedergangsszenario. Beide führen letztlich zu Resignation und Depression. Hinzu kommt, dass die bisherige "Referenzgesellschaft" Bundesrepublik selbst im Umbruch begriffen ist. Ein Perspektiven- und Strategiewechsel ist mithin unerlässlich. Voraussetzung wäre eine neue gesellschaftspolitische Debatte, um in Ost und West zuerst Klarheit darüber zu schaffen, dass Ostdeutschland am Anfang eines neuen, schwierigen und langwierigen Wandlungsprozesses steht. Es geht um einen realistischen Zukunftsentwurf, der den Ostdeutschen eine sinnvolle Lebensperspektive eröffnet. Wo liegen die Alternativen?
Ein neues Projekt für Ostdeutschland kann diese Frage nicht mehr ignorieren. Immer neue Verheißungen - von den "blühenden Landschaften" über "Chefsache Ost" zur alsbaldigen "Vollendung der Einheit" - schaffen in Ostdeutschland nicht Zuversicht, sondern letztlich neue Enttäuschungen und vertiefen damit die vorhandene Distanz der Bürger gegenüber der Politik und den Politikern. "Zukunft" wird in Ostdeutschland heute an selbsttragender Entwicklung, aktiven Beschäftigungsmöglichkeiten, sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Anerkennung gemessen. Ein realistisches Entwicklungsszenario bedingt zugleich ein neues Leitbild. Ein solches wäre zum Beispiel die mit der EU-Erweiterung verbundene Orientierung auf die ostdeutsche Großregion als einer "Innovativen Verbindungsregion in der Mitte Europas", die auf Entwicklung und Förderung von Technologie- und Dienstleistungseinrichtungen sowie Zentren des wissenschaftlichen Austausches setzt. Ein solches Leitbild verlässt den Status Ostdeutschland als Beitrittsgebiet mit dem Zwang, alles ein- und nachzuholen, auch wenn es sich schon längst nicht mehr um lohnenswerte Ziele handelt. Es orientiert vor allem auf die Rekombination, Förderung und Neubewertung der eigenen, spezifischen Ressourcen und Potenziale und darauf die bislang wenig diskutierten Standortvorteile Ostdeutschlands zu nutzen, die mittelfristig mit der EU-Osterweiterung entstehen. Dieses Leitbild führt nicht weg vom Einheitsprojekt, sondern begründet es neu, gibt ihm unter dem Label "Einheit in der Verschiedenheit der Regionen" einen zeitgemäßen Inhalt.
Regionale Konzepte
Das Ziel einer wettbewerbsfähigen, selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung gilt für alle neuen Bundesländer, liegen sie im EU-Durchschnitt doch allesamt im letzten Drittel. Notwendig ist deshalb gleichermaßen und vorrangig, die Infrastruktur zielgerichtet auszubauen, die innovativen Unternehmen zu stärken und eine neue, vor allem wirtschaftsnahe Forschungslandschaft zu schaffen. Doch Ostdeutschland ist keine homogene Region. Die Regionalisierung Ostdeutschlands wird weiter voranschreiten. Schon heute ist das Bild differenziert: Metropole, Ballungszentren und deren Umfeld sowie die weit entfernt liegenden Regionen, Wachstums- und abgehängte bzw. entleerte Regionen. Erforderlich sind regionale Entwicklungskonzepte, die den jeweiligen spezifischen Stärken und Profilen der einzelnen Regionen entsprechen und regionale Entwicklungspfade erschließen. Angesichts der begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel dürfte eine Konzentration zunächst auf die potenziellen Wachstumspole nicht zu umgehen sein, um dann Impulse auch auf die strukturschwachen Regionen zu übertragen. Entscheidungsprozesse müssen dezentralisiert und föderalisiert werden.
Neue Aufbruchstimmung
Diese neue Phase in der Entwicklung Ostdeutschlands und seiner Regionen erfordert auch, dass die Ostdeutschen aus der nach ihrer Selbstbefreiung bereits 1990/91 erneut verordneten und selbstgewählten Objektrolle herausfinden und sich als Subjekt artikulieren. Der notwendige neue gesellschaftliche Anlauf dürfte auf jeden Fall ohne eine neue Aufbruchstimmung schwer möglich werden. Angesichts nicht eingehaltener Versprechungen der Politik dominieren oft Enttäuschung, Resignation und Rückzug aus der Gesellschaft. Nur mangels fehlender echter Alternativen votierten die Ostdeutschen für die bisherige Regierungskoalition. Andererseits gibt es seit einiger Zeit - bereits lange vor der Flut - Anzeichen, die mehr Selbstbehauptung, Anerkennung und Gemeinschaftssinn erkennen lassen. Politik sollte gerade dieses, freilich widerspruchsvolle ostdeutsche "Wir- bzw. Selbstbewusstsein" stärken, statt darin wie bislang ein Hindernis für den notwendigen Aufschwung im Osten und für die Herstellung der inneren Einheit zu sehen. Auf jeden Fall dürfte das in den nächsten Jahren entstehende Verhaltensmuster - Aufbruch oder Resignation - hierzulande noch jahrzehntelang nachwirken.
Wenn es den ostdeutschen Akteuren gelingt, ihre spezifischen Themen - selbsttragende Entwicklung, Arbeit, Gerechtigkeit und Anerkennung - stärker als Reform- und Zukunftsthemen der ganzen Bundesrepublik zu thematisieren und gleichberechtigt auszuhandeln, dann werden sie auch nicht mehr länger als Bittsteller, Mahner, bestenfalls Forderer wahrgenommen, sondern als Interessenvertreter, Reformer und Modernisierer der gesamtdeutschen Bundesrepublik. Damit könnten sie zugleich eine Reformdebatte anstoßen, die beiträgt, die gesamtdeutschen Reformblockaden aufzubrechen.
Gesamtdeutsche Reformpolitik
Die überfälligen Reformen wurden 1989/90 im Interesse der Kontinuität der alten Bundesrepublik ausgesetzt. Die Wirkungen des globalisierten Kapitalismus, die Herausforderungen der europäischen Integration und nicht zuletzt die Transformationsfolgen und -krisen in Ostdeutschland haben den Problem- und Wandlungsdruck in der Bundesrepublik inzwischen enorm erhöht. Das "Modell Deutschland" hat seinen früheren Glanz verloren, gerade unter den Ostdeutschen. Die neue Phase der Transformation im Osten ist ohne Wandel im Westen, in der gesamtdeutschen Bundesrepublik nicht mehr denkbar. Unumgänglich sind mehr denn je gesamtdeutsche Reformen: Eine Reform des Systems der staatlichen Regulierung, die Eigeninitiative und Gemeinwohl neu miteinander verbindet: eine Reform der föderalen Ordnung, die die Kompetenzen der Länder und Kommunen stärkt; eine Reform des Arbeitsmarktes, die wieder Ausbildung und Beschäftigung für alle ermöglicht; eine Reform der sozialen Sicherungssysteme, die das Sozialstaatsmodell neu justiert, aber nicht weiter durchlöchert oder gar über Bord wirft u.a.m.
Eine tragende Idee für diese neue Phase der Transformation des Ostens und des Wandels der gesamtdeutschen Bundesrepublik ist gegenwärtig noch nicht erkennbar. Sie ist schon deshalb nötig, weil Ziel und Richtung dieses Wandels und Umbaus der Bundesrepublik umstritten sind. Neoliberale und sozialstaatliche Konzepte und Wertorientierungen werden künftig noch stärker miteinander konkurrieren. Für eine kritische Reformperspektive lautet längerfristig das zentrale Problem dieses sozialen Wandels im Osten und Westen der "Berliner Republik":
- politische Verantwortung und Entscheidung muss wieder Vorrang haben vor der Logik der nationalen und globalisierten Märkte,
- neue Quellen einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Entwicklung und Beschäftigung müssen erschlossen werden,
- soziale Gerechtigkeit ist als Gesellschaftsprinzip zu verankern,
- gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger muss ermöglicht werden, nicht zuletzt durch neue Wege zur Stärkung der politischen Öffentlichkeit, gesellschaftlicher Demokratie und der zivilen Gesellschaft.
Dies zielt auf einen Politikwechsel als Richtungswechsel und als gesellschaftliches Umsteuern. Ob es dazu kommt, ist auch nach dem Wahlsieg von Rot-Grün noch nicht entschieden. Daran aber wird zukunftsfähige Politik, daran wird auch das "Projekt" Rot-Grün am Ende gemessen werden. Weniger an diesen oder jenen, sicher nicht zu unterschätzenden, Einzelvorhaben.
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