Seit einigen Monaten ist eine kontroverse Diskussion um die vorbeugende Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs entbrannt. Doch die Notwendigkeit und Wirkung der Impfung ist umstritten. Der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock nimmt die Debatte zum Anlass, die sozialen Voraussetzungen und Auswirkungen von Präventionsstrategien zu diskutieren.
"Alle Mädchen sollen sich gegen Krebs impfen lassen", titelte die Süddeutsche Zeitung Ende März anlässlich der Entscheidung der Ständigen Impfkommission (Stiko). Diese rät dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA), die Impfung gegen die Typen 16 und 18 des Humanen Papillom Virus (HPV) als Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu empfehlen. Folgt der GBA, der dazu noch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) um Rat fragen kann, dieser Empfehlung, so könnte die HPV-Impfung schon bald eine Pflichtleistung der GKV werden. Von der Stiko empfohlene Impfungen sind aufgrund der neuen Regelungen der Gesundheitsreform 2006/07 künftig nicht mehr Satzungs-, sondern Pflichtleistungen der Kassen. Fast alle Kassen hatten schon vor der Empfehlung bekannt gegeben, die Kosten für die Impfung zu erstatten. Dabei spielte die Konkurrenz um Versicherte wahrscheinlich eine wichtigere Rolle als Kriterien der Wirksamkeit. Die Pharma-Industrie selbst spricht von einem "Durchbruch in der Krebs-Prävention".
Vielversprechender "Durchbruch"?
Davon kann schon deshalb keine Rede sein, weil der Gebärmutterhals-Krebs (Cervix Ca) ein relativ seltener Krebs ist, der in Deutschland lediglich für 3,16 Prozent der Krebs-Neuerkrankungen bei Frauen und 1,76 Prozent der Krebsmortalität bei Frauen verantwortlich ist (Zahlen für 2002). Cervix Ca ist der elfthäufigste Organkrebs bei der Frau in Deutschland. Eine Zunahme der Krankheitsfälle ist nicht zu befürchten, eher im Gegenteil: Der - vor allem wegen HIV - nach wie vor anzuratende und weit verbreitete Kondomgebrauch senkt das Risiko der Infektion mit HPV beträchtlich. Der einzig entgegenwirkende Faktor ist die anhaltende Zunahme des Rauchens bei Frauen. Von einem "Durchbruch in der Krebsprävention" zu sprechen, stimmt auch deshalb nicht, weil die Impfstrategie nicht weit trägt: Von den häufigeren Karzinomen weist wohl keines eine Virusinfektion als notwendige Bedingung auf.
Einem "Durchbruch in der Krebsprävention" könnte man sehr viel näher kommen, wenn modernere Ansätze lebensweltbezogener Prävention umgesetzt würden. Sie zielen nicht nur darauf ab, das Verhalten der Menschen zu verändern, sondern auch die dahinter stehenden Bedingungen und Anreize: Wer sich gut ernährt und viel bewegt, frühzeitig lernt, Stress zu bewältigen und nicht oder wenig raucht, hat bessere Chancen, Krebserkrankungen zu verhindern. Schließlich erklären sich 30 Prozent der Neuerkrankungen aller Krebsarten aus diesen Faktoren.
Die Anzahl der Neuerkrankungen von Cervix Ca in Deutschland (circa zwölf je 100.000 Frauen, zum Vergleich: Haiti 94 je 100.000 Frauen) könnte hierzulande noch erheblich niedriger liegen, wenn im Hinblick auf die Früherkennung (Sekundärprävention) nur die Qualität wie in Schweden (7,7 pro 100.000) oder in Großbritannien (8,2 pro 100.000) erreicht würde. Dass die Strategie der Sekundärprävention erfolgversprechender ist, illustriert auch die Tatsache, dass seit Einführung des Screenings in Deutschland seit Beginn der siebziger Jahre die Erkrankungsrate um circa 60 Prozent gefallen ist. Um hier Verbesserungen zu erreichen, müsste auch der Abstand der Früherkennungsuntersuchungen (in Deutschland gesetzlicher Anspruch auf einen Abstrich - Pap Smear - pro Jahr) nicht verkürzt werden, im Gegenteil: Gut organisierte Screenings kommen durchaus mit dem Dreijahresabstand aus, der in anderen Ländern üblich ist.
Krankheit der Armen
Neben den Problemen der in Deutschland immer noch erheblichen Qualitätsmängel bei Befunderhebung und Interpretation stößt man auf das ebenso gewichtige Faktum, dass Cervix Ca eine der Krankheiten ist, bei denen der Unterschied zwischen arm und reich am deutlichsten ausgeprägt ist: Frauen aus der Unterschicht haben ein circa drei Mal höheres Risiko zu erkranken als Frauen aus der Ober- und Mittelschicht. Andererseits gehen Frauen aus der Ober- und Mittelschicht in Deutschland auch zweieinhalb Mal häufiger zur Früherkennungsuntersuchung als Frauen aus der Unterschicht. Insgesamt unterzieht sich nur knapp die Hälfte aller Frauen in Deutschland der kostenlosen Früherkennungsuntersuchung (Großbritannien circa 70 Prozent), mit einem scharfen Abfall nach der Menopause. Das ist folgenreich, weil sich die Zahl der Erkrankungen nach den Wechseljahren noch einmal deutlich erhöht.
Um diesem Missstand zu begegnen, helfen vor allem Systeme, die auf die unmittelbare Ansprache der Betroffenen setzen, sei es, indem sie persönlich eingeladen oder erinnert oder - in sozialen Brennpunkten - zuhause besucht werden, beispielsweise durch so genannte "Health Visitors" wie in Großbritannien. Freilich geht die deutsche Gesundheitspolitik im neuen Gesundheitswirtschaftlichkeitsgesetz (§ 62 SGB V) einen ganz anderen Weg, für den es keinerlei Evidenz gibt: Wer an Früherkennungsuntersuchungen nicht teilnimmt und später von der Zielkrankheit befallen wird, muss statt bis zu einem in Zukunft bis zu zwei Prozent seines jährlichen Bruttoeinkommens dazu bezahlen. Es ist jedoch weder erwiesen noch plausibel, dass auf diese Weise gerade Menschen aus bildungsfernen Schichten und mit geringer Zukunftsorientierung erreicht werden können. Dabei wären zielgerichtete Bemühungen in dieser Hinsicht durchaus lohnenswert, denn Cervix Ca kann - theoretisch zu mindestens 90 Prozent - durch Früherkennung und Frühbehandlung verhütet werden.
Früherkennung bleibt auch nach der eventuellen Einführung einer Impfung erforderlich, weil die jetzt zugelassenen Impfstoffe lediglich die Virustypen (16 und 18) "erwischen", die für 70 Prozent der Fälle verantwortlich sind. Die Impfung ist also höchstens eine zusätzliche Maßnahme. Dabei gilt sowohl für Früherkennung als auch für Impfung, dass sie Menschen aus unteren Sozialschichten weniger in Anspruch nehmen als die besser Gestellten, obwohl letztere ein deutlich geringeres Risiko haben. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wäre die zuständige Institution, um auf diesem Feld tätig zu werden. Man müsste sie nur beauftragen.
Die drei Impfdosen kosten in Deutschland derzeit 465 Euro, in den USA 280 Euro und in Österreich 624 Euro. Eine Durchimpfung eines Mädchenjahrgangs in Deutschland (circa 400.000) kostet etwa 200 Millionen Euro. Das erhöht die Arzneimittel-Ausgaben der Gesetzlichen Kassen um circa 0,8 Prozent. Die jetzt empfohlene Impfung aller 12- bis 17-jährigen Mädchen kostet natürlich zunächst ein Vielfaches. Wenn eine Durchimpfungsrate von 100 Prozent erzielt würde (was völlig unrealistisch ist), könnten 70 Prozent der jährlich auftretenden 6.500 Fälle, das heißt 4.550 Fälle verhütet werden. Die Kosten pro verhüteten Fall betragen dann 44.000 Euro. Analog kostet ein durch die Impfung verhinderter Todesfall circa 160.000 Euro.
Das klingt nach viel Geld. Es ist auch viel Geld, aber die Versicherten in Deutschland leben in einem der wenigen Länder der Erde, wo solche Kosten bei schweren Krankheiten entstehen und - dank des Solidarprinzips - auch bezahlt werden. Ungewöhnlich hoch ist die Summe allerdings im Bereich der Prävention: Die Impfung kostet genauso viel Geld wie alle deutschen Krankenkassen zusammen für die Primärprävention (§ 20 SGB V) ausgeben dürfen, mit denen "insbesondere ein Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen" geleistet werden soll.
Um 30 Prozent höher lägen die Kosten pro verhindertem Krankheitsfall oder pro gerettetem Leben noch, wenn die Früherkennung in Deutschland ähnlich effizient organisiert wäre wie in Schweden oder Großbritannien. Dabei ist diese Berechnung noch konservativ geschätzt, zum einen, weil, wie gesagt, viele Betroffene - vor allem aus sozial benachteiligten Gruppen - gar nicht erreicht werden; zum anderen gehen die Berechnungen davon aus, dass mit der einmaligen Impfung (mit drei "shots") tatsächlich eine lebenslange Immunisierung erreicht wird. Dies ist aber weder bewiesen (und auch nicht beweisbar) noch plausibel. Jede Wiederholungsimpfung - im Lebenslauf unter Umständen sogar mehrfach - würde die Kosten entsprechend erhöhen betiehungsweise vervielfachen. Zum dritten ist auch keineswegs klar, wie die "Virus-Welt" des HPV auf den Angriff gegen einige wenige von circa hundert Varianten reagieren wird. Ob dann andere, vielleicht ebenfalls krebserzeugende Virustypen an die Stelle der neutralisierten treten (serotype replacement), kann niemand voraussehen oder ausschließen. Das sind zwar "normale" (und unvermeidliche) Unsicherheiten vieler neuer Interventionen. Aber es gilt auch, dass die Strategie der Sekundärprävention (Früherkennung und Frühbehandlung) solche Unsicherheiten nicht enthält.
Stellt man sich die - bereits stark eingeengte - Frage, wo und wie mit 200 Millionen Euro für die Krebsprävention die größte gesundheitliche Wirkung zu erzielen wäre, dann hätte die HPV-Impfung wahrscheinlich keinen guten Stand. Es böte sich vielmehr an, zunächst die Früherkennung auf Cervix Ca in ihrer Qualität und Reichweite zu verbessern und dabei von der soeben sehr aufwändig geschaffenen Logistik für das Brustkrebs-Screening Gebrauch zu machen. Das restliche Geld könnte man in stadtteilorientierte oder schulische Gesundheitsprojekte stecken.
Dies würde freilich einen Grad an Rationalität voraussetzen, den Gesundheitspolitik in der Regel nicht aufweist. Gegen die Koalition aus Pharma-Industrie und impfbereiten Ärzten haben Konzepte wie das hier vorgetragene regelmäßig eine nur geringe Chance. Sie stoßen auch in der Bevölkerung nicht auf ungeteilte Zustimmung: Die Impfung als individuelle und passiv zu empfangende ärztliche Maßnahme entspricht weithin noch immer dem Wunschbild von Krankheitsverhütung des medizingläubigen Publikums. Wahrscheinlich ist deshalb, dass in Zukunft Impfung und Früherkennung nebeneinander her laufen werden. Die Inanspruchnahme der Früherkennung wird vermutlich sinken, weil die Illusion "Sicherheit durch Impfung" stärker wirkt. Und an der sozial ungleich verteilten Inanspruchnahme präventiver Angebote dürfte sich auch künftig nichts ändern, weil der Wille fehlt, die verfügbaren Mittel umzuverteilen.
Rolf Rosenbrock leitet die Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und ist Professor für Gesundheitspolitik an der TU Berlin. Seit 1999 gehört er dem Sachverständigenrat im Gesundheitswesen an.
Der gen-ethische Informationsdienst (GID) hat seine letzte Ausgabe (Nr. 180) der Gebärmutterhalskrebs-Impfung gewidmet.
Die Infektion mit dem humanen Papilloma-Virus (HPV) ist die weltweit häufigste sexuell übertragbare Krankheit. Es gibt mehr als 100 verschiedene HPV-Typen, von denen mehr als 30 den weiblichen Genitaltrakt befallen und mindestens 23 als krebserregend ("high-risk") angesehen werden. Mit der Zahl der Geschlechtspartner nimmt das Infektionsrisiko zu. 24 Monate nach dem ersten Sexualkontakt lässt sich bei über 30 Prozent der Frauen HPV nachweisen. Kondome verringern das Übertragungsrisiko von HPV um mindestens 70 Prozent. Über den Verlauf der HPV-Infektion beim Mann ist wenig bekannt. Die HPV-Infektion verläuft meist symptomlos und klingt in über 90 Prozent der Fälle spontan ab. Begünstigt wird die Infektion durch die "Pille" und das Rauchen. Im Verlauf einer chronischen HPV-Infektion können sich Zellveränderungen unterschiedlichen Schweregrades auf der Genitalschleimhaut entwickeln. Es gibt jedoch eine relativ hohe Spontanheilungsrate. In zehn Prozent der Fälle entwickelt sich die Infektion zu einer Vorstufe von Krebs und teilweise sogar zu Krebs. Bei Gebärmutterhalskrebs lässt sich in 95 bis 100 Prozent der Gewebeproben Erbmaterial von HPV-Viren nachweisen, es gibt jedoch auch Gebärmutterkrebs ohne HPV. Das HPV kann auch andere Erkrankungen wie gutartige Warzen an den äußeren Genitalien und wahrscheinlich auch die seltenen Krebserkrankungen an Vagina oder Penis hervorrufen.
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