»Und in der Mitte des Thrones und rings um den Thron waren vier Wesen, ganz voll Augen vorne und hinten. [...] ringsum und innen sind sie voller Augen. Und keine Ruhe haben sie bei Tag und Nacht« (Apk. 4.6-8)
Im Jahr 1899 erschien ein Buch eines gewissen Arthur Bird mit dem Titel Looking Forward: A Dream of the United States of the Americas in 1999. Bird legt darin den utopischen Entwurf einer Landkarte für das Amerika unserer Tage vor: die »Vereinigten Staaten von Amerika«, so lautet seine Prognose, seien dann »im Norden begrenzt durch den Nordpol, im Süden durch die Antarktis, im Osten durch das erste Kapitel der Genesis und im Westen durch den Tag des Jüngsten Gerichts«.
Bird unternimmt also den Versuch einer Verquickung von räumlicher und
Verquickung von räumlicher und zeitlicher Ordnung. Die geographischen Koordinaten der Landesgrenzen sind untrennbar verbunden mit den zeitlichen Koordinaten einer eschatologischen Geschichtsvision. Dabei geht er davon aus, daß sich die Apokalypse im Westen ereignen wird - im Westen, der im Amerika des 19. Jahrhunderts zugleich immer den Horizont der sich ausdehnenden Landesgrenzen Amerikas bildet. Die Frontier als wilde und gefährliche Grenze bildet den Bezugsrahmen des amerikanischen Selbstverständnisses, das sich aus dem Kampf gegen Natur und Indianer überhaupt erst zur Welt bringen zu können glaubt. Los Angeles als äußerste Lokalisierung und zugleich Endpunkt dieses Wilden Westens ist - folgt man Birds millenaristischer Vision - die Stadt der Engel, und zwar der apokalyptischen Engel. Der Zeitpunkt des Endes ist damit ebenfalls festgelegt: 31.12.1999, Jüngstes Gericht. Kein Zufall also, daß Los Angeles nicht nur immer wieder zum Produktionsort apokalyptischer Hollywoodvisionen, sondern auch zum topologischen Setting ihrer Erzählungen selbst wurde.Im Jahr 1999 sollte man daher - auch angesichts des zu erwartenden großen Computerbreakdowns zu Silvester - noch einmal einen Hollywoodfilm sehen, der in Los Angeles spielt, und zwar am 31.12.1999. Es geht um Strange Days von 1995, einen Film unter der Regie von Kathryn Bigelow nach einem Drehbuch von James Cameron, der bereits mit Terminator 2 - Judgement Day eine filmische Apokalypse vorgelegt hatte.Das silvesterliche Los Angeles präsentiert sich in einer üblen Verfassung. Während auf den Straßen offene Gewalt tobt, melden sich im Radio Bürger der Stadt zu Wort und formulieren das unmittelbar zu erwartende Untergangsszenario. Los Angeles, so wird befürchtet, erlebe seine letzten Tage, und zwar gerade so wie es im Buch der Apokalypse angekündigt worden sei. Zugleich geht Lenny Nero in rasantem Tempo seinen Geschäften nach: er ist ein Dealer für SQUID-Tapes. SQUID, das sind Supra-leitende-Quantum-Interferenz-Detektoren. Ein Head-Set, das zumeist unter einer Perücke verborgen wird, zeichnet die zerebralen Ströme auf und speichert diese Daten auf einer CD. So wird es anderen Menschen über den Gebrauch desgleichen Head-Sets möglich, diese Erlebnisse an sich selbst zu erfahren, einfach indem der Modus des Geräts von Aufnahme auf Wiedergabe umgestellt wird.SQUID-Tapes produzieren Trips, die Erinnerungssplitter sind, direkt aus der Großhirnrinde eines anderen. Genau hundert Jahre, nachdem Sigmund Freud im Fin de Siècle-Wien seine Traumdeutung zu Papier gebracht hatte, geriert sich Lenny als dessen Reinkarnation: »Ich bin dein Priester. Ich bin dein Psychiater. Ich bin der direkte Draht zur Seele. Ich bin der Magic Man. Der Weihnachtsmann des Unbewußten. Es gibt ne Menge Geld zu machen. Ne Menge Träume zu verkaufen.«Dabei hat Lenny ein typisches Dealer-Problem: er selbst ist abhängig von den Trips, die er verkauft, und daher kann er das Ende seiner Beziehung mit der ehemaligen Prostituierten Faith nicht verwinden. Die selbst produzierten Tapes lassen ihn nicht los: Sex mit Faith quält ihn nicht als allmählich verblassende Erinnerung, sondern immer wieder mit der Wucht der direkt sich aktualisierenden Empfindung. Die daraus resultierende Melancholie prädestiniert ihn zum Looser und zum Opfer seines vermeintlich besten Freundes Max.Auf der Suche nach Faith landet Lenny kurz vor Mitternacht in der Suite eines großen Hotels, in dessen Erdgeschoß sich »die angesagteste Silvesterparty der Welt« gerade ihrem Höhepunkt nähert. Hier findet er ein Tape, auf dem Max durch einen Blick in den Spiegel plötzlich als Protagonist mörderischer Clips zu erkennen und damit als ein Killer identifiziert ist. Als Lenny das Headset absetzt, steht sein vermeintlich bester Freund auch schon hinter ihm, die Pistole im Anschlag. Nun betritt Faith überraschend den Raum, die Situation verkompliziert sich, und es kommt zu einem Handgemenge, an dessen Ende Max in schwindelerregender Höhe jenseits der Balkonbalustrade baumelt, während tief unter ihm eine unübersehbare Menschenmasse dem Jahrtausendende entgegentobt. Max hält sich nur noch an Lennys Krawatte fest, bis dieser mit verzweifelter Kraft das Messer, das ihm Max zuvor in den Rücken gerammt hatte, herauszieht und dieses letzte Stück gemeinsamer Verbundenheit durchtrennt. The Final Cut: Max stürzt in die Tiefe, und Los Angeles hat seinen ersten gefallenen Engel zum Millenium.Der Plot von drei Männern und ihrem Kampf um eine begehrenswerte Femme fatale gehorcht den konventionellen Gesetzen der Schwarzen Serie. Zum anderen ist er bereits eng mit biblischen Mustern verschränkt. Die Geschichte um Lenny Nero und Faith erscheint als Inversion des biblischen Hintergrundes. Denn Kaiser Nero ist der historische Protagonist, dem die Johannesapokalypse ihre Entstehung verdankt - als Stärkung des Glaubens angesichts der Christenverfolgung. Lenny tritt hingegen selbst als ein Gläubiger auf, er glaubt an seine Liebe. Doch der Glaube ist eine Prostituierte: Faith, die Hure Babylon.Deutlicher noch werden solche Bezüge vor dem Hintergrund der parallel erzählten Geschichte um den Mord an dem schwarzen Rap-Star Jeriko One. Die sieben Priester mit ihren sieben Posaunen verkünden im alttestamentarischen Buch Josua den Untergang der Stadt Jericho. In der Johannesapokalypse ist es eine Stimme wie eine Posaune, die dem Apostel die Vision vom Fall Babylons und dem Aufstieg eines neuen Jerusalem eingibt. Jeriko One hat die Posaune gegen ein Mikrophon vertauscht, das sich 1999 besser zum Ausposaunen apokalyptischer Wahrheiten eignet. Die Geschichte scheint ihm in ein finales Stadium gemündet zu sein: Zeit für die schwarze Bevölkerung, sich endlich gegen den repressiven Polizeistaat und eine Politik zu erheben, die nur zum Schein für eine Verbesserung der Bedingungen eintritt: »Die streichen doch nur die Stühle neu auf der Titanic. Aber ein neuer Tag wird kommen. Die große 2 ist da. Der Tag der Abrechnung steht uns bevor. Die Geschichte endet und beginnt von neuem. Genau hier, genau jetzt.«Die Stühle auf der Titanic, die James Cameron bekanntlich erst im letzten Jahr wieder einmal sinken ließ, erweisen sich auch für den erfolgreichen Rapper als Todesstühle. Bei einer Polizeikontrolle wird er zusammen mit einem anderen Mitglied seiner Band Prophets of Light einfach exekutiert. Zwar werden die beiden verantwortlichen Polizisten dann festgenommen, aber dies nur, um bürgerkriegsähnliche Zustände zu verhindern. Denn Max hatte im Falle der Veröffentlichung des Mord-Tapes in den Zehn-Uhr-Nachrichten prophezeit, daß das Blut meterhoch in den Straßen von Los Angeles stehen würde.Eine solche Transsubstantiation, die mediale Informationsflüsse zu Blutflüssen zu verwandeln in der Lage ist, entspräche der dritten Plage der Johannesapokalypse: »Und der dritte Engel goß seine Schale über die Flüsse und Wasserquellen; da wurde Blut daraus« (Apk. 16.4) Die Bilder von diesen wenigen entscheidenden Sekunden hätten genügt, eine plötzliche Erkenntnis über den Stand der Dinge zu befördern und ein Gefüge namens Geschichte endgültig aus den Fugen zu bringen. SQUID-Trips repräsentieren Cuts, Schnitte, und diese verweisen immer auf einen Mord. Die Möglichkeit, seinen eigenen Tod und den anderer zu träumen - also die psychotechnische Implementierung der Apokalypse - besiegelt das Ende einer jeden Geschichte.Strange Days bebildert die postmoderne Rede vom Ende der Geschichte als ein Sze nario von deren Zersplitterung. Das Los Angeles der Jahrtausendwende präsentiert sich im Zustand einer gewalttätigen Orgie, die geschichtliche Gewalt in fragmentarischen Schnitten noch einmal passieren läßt - wie ein vergangenes Leben vor den Augen eines Sterbenden. Nicht umsonst heißt Jeriko Ones musikalischer Mitstreiter Replay: im Reginal-Fetish-Club feiert die Szene der Stadt ihrem Ende entgegen. In massiven Käfigen werden zu harter Musik Bücherverbrennungen inszeniert, gleichzeitig laufen auf überdimensionierten Videoleinwänden sinnlos zusammengeschnittene Sequenzen aus alten amerikanischen Filmen. Der Mann, der diese Videoprojektionen steuert, sitzt in einem Rollstuhl, denn ihm fehlen beide Beine. Alles wird erzählt aus der Perspektive des Cuts: Lennys SQUID-Ficks mit Faith enden immer mit einem Sturz in die Einsamkeit, analog befördert die durchschnittene Krawatte Max in die Tiefe der Straßenschlucht. Das Rasiermesser des Killers öffnet Körper, so wie Lennys Tapes das subjektive Körpererleben eines anderen Menschen verfügbar machen. Geschichte wird zerschnitten und neu zusammengesetzt.Was ist nun aus der eingangs erwähnten Landkarte von Arthur Bird geworden? 1899 begann das filmische Imaginäre Amerikas gerade damit, die apokalyptischen Reiter gen Westen zu schicken - als Cowboys. 1999 sind sie endgültig angekommen - als SQUID-Junkies: die West-Coast-Apokalypse verlängert sich in das Territorium der Körper und der Psyche selbst. Der daraus resultierende Bilderstrom produziert eine Agonie des Realen als eine Agonie der Geschichte: ging es im 19. Jahrhundert um ein Vergessen der genealogischen Determinierungen zugunsten der Selbstgeburt Amerikas an seiner Westgrenze, erzählt Strange Days dieses Modell zu Ende. Splitting Memories - die Bildschärfe des SQUID-Trips tritt an die Stelle der Erinnerungen und eliminiert zugleich die Gnade ihres allmählichen Verblassens. Es ist, wie Faith sagt: »Weißt du, warum Filme im Kino immer noch besser sind als diese SQUID-Trips? Weil die Musik langsam anfängt, die Schlußtitel laufen und du immer weißt, wann es vorbei ist.«
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.