Alles Grippe, oder was?

MEDIENTAGEBUCH Leid hat heute viele Gesichter, besonders aber das von Talk-Mastern

Das Fernsehen kann so gemein sein. Zeigt es doch trotz aller Schminke den Geisteszustand in den Gesichtern, die Gestik und die Körperhaltung der Protagonisten, woraus sich eine Menge ablesen lässt. Auch wenn der Ausdruck der Wahrhaftigkeit nur allzu oft durch bloße Worte konterkariert werden soll.

So erfuhr die Nation unter großer Anteilnahme, dass "starke Grippetabletten" dieselben Wirkungen und Risiken bergen wie schnöder, übermäßiger Alkoholkonsum, nämlich "lallen", "sich nicht mehr in der Gewalt haben", "abwesend sein", noch "fahrigere Gesten" und eine noch peinlichere Sitzhaltung als gewöhnlich. Eine Woche später schoben dieselben seriösen und boulevardesken Medien nach, dass die "tapfere Sabine Christiansen" von ihrem "Ehemann und Produzentenchef" (in einer Person) mit "ihrer besten Freundin betrogen" worden ist. Nachsicht allerorten, denn die Liebe, so weiß es auch der gestählte Fernsehkonsument, liegt verdammt nah beim Leid. Und beides drückt aufs Gemüt. Zumindest bei den Moderatoren von Talk-Shows und der Mehrzahl der Sprecher und Moderatoren von Nachrichten- und Informationssendungen, egal ob Öffentlich-rechtliche oder Kommerzkanäle - es gibt kaum noch qualitative Unterschiede, so gern sie von wohlmeinenden Kollegen auch beschworen werden.

Das Leid hingegen hat seit dem 11. September viele Gesichter. Nicht nur real in den Bildern aus Manhattan. (Warum sieht man eigentlich nichts von den beiden anderen Unglücksstätten in Washington und Pennsylvania, von deren Gedenkfeiern, Trauer, Zerstörung? Geht es am Ende doch nur um das Symbol, das die Twin Towers des World Trade Center für Amerika sind?) Es hat auch Programmfolgen. Eigentlich sollte man aus solchen Anlässen nicht nur reine Nachrichten erwarten dürfen, sondern umfassende Informationen und Analysen, im besten journalistischen Fall Hintergrundwissen und Diskussion. So gesehen brachten einen die vielen Sondersendungen und "Experten"-Runden kaum einen Denkschritt weiter. Es sei denn, man hielte die Einstimmung auf die "Kriegs"vorbereitungen der Amerikaner für hilfreich. Die immergleichen Parteiabgeordneten, die immergleichen Antworten auf die immergleichen Fragen und immer wieder "Terrorismus-Experten", von denen man nicht ahnte, dass es so viele davon in Deutschland gibt! (Nur die PDS erhielt keine Fragen und also kein Podium und folglich auch keine Gelegenheit, in den "Wir-sind-alle-Amerikaner"-Chor einzufallen.) Vielleicht lag es tatsächlich an den Fragestellern, die vor Betroffenheit trieften und ganz offensichtlich professionell und menschlich überfordert waren. Wenn sie nicht stereotyp ihre Fragen abhakten, wurden sie "privat", und beides traf voll daneben.

Ob er, der Herr Bundesfinanzminister, an Gott glaube und jetzt bete, fragte Beckmann mit ungläubigem Gesicht. Und Hans Eichel? Wahrte nach einer Schrecksekunde sein Pokerface und fand es wohl angebracht, die Frage zu bejahen, obwohl er nonverbal genau das Gegenteil ausdrückte.

Maybritt Illner schrumpfte in Berlin Mitte auf Kindergartenformat und wurde folgerichtig vom stoischen Ex-Außenminister Genscher wortreich umgangen und von Ex-Präsident Gorbatschow väterlich-autoritär zum Stummsein verdonnert.

Richtig tümelnd wurde Johannes B. Kerner, der seine Gäste "um ihre ganz persönlichen Erfahrungen und ihre ganz persönlichen Erinnerungen an diesen Tag" bat. Als ob "wir Überlebenden" (!) nicht selber menscheln könnten, sondern dazu neben allerlei Sternchen und Schnuppen und "Kollegen" "einen ganz besinnlichen, nachdenklichen" Ottfried Fischer bräuchten! Neben den Leidensmienen war Unterhaltung angesagt. Wozu haben wir schließlich das Fernsehen?

Der allseits herumzappende Zuschauer wusste schon längst Bescheid über das Journalistendasein und damit über das Leben schlechthin. Maike Krüger vom Express zum Beispiel, "ist ´ne ganz Ehrgeizige". Mit dem Einsatz übertriebener Gesten, durchbohrender Augen-Blicke und ´ner kessen Lippe, ergänzt durch einen Batzen Naivität, stolpert sie zielsicher auf die Karriereleiter. Merke: Journalistinnen sind umgeben von hilfsbereiten Kolleginnen, sturzbetrunken bei Liebeskummer, haben nie Probleme, nur Problemchen, wohnen in Super-Altbauwohnungen und machen große Kulleraugen, wenn´s mal klemmt. Ganz zufällig treffen sie zwischendurch auf ihren "Traummann", mit dem sie sich - ganz im Sinne des "wie verbinde ich Familie und Beruf-Programms" der Bundesfamilienministerin - "den stellvertretenden Chefredakteursposten" teilen dürfen. Als Belohnung vom Chef höchstpersönlich!

So was macht Mut, obwohl Sat.1 diesen sterbenslangweiligen, schlecht gespielten und fade inszenierten Film Welcher Mann sagt schon die Wahrheit nicht als Liebesfilm, sondern als Komödie angekündigt hatte. Jeden Tag boten die Sender Einblick in die Banalitäten des Alltags, wo es immer nur um das eine geht, nämlich darum, wie kriegen sich Frau und Mann am Ende doch? "Liebe", wie die Produzenten sie heute verstehen: Männer gehen fremd, Frauen gehen fremd, Kinder sind kein Hindernis mehr, Schwiegermütter die besten Freundinnen, und der beste Freund geht mit der Ehefrau ins Bett, während der Ehemann vergeblich versucht, sich ein paar schöne Tage mit einer Geliebten in Rom zu machen. Das war ziemlich schrecklich (Wilder Hafen Ehe, ZDF), was nicht nur daran lag, dass letzteres Melodram aus der Autorenfabrik von Immer-gleich-Schreiber Felix Huby kam. Auch hinreißende SchauspielerInnen wie Christine Neubauer und Stefan Jürgens in treffsicheren Titeln wie Männer sind zum Abgewöhnen (ARD) konnten nicht darüber hinwegtäuschen, wie überflüssig Fernsehen sein kann. Pietät, in diesen Tagen von Programmmachern ganz hochgehalten, äußerte sich ja nicht nur im Weglassen von besonders realistischen Killerfilmen, sondern gipfelte in der Live-Übertragung der Showtime-Stars "aus geheim gehaltenen Studios" in den USA und der Live-Übertragung der Trauerfeier in New York, wofür die ARD am Sonntagabend gleich ihr ganzes Programm umschmiss. Alles Grippe, oder was?

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