Klein ist sie und richtig knubbelig. Mit gewaltigen Brüsten, ausladenden Hüften und Po und einem, zugegeben, ausgeleierten Bauch, den sie wohl stolz herzeigt: Seht, so viele Schwangerschaften habe ich bereits hinter mir. Der Schönheit tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil, "Venus von Willendorf" wird sie genannt, und ihre Weiblichkeit wurde regelrecht angebetet.
Lang ist es her, ungefähr 26.000 Jahre, als man (oder frau?) diese nur knapp elf Zentimeter kleine Figur aus Kalkstein modellierte. Wahrscheinlich mit scharf geschlagenen Steinklingen und spitzen Steinwerkzeugen, die die Wellen, Linien und Punkte auf den Figuren hervorbrachten und so Frisuren, Schmuck und vor allem die Körperrundungen versinnbildlichen, erklärt die Ur- und Frühgeschichtlerin Ruth Hecker. Sie hat zusammen mit ihrer Schwester, der Malerin Judith Hecker, die Ausstellung Urmütter der Steinzeit - Bilder weiblicher Schöpfungskraft konzipiert, die als Wanderausstellung zuerst im Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart zu sehen ist.
Während Judith, die Malerin, in großformatigen Bildern ihrer eigenen Kreativität Ausdruck verleiht, präsentiert ihre Schwester Ruth hier zum ersten Mal aus ihrer Sammlung steinzeitlicher Frauenfiguren über 8o Replikate und Originale, die weibliche Schöpfungskraft symbolisch demonstrieren. Urmütter der Steinzeit lautet auch der Titel des vorzüglichen Katalogs mit ergänzenden Aufsätzen zu Themenkomplexen wie "Anfänge religiösen Bewusstseins in der Altsteinzeit", "Wandlung von der Urmutter zur Göttin" und "Muttergottheiten in den Kulturen Europas".
In quaderförmigen Glas-Vitrinen stehen die kunstvollen Geschöpfe fürs Auge anspruchsvoll angeordnet auf verschiedenfarbigem und materiell unterschiedlichem Grund. Weiße und ockergelbe Tonerde, gelbe Gerstenkörner, brauner Torf, schwarz-blaues Schiefergranulat, schwarze Mooreichenschnitze, grünliche Lößerde, roter Lehm, das unterstreicht jeweils die epochale Zuordnung. 27.000 bis 25.000 Jahre zurück reichen die Figuren in die Altsteinzeit, 16 bis 12.000 Jahre zurück zum Ende der Eiszeit, 9.000 bis 3.000 Jahre in die Jungsteinzeit.
Kunstfertig aus Kalkstein, Marmor, Elfenbein und Mammutknochen geschlagen, auf Schiefer geritzt und schließlich aus Ton gebrannt wirken die Figuren wie moderne Kleinplastiken, schnörkellos, formvollendet. Während sie in der Altsteinzeit aus ausgesprochen runden Teilen bestehen, wirken ihre Körper in der Jungsteinzeit eher kubistisch und schlank bis dürr. Die Fundorte erstrecken sich von Südwestfrankreich bis an den Baikal-See und den Vorderen Orient, und erstaunlich bleibt, dass sie sich in den Grundformen über diese weiten geographischen Räume gleichen.
Die berühmte "Venus von Willendorf" zum Beispiel wurde in Österreich gefunden, ihre "Schwester", gleiches Alter, gleiche Größe, die eine verblüffende Ähnlichkeit in den Proportionen und ihrer Körperhaltung aufweist und ebenso aus Kalkstein ist, fand man in Kostienki am Don in Russland, etwa 2.000 Kilometer weiter östlich.
Das, erklärt Ruth Hecker, zeige, dass sich in diesen Figuren ein spiritueller Gedanke ausdrücke. Weil die Funde aus der Steinzeit naturgemäß spärlich und deren Interpretation immer nur eine Annäherung an jene Zeiten aus heutigem Denken heraus ist, kann man ihre Bedeutung nicht im einzelnen rekonstruieren, doch lässt sich in ihnen unschwer erkennen, dass es sich um Sinnbilder von Fruchtbarkeit und in eben diesem spirituellen Sinn "Fülle" handelt. Sie drückt sich in der Gebärfähigkeit von Frauen aus, sichtbar in den Bäuchen, in denen der Nachwuchs heranwächst, in den breiten Becken, die neues Leben gebären und in den großen Brüsten, die nähren.
Religiosität, die Frage nach dem Woher und Wohin des Lebens, ist in der der Altsteinzeit in den Figuren der "Großen Mutter", der Frau als dem "Symbol des Lebens" repräsentiert. Das Ende der Eiszeit vor rund 11.500 Jahren zwang die JägerInnen und SammlerInnen zur Umstellung ihrer Lebensgewohnheiten. Sie wurden sesshaft, trieben Handel und entwickelten andere Wertvorstellungen und Kulte. Die Statuetten nehmen abstraktere Formen an, oft sind ihre Leiber zu Gefäßen geformt, die zur Aufbewahrung von Nahrung oder als Trankopfergefäß dienten. Die "Erdmutter" und "Muttergöttin" symbolisieren Schöpfungskraft und Regenerationsfähigkeit. Totenkulte bekommen große Bedeutung. Rituale des An-Betens, der Gesänge und (Kreis-)Tänze spiegeln die Glaubensvorstellungen, die in der Jungsteinzeit in der Verehrung von Göttinnen ihren Ausdruck finden. Auch wenn man in den Beschreibungen nicht von "Matriarchaten" spricht, wird doch deutlich, dass Frauen hohe Achtung genossen und sie offensichtlich die führende Rolle in ihrer Gesellschaft einnahmen.
Der geographisch westlichste Fund einer jungsteinzeitlichen Muttergottheit ist zum Beispiel die Tonfigur der "Mutter von Tara" auf den Kanarischen Inseln. Eine Frau, die mit ausgebreiteten, fleischigen Oberschenkeln auf dem Boden sitzt, einen Tropfenförmigen Oberkörper hat, relativ kleine Brüste, flügelähnliche Arme, und auf dem Scheitelpunkt des nur grob umrissenen Kopfes eine Mulde für die Opfergaben. So sind die Figuren nicht nur Abbilder realen Frauendaseins, sondern auch Archetypen für den Zyklus von Leben, Tod und Wiedergeburt.
Der Glaube an ein Jenseits manifestiert sich besonders in jenen Statuetten, denen zwischen ihren Füßen Löcher oder Schlitze gebohrt wurden, damit man ein Band durchziehen und sie sich umhängen konnte. Diese Frauen blicken also kopfüber nach unten, sinnbildlich in andere, "untere" Welten. Was wir heute noch als Amulett tragen, deutete in jenen Zeiten auf Schamaninnen hin. Man glaubte, dass sie den Ahnengeistern, Tierseelen und phantastischen Mächten begegnen, wenn sie sich auf die "Reise" in die anderen Welten begeben.
Die Idee der Ausstellung nun, jahrtausendalte Figuren und zeitgenössische Mal-Werke miteinander zu kombinieren, gründe nicht nur auf der zufälligen Blutsverwandtschaft der Hecker-Schwestern, sondern, betonen beide, auf ihrer "Seelenverwandtschaft". Beide erführen in ihren unterschiedlichen Bereichen "das Kontinuum der Menschheitskette", wie es Ruth Hecker ausdrückt. Das ließe die streng formalisierten Steinzeitfiguren und die furiosen Farbbilder so harmonisch in der Ausstellung korrespondieren.
Erfahrungen des Transzendenten geben auch die elf Leinwand-Bilder von Judith Hecker wieder, die so gehängt sind, dass sie gleichsam den großen Rahmen der Figuren-Sammlung bilden. Zwei Meter mal ein Meter vierzig sind die Ei-Tempera-Abstraktionen groß, wobei das Ei als Material wörtlich zu nehmen ist. Eier binden nämlich zusammen mit Leinöl die verschiedenfarbigen Pulver zu Farben, die Judith Hecker aus ganz unterschiedlichen Stein-Funden selber für ihren Bedarf zerreibt. Haare, Wolle, Erde, Sand sind weitere Zutaten für die archaischen, ungegenständlichen Farbvulkane. Wenn Judith Hecker malt, dann aus der Bewegung des ganzen Körpers heraus. Schicht um Schicht transportiert sie ihre " inneren" Landschaften auf die Leinwand, Kraftfelder in sich überlagernden Farbemotionen, die in sich ändernden Lichtverhältnissen in Grün-, Blau-, Gelb-, Ocker- oder Rotnuancen changieren. Manchmal sind Silhouetten von Hirschmännern oder Tierköpfen oder auch Menschen hinter den Farben zu erkennen, die sich wiederum als Vorhang, Tropfen oder auch als Herzblatt formieren. Die Wirkung ist dreidimensional, und die Wirklichkeit ist es auch. "Ich arbeite mich in die Bilder hinein", beschreibt die Malerin ihre Vorgehensweise, "und von der anderen Seite spüre ich genauso ein Entgegenkommen."
"Rituelle Kunst" nennt Judith Hecker ihre Maltechnik. Gemeint ist die Bindung der Energien der "Ahnen" aus dem Jenseits im Diesseits, in diesem Fall visualisiert in den Bildern. Klingt schamanistisch, und ist es auch. Womit sich der Bogen zu den spirituell geladenen Frauenfiguren aus der Steinzeit schließt. Schamaninnen gelten als die ältesten Heilerinnen der Welt, ihnen wird die Begabung zugesprochen, "zwischen den Welten" zu vermitteln, indem sie "positive" und "negative" Energien medialisieren. Es ist dieses Mehr an gebundener Energie, was spirituell genannt wird und was sich sowohl in den Figuren als auch in den Bildern in dieser Ausstellung als wirkungsmächtig erweisen soll. Wer sich darauf einlässt, mag es erfahren. Wer das nicht will, kann sich immerhin von der exquisiten Ästhetik vereinnahmen lassen.
Die Sonderausstellung Urmütter der Steinzeit - Bilder weiblicher Schöpfungskraft ist noch bis zum 1. April 2002 im Museum am Löwentor, dem Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart zu sehen. Vom 15. September bis zum 8. Dezember wird sie im Stadtmuseum Andernach/ Rhein, vom 28. Dezember 2002 bis Ostern 2003 im Arceo Parc in Schnals/Südtirol (Italien) gezeigt.
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