Man hört aus dem Off den plätschernden Klang von Besame mucho. Im Bild fährt die Kamera (Jutta von Stieglitz und Bernhard Schönherr) durch die sanften Buckel Niederbayerns. Kann es etwas Unschuldigeres geben als diese Landschaft? Auch die Ortschaften Vilshofen und Ortenburg machen reinste Idylle anschaulich. So frisch herausgeputzt alles, so heimelig die Fassaden. Dahinter allerdings sieht es mitunter nicht mehr so schnuckelig aus, und wenn man genau hinschaut, dann möchte man glauben, dass es bestimmte Gegenden in Deutschland gibt, wo man lieber nicht leben möchte. Zum Beispiel Niederbayern, wo die Welt besonders dumpf zu sein scheint. Wo sich die besser betuchten Männer in "Cocktail-Bars" bei Aids-infizierten Drogenabhängigen einen runter holen, und kirchliche Sozialarbeit sich in der Hilfe von Bewerbungsschreiben erschöpft. Wo stiernackige, kahl geschorene Nazis in Springerstiefeln besoffen verbotene Lieder grölen und auch in stinknüchternem Zustand saudumme Phrasen dreschen. Aufgeplusterte, vollwanstige Aggressionsbomben, die bei der kleinsten Provokation in die Luft gehen und sich außer mit Alkohol mit abartigen Brutalo-Computerspielen volldröhnen. Erfurt ist noch frisch, und die dreiteilige Dokumentation Familienkrieg, die unter dem symptomatischen Programmtitel Unter deutschen Dächern von Radio Bremen produziert wird, passt zur gegenwärtigen Lage wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Lauten die allseitigen Fragen nicht immer wieder: Wie wird ein junger Mann Nazi? Warum in der heutigen Gesellschaft, die Jugendlichen angeblich alle Optionen offen hält, sozial abfedert, demokratisch organisiert? Was ist falsch gelaufen, wer hat Schuld?
Autor Reinhard Schneider hat eine authentische Familie ausgemacht, für deren Dokumentation er letztes Jahr bereits einen Hörspiel-Preis (Prix Italia) erhalten hat und die nun ins Bild gesetzt wurde. Die Geschichte, die man wegen der dargestellten Tabulosigkeit glatt für inszeniert halten könnte, handelt von Simon, dem 19-jährigen Sohn von Susanne, der vor vier Jahren vom Punk zum "Nationalsozialist" mutiert ist, mit allen oben beschriebenen Ingredienzien. Zum Entsetzen seiner Mutter, dem Unverständnis seines Stiefvaters und dem Verlust brüderlicher Autorität bei seinem vier Jahre jüngeren Bruder.
Der Autor begleitete mit seinem TV-Team ein Jahr lang diese äußerlich bürgerliche Familie, von der die Mutter behauptet, dass sie seit der Nazi-Werdung von Sohn Simon "kein Familienleben mehr, sondern nur noch einen Machtkampf" haben. (Stief-)Vater ist Fernfahrer und in der Freizeit viel mit Patiencen-Legen im Computer beschäftigt, Mutter ist von Beruf Krankenschwester und nun vor allem mit der Versorgung ihrer Familie ausgelastet, Sohn Marius geht noch zur Schule und hat Fotos schwarzer US-Rapper an der Wand hängen und war sowieso schon immer "pflegeleicht", Sohn Simon sucht eine Lehrstelle, und das in der Provinz, also ausweglos. Vorher eine "heile Welt" mit Vater, Mutter, zwei Kindern, Hund und nett aufgeräumtem Häuschen, in dem man "miteinander viel gelacht hat" (Mutter Susanne), nachher das große Staunen über das Zerbrechen dieser ach so normalen Familie, das diesem "immer-schon-Problemkind" Simon angelastet wird? Die Dokumentation enthält sich konsequent jeglicher Bewertung und jeglichen Kommentars. Dafür hält sie mit der Kamera und dem Mikrofon unerbittlich auf die Protagonisten drauf, zu denen seit letztem Jahr auch noch Simons 22jährige Freundin Sandra zählt. Drogensüchtig, Verlust des Sorgerechts für ihren Sohn, bis zum Filmabschluss sechzehn Entzugsversuche hinter sich, ihr apathischer Anti-Körper zum bulligen Reizpotential Simons macht das Drama in Niederbayern in jeder Hinsicht komplett. Und es ist ein Drama, was hier von Folge zu Folge changiert, Idylle war nie, wie sich zum Schluss herausstellt. Mit jeder Szene steigert sich die Beklemmung und weitet das Verständnis für die Verstrickung in diesem "Familienkrieg".
Ist in der ersten Folge noch klar, dass Simon ein einziges Ekelpaket ist, fragt man sich schon in der zweiten, warum Mutter Susanne nicht von ihren provokativen Sticheleien lassen kann. Um im dritten Teil zu begreifen, dass es wohl Konstellationen zwischen Menschen gibt, die nur noch tragisch sind und denen ohne Eingriff von außen niemand der Beteiligten entrinnen kann. Die Frage, wer "kaputter" ist - Simon? Sandra? Susanne? -, wird obsolet, wenn man merkt, wie kaputt das ganze Beziehungsgeflecht ist. Was man am Anfang noch für eine aufgeklärte Argumentation der Mutter gegenüber den Brüllereien ihres Sohnes halten mag, stellt sich spätestens in der dritten Folge als manische Provokationsschraube heraus, auf die der Sohn gar nicht anders reagieren kann, als ganz zum Schluss weiß vor Wut das Filmteam geradezu anzuflehen: "Bringt sie weg, sonst bring ich sie um! Macht was!"
Spätestens an dieser Stelle wird diese Art der Wir-sind-einfach-mit-der-Kamera-dabei-und-zeigen-neutral-alles-was-uns-vor-die-Linse-kommt-ansonsten-halten-wir-uns-da-raus-die-Bilder-sprechen-für-sich-Dokumentation mehr als fragwürdig. Hatte die Mutter nicht schon in der zweiten Folge verzweifelt erklärt, dass ihrer Familie in den letzten vier Jahren niemand geholfen habe, weder die Polizei noch das Jugendamt noch sonst wer? Zeigt sich in dieser Doku-Soap-Aufbereitung nicht eine Anbiederung aus Verwertungsinteresse, die typisch ist für eine auch unter Medienleuten weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber allem um einen herum? Darf ein Filmteam so folgenreich Menschen, welcher Couleur auch immer, bloßstellen? So spiegelt die Machart des Films dieselbe ignorante Lieblosigkeit wider, unter der sich auch die Familienkriegs-Dynamik entwickelt hat. Besame mucho? Von wegen!
Unter deutschen Dächern: Familienkrieg. ARD, am 17., 20. und 22. Mai um jeweils 21.45 Uhr
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