Eine Hure um Verzeihung bitten?

Frankreich Mit einem exemplarisch harten Urteil gegen jugendliche Vergewaltiger aus Pontoise will der Staat die Macht in den Vorstädten zurückerobern

Weinende Mütter, ihre Empörung herausbrüllende Schwestern, Anwälte, die nach Verlassen des Gerichts die Fassung verlieren: "Unrecht" - "Lynchjustiz" - "Der Staat will ein Exempel statuieren". Dann die Erklärung des Opferanwaltes: "Die Justiz hat so gesprochen, wie es sein muss. Man sollte dieses Urteil als starkes Signal in Richtung der Cités nehmen, in Richtung jener Zonen der Rechtlosigkeit, damit dem Recht der Republik auch dort Geltung verschafft wird".

Anlass für die heftigen Gefühlsausbrüche ist ein Urteil des Jugendgerichtes von Pontoise, einem Ort in der Peripherie von Paris: 17 junge Männer werden dort Ende September zu Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren verurteilt - wegen mehrfacher gemeinschaftlicher Vergewaltigung eines 15-jährigen Mädchens.

Die "Tournante" und das Gesetz der Cité

Inzwischen liegt die Tat schon fast vier Jahre zurück. Ein Mädchen, nennen wir sie Leila, ist von daheim durchgebrannt, sucht auf der Straße Anschluss. Leila gerät an zwei andere Mädchen, die - wie es jetzt in den Ermittlungsakten heißt - die "Lockvögel spielen". Für Geld und für Hasch. Einmal von der Jungenclique umzingelt, bleibt Leila kein Ausweg. Reihum fallen die jungen Männer - einige damals schon strafmündig - über sie her. Im Abstellraum für Müllcontainer, auf einer Zugtoilette, einmal sogar in der Toilette des Gerichtsgebäudes. Immer verbunden mit Morddrohungen.

Erst nach Wochen der Quälerei wagt Leila zu reden. "Tournante" nennt man das in den Cités, den Sozialsiedlungen französischer Großstädte. Ein Wort, das längst Eingang gefunden hat in die Alltagssprache. Es steht für eine Art Mannbarkeitsritus, bei dem sich die Heranwachsenden beweisen, wie erwachsen sie schon sind, und bei dem sie der Gesellschaft demonstrieren, wer in der Siedlung das Sagen hat. Mit dem Verbrechen an Leila handelt es sich keinesfalls um den ersten bekannt gewordenen Fall gemeinschaftlicher Vergewaltigung zwischen Tiefgarage und Lebensmittel-Discounter irgendwo in der Banlieue von Lyon, Paris oder Toulouse.

Aber es ist das erste harte Urteil - die Reaktion des Staates auf die Anmaßung einer Gruppe, selbst Macht auszuüben. Dieses Motiv treibt in den Cités schon die Zehnjährigen an, die als erstes lernen, Autos anzuzünden oder auszurauben. Weil die Täter zu jung sind, ist der Staat nahezu ohnmächtig, weil nicht zu wirksamen Sanktionen legitimiert. Was tun mit Zehn- oder Zwölfjährigen, die das Missachten von Gesetzen längst ganz selbstverständlich als das "Gesetz der Cité" praktizieren? Die sich so ihren Platz in der Clique verschaffen. Einige entnervte Bürgermeister dieser Vorstädte hatten während der zurückliegenden Sommersaison ein Ausgehverbot nach 23 Uhr für unter 13-Jährige ausgesprochen, wobei gegen die Eltern Geldstrafen verhängt wurden, sofern die Polizei den Sprössling später auf der Straße aufgriff. Genutzt hat es wenig.

In Straßburg wird inzwischen die Silvesternacht von den Behörden als riskantester Zeitpunkt des Jahres gefürchtet, weil dann regelmäßig Autos und Müllcontainer brennen. Das ist bereits Tradition. Auch anderswo fliegen Steine gegen zum Löschen anrückende Feuerwehrzüge, werden Reifen von Notarztwagen zerstochen oder Barrikaden gegen Buslinien errichtet. In den Hochhaustürmen der Sozialsiedlungen hat es schon Tote gegeben, weil - ein beliebtes Spiel - die Sicherungsanlagen der Fahrstühle zerstört wurden. In Anlehnung an die organisierte Kriminalität spricht die Gendarmerie von "caids" als den Chefs der Siedlungen. Die sind unter ihren Leuten um so angesehener, je weniger sich die Staatsmacht hineintraut. So ist denn das rigide Urteil gegen die Vergewaltiger von Pontoise auch weniger als Signal zum Schutz junger Mädchen gedacht, sondern vielmehr ein Indiz dafür, dass und wie der Staat die Macht in den Cités zurück erobern will.

Dabei wäre es bitter nötig, die Opfer besser zu schützen. Oft beginnt für deren Familie die Quälerei noch einmal von vorn, wenn sie es wagen, Anzeige zu erstatten. Wie etwa im Fall der 13-jährigen Sarah im nordfranzösischen Roubaix. Sie musste in der Schule Spießruten laufen, weil sich die Klassenkameraden geschlossen auf die Seite der Täter stellten. Der Familie wurden die Fensterscheiben eingeworfen, im Briefkasten lagen Drohbriefe. Letztlich entschlossen sich die Eltern von Sarah wegzuziehen. In einem anderen Fall half nicht einmal das. Durch Schlamperei der Justiz erfuhren die Täter aus den Ermittlungsakten die neue Adresse eines Opfers und bedrohten die Familie auch am neuen Wohnort. Wieder Umzug.

Geschlossene Heime für Täter unter 13

Für die Jungen in den Cités gibt es zwei Arten von Mädchen. Jene, die so angesehen werden wie Mutter und Schwester und die man vielleicht einmal heiraten wird. Und jene, an denen man seine sexuellen Erfahrungen macht. Die nennt man "leichtes Mädchen" und Hure. Beschützt sind die Mädchen, die große Brüder haben. Wer nur einen großen Freund hat, kann sich des Schutzes nicht so sicher sein. Es kommt schon vor, dass einer seine kleine Freundin der Clique anbietet, um sich wichtig zu machen. Danach kann dieses Mädchen dann eigentlich nur noch in eine andere Stadt ziehen, denn fortan gilt es als Freiwild. Einer der Vergewaltiger von Leila beantwortete auf dem Weg vom Gericht ins Gefängnis die Frage nach einer Entschuldigung mit dem Satz, er könne doch nicht eine Hure um Verzeihung bitten. Und damit haben die Täter die ganze Nachbarschaft und natürlich die Familie auf ihrer Seite.

Der Pariser Psychiater Patrice Huerre beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Opfern und Tätern und lehnt es aus seiner Erfahrung heraus ab, gemeinschaftliche Vergewaltigung in die Kategorie "Phänomen der Armutssiedlungen" zu sortieren. Ein enormer Gruppendruck, der Verantwortungsbewusstsein verdränge, existiere in allen sozialen Schichten. Ebenso die Schwierigkeit der "Porno-Generation", zwischen der Fiktion der Hard-core-Videos, bei denen Frauen niemals "nein" sagen, und der Realität zu unterscheiden. So glaubten pubertierende Jungen, wenn das Mädchen vor Angst schweige, sei das ein Zeichen von Zustimmung.

So hat nun also die französische Presse auf der Suche nach Erklärungen nicht zuletzt die Porno-Kultur im Visier. Die Jungen würden "nachspielen", was sie da sehen. Da fehlt es dann prompt auch nicht an harscher Kritik, um den gerade bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigten Streifen Irréversible zu attackieren, in dem Monica Belluci zehn Minuten lang vergewaltigt und dann ermordet wird.

Die Frage, welche Rolle angesichts einer grassierenden Verrohung der Sitten die beiden wichtigsten Religionen im Lande spielen, der Katholizismus und der Islam, die beide einen liberalen und entspannten Umgang mit Sexualität nicht sonderlich schätzen, hat allerdings noch niemand laut gestellt. Es ist wohl auch dieser Mix aus bigotten Tabus einerseits und dem prestigebeladenen Machtkampf zwischen dem Staat und den Jugendlichen andererseits, die den Konflikt nahezu unlösbar erscheinen lässt.

Frankreichs neue rechte Regierung jedenfalls will exemplarische Härte zeigen und denkt daran, geschlossene Erziehungsheime für Wiederholungstäter einzurichten, die erst 13 Jahre alt sind. "Sicherheit" hieß eines der großen Themen im Wahlkampf von Präsident Jacques Chirac. Man darf das Urteil von Pontoise insofern wohl auch als Einlösung eines Wahlversprechens deuten - und gespannt sein, wie weit es vor den Berufungsinstanzen Bestand haben wird.

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