Rückwärts nimmer

Zielsicher und ergebnisoffen Marsch in die Schrumpfökonomie

Selbst exorbitante Erfolge der deutschen Exportwirtschaft schlagen derzeit nicht auf die Binnenkonjunktur durch. Verbesserte Gewinnchancen von der Angebotsseite her gehen mit einem fortwährenden Abbau von Arbeitsplätzen einher. Die Ursachen sind Angstsparen und Konsumzurückhaltung einerseits sowie pessimistische Absatzerwartungen der Investoren andererseits. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen bewegt sich auf historisch hohem Niveau. Insgesamt fehlen momentan in Deutschland über 7,5 Millionen Arbeitsplätze - das Resultat einer politisch geförderten wirtschaftlichen Stagnation, während zugleich die Produktivität der Arbeit dank Rationalisierung und Restrukturierung der Betriebe wächst.

Diese manifesten Fehlentwicklungen erschüttern die Protagonisten der neoliberalen Zeitenwende freilich (noch) nicht. Vergleichbar einem erfolglosen Arzt, wird nicht die Therapie geändert, sondern die Dosierung verderblicher Medikamente erhöht. Unternehmerverbände, die Opposition im Bundestag, der Tross der Einheitsdenker aus der wirtschaftswissenschaftlichen Beraterzunft sowie eine erschlagende Mehrheit der Medien feuern die Bundesregierung an, einen Kurs zu verschärfen, dessen Erfolglosigkeit seit sechs Jahren zu besichtigen ist. Wer Kosten senkt, ohne etwas für die Nachfrage zu tun - wer sich in einem sozialen Schrumpfstaat einrichtet, kann keine Innovationsdynamik zum Nutzen künftiger Generationen auslösen, der vererbt eine Ökonomie der Trostlosigkeit.

Anstatt einen offenen Diskurs über die Schäden dieses restaurativen Umbaus zu wagen, zelebriert die Regierungs-SPD patriotisches Sendungsbewusstsein und schwadroniert von der Rettung Deutschlands. Dass die Häutung von einer Partei der solidarischen Gesellschaft zu einer Partei der kapitalistischen Erneuerung die Sozialdemokraten am Ende überflüssig machen könnte, wird mittlerweile schicksalsergeben einkalkuliert. Die Grünen haben es da einfacher. Ihr Abschied von der Vision eines emanzipatorisch-ökologischen Wirtschaftens ist längst vollzogen. Mit ihrer Finanz-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik wird eine Unternehmenswirtschaft bedient, die es für selbstverständlich hält, Geschenke ohne Gegenleistung zu verlangen. Inzwischen wäre grüner Machterhalt durch eine Koalition mit der CDU/CSU nicht einmal mehr opportunistisch - sie läge in der Logik grüner Politik.

Kern von Schröders neoliberaler Wende ist der endgültige Abschied von einer aktiven Bekämpfung der Massenerwerbslosigkeit - Arbeitslose werden von Opfern zu Tätern geschlagen. Hartz IV erhöht den Druck auf die Betroffenen, bis an die Grenze der Legalität jeden Job im Niedriglohnsektor anzunehmen. Ein Vorgriff auf die Zukunft, der erkennen lässt, wie bis auf weiteres mit einer steigenden Zahl von Arbeitslosen umgegangen werden soll. Der heute noch wohlsituierte Bankangestellte soll begreifen, dass er im Falle einer Kündigung schon nach einem Jahr als Gelegenheitskellner im Niedriglohnsektor landen kann, seine Lebensversicherung mit Verlusten auflösen und in eine "angemessene" (Kleinst-)Wohnung wechseln muss. Es dürfte auch ökonomischen Laien nicht entgehen, dass diese im Namen der Sanierung sozialer Sicherungssysteme forcierten Programme zielstrebig eine Armut erzeugen, die den noch Beschäftigten als Warnung vor Augen steht.

Was hier stattfindet, ist keine Reform, sondern eine Gegenreform. Das beliebte Argument, dadurch würde eine alternde Gesellschaft "winterfest" gemacht, hält ernsthafter Prüfung nicht stand. Wenn Kaufkraft verloren geht, kann das die Arbeitslosigkeit nur hoch treiben und Zukunftsvertrauen zerstören. Eine stagnierende Binnenwirtschaft wird zu immer neuen Runden des Sozialabbaus führen.

Man muss nicht in diesem Teufelskreis bleiben, es gibt Alternativen, die den Namen Reform verdienen. Nur fällt es immer schwerer, sie überhaupt ins Gespräch zu bringen, gegen die Übermacht des neoliberalen Zeitgeistes, der gerade in ein Triumphgeschrei über den sich "endlich abzeichnenden Mentalitätswandel" vom Gewerkschafts- zum Unternehmensstaat ausbricht, auf von der Wirtschaft finanzierten "Konventen" einer besitzindividualistischen Hybris verfällt und Gewerkschafter als Saboteure diffamiert. Auch wenn es zynisch klingen mag, offenbar bedarf es einer noch viel tieferen Krise, um mit dem neoliberalen Dogma zu brechen und zu einer gestaltenden Politik zurückzukehren, die den Rahmen für kapitalistisches Wirtschaften wieder zielorientiert definiert. Im Augenblick gilt schon das Nachdenken über eine aktive Finanzpolitik mit einem öffentlichen Investitionsprogramm vor allem für die Kommunen als obsolet. Dabei sind die Infrastrukturdefizite allein im Bereich der Umwelt gigantisch von denen im Bildungs- und Hochschulbereich ganz zu schweigen. Aber künftige Generationen geraten immer nur ins Blickfeld, wenn es um den Abbau öffentlicher Verschuldung geht und verschwiegen wird, dass nicht nur die Schulden, sondern auch die Vermögen der Staatsgläubiger vererbt werden.

Bundespräsident Köhler wäre bei seiner Rede zur Vereidigung mutig gewesen, hätte er der Politik ins Stammbuch geschrieben: Deutschland lebt derzeit nicht über, sondern unter seinen Verhältnissen. Seine Potenziale, vor allem die qualifizierter Arbeitskräfte, liegen brach, weil Investoren und Konsumenten zum Pessimismus verdammt werden. Er hätte sich zu dem Hinweis durchringen können: Das Gerede vom gesamtwirtschaftlichen "Schlusslicht" im internationalen Vergleich ist grotesk, denn einer wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft steht eine lahmende Binnenkonjunktur gegenüber. Köhler hätte sich als Ökonom um die Republik verdient gemacht, wäre ihm der Satz wichtig gewesen: Eine Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich senkt zwar im einzelnen Betrieb die Arbeitskosten pro Stunde, sie wird aber insgesamt mangels Nachfrage zum Verlust von Arbeitsplätzen führen. Offenkundig muss das erst erfahren werden, bevor ein Politikwechsel auch nur erwogen wird.

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