Wehklagen und Zähneklappern

Kommentar Schwarz-Rote Finanzpolitik in der Rationalitätsfalle

Die Große Koalition inszeniert unter dem Titel "Wehklagen und Zähneklappern" ein Drama, das als Tragödie zu enden droht. Lauthals wird von einem "Kassensturz" geredet, um auf den Griff ins Portemonnaie einzustimmen. Folglich klingen derzeit die Katastrophenmeldungen über die aus dem Ruder gelaufene öffentliche Schuldenaufnahme besonders apokalyptisch. Bei mehr als 480 Milliarden Euro Steuereinnahmen 2005 über "leere Kassen" zu reden, dient offenbar dem Zweck, bei den "kleinen Leuten" genügend "Opferbereitschaft" auszulösen. Der großkoalitionäre Mut zur Verkündigung vom unausweichlichen Kahlschlag wird zur politischen Tugend verklärt, um eine ohne jeden Zweifel gescheiterte rot-grüne Finanzpolitik verschärft fortzusetzen. Auch wenn deren Trugschlüsse unbestreitbar sind: Eine deutlich reduzierte Steuerlast für Unternehmen und Einkommensstarke ist im Widerspruch zur neoliberalen Verheißung nicht durch Investitionen in Arbeitsplätze belohnt worden. Der Staat ist durch sinkende Einnahmen weiter verarmt, während die von der Arbeitslosigkeit verursachten öffentlichen Kosten stiegen. Der bereits 1958 von John Kenneth Galbraith für die USA beschriebene Zustand von "öffentlicher Armut im privaten Reichtum" prägt mehr denn je Deutschland. Wer die sozialen Sicherungssysteme demontiert, belastet am Ende Kaufkraft und Binnenwirtschaft, dies kann sogar dem ökonomischen Laien nicht entgehen.

Eichels Theorie, Neuverschuldung lasse sich durch eine Reduzierung staatlicher Aufgaben bekämpfen, hat den Praxistest nicht bestanden. Statt die Neuverschuldung abzubauen, hat er sie weiter nach oben getrieben.

Die Großkoalitionäre wollen nun das Gesamtdefizit des Bundes von über 60 Milliarden Euro um mindestens 35 Milliarden reduzieren, weil - so die Begründung - endlich wieder die Vorgabe des EU-Stabilitätspaktes, der eine Neuverschuldung am Bruttoinlandsprodukt von maximal drei Prozent erlaubt, eingehalten werden müsse. Aber der neue Bundesfinanzminister wird mit einer deshalb favorisierten Schrumpfpolitik genau so scheitern wie sein Parteifreund Eichel. Ein nochmals forcierter Rückzug des Staates aus der makroökonomischen Nachfrage schwächt die Wirtschaft und lässt am Ende das Budget vollends aus dem Ruder laufen. Ohne Mut zu Alternativen wird sich die Große Koalition von Niederlage zu Niederlage durchwinden und mangels Einsicht das Kind erst einmal in den Brunnen stürzen, bevor es (vielleicht) gerettet wird - eine finanzpolitisch erzeugte Wachstumsschwäche, hohe Arbeitslosigkeit und kollabierende öffentliche Kassen werden heutigen Kritikern am Ende Recht geben.

Was jetzt gebraucht wird, ist eine mutige Finanzpolitik, darauf bedacht: ein ökologisch fundiertes Wirtschaftswachstum auszulösen, die Finanzierung eines handlungsfähigen Staates zu sichern, die Steuereinnahmen durch gerechter verteilte Lasten sowie den Abbau sozial-ökonomisch sinnloser Subventionen des Staates für die Wirtschaft zu erhöhen. Finanzpolitik betreiben heißt, die Gesamtwirtschaft im Blick haben. Die neoliberale Brille auf der Nase, sind die Großkoalitionäre allerdings gerade dabei, den Staat zum bloßen Kostgänger der Wirtschaft zu degradieren.

Eine Große Koalition sollte den Mut aufbringen, ein Investitionsprogramm im Umfang von 50 Milliarden Euro unverzüglich und für mehrere Jahre aufzulegen. Nur so kann ökonomisches Entwicklungspotenzial, das auf der Basis einzelwirtschaftlicher Rationalität nicht ausgeschöpft wird, entfaltet werden. Es ließen sich damit öffentliche Projekte für die Umwelt, für Bildung und Forschung finanzieren, von denen kommende Generationen profitieren. Natürlich wäre die Vorfinanzierung per öffentlicher Kreditaufnahme unvermeidbar, auch wenn nach dem Trommelfeuer gegen jede Neuverschuldung und wegen der hohen Zinslasten die Erfolgschancen einer solchen Finanzpolitik extrem pessimistisch beurteilt würden. Dennoch - davon bin ich überzeugt - wird sich eine mutige und entschiedene Politik am Ende auszahlen. Wenn erst der öffentliche Auftrag beim Bauunternehmen ankommt, verschwinden geschürte Ängste gegenüber der Schuldenfinanzierung. Nur so wird die Schuldenfalle zu überwinden sein. Ein gelungenes Beispiel für einen derartigen Kurs ist Großbritannien. Anfang der neunziger Jahre konnte dort die Rezession nicht zuletzt deshalb überwunden werden, weil es die Regierung riskierte, die Quote der Neuverschuldung auf über acht Prozent hochzuschrauben. Durch steigende Steuereinnahmen, die vorzugsweise wirtschaftlichem Wachstum zu verdanken waren, konnte am Ende die Schuldenquote wieder auf unter drei Prozent gesenkt werden.

Rudolf Hickel ist Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen


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