Am Fluss mit den dreiäugigen Fischen

USA Die Plutoniumfabrik in Hanford war einst für die Kernwaffenproduktion unverzichtbar. Heute läuft dort die weltweit größte Entgiftungsaktion
Ausgabe 03/2015
Safety First: Zum Beispiel 100.000 ausgebrannte, in Wasserbecken gelagerte Brennstäbe
Safety First: Zum Beispiel 100.000 ausgebrannte, in Wasserbecken gelagerte Brennstäbe

Foto: Jeff T. Green/Getty Images

Der Columbia River ist ein großer Fluss im Nordwesten der USA mit mächtigen Stauwehren wie dem Bonneville-Damm zur Stromgewinnung. Errichtet wurden die Anlagen dank des „New Deal“ während der 30er Jahre und blieben immer staatliches Eigentum. 50 Kilometer vor der Grenze zum US-Staat Oregon ging es am Ufer des Columbia River bis vor Jahrzehnten noch um eine völlig andere Art von Energie: Hier in Hanford stand der erste Atomreaktor der Welt, in dem das Plutonium für die Atombombe hergestellt wurde, die am 9. August 1945 die japanische Stadt Nagasaki traf. Neben diesem „B Reactor“ gab es weitere Meiler, die bis in die 80er Jahre das US-Kernwaffen-Arsenal mit Plutonium versorgt haben. Inzwischen findet auf dem riesigen Gelände die weltweit größte Umwelt-Entgiftungsaktion statt.

Wir sind etwa 20 Leute, die am frühen Morgen in den Bus steigen, um von der Kleinstadt Richland in das gut 40 Kilometer entfernte Hanford zu fahren. Angeboten wird die Tour durch das US-Energieministerium, freilich sind die Plätze begrenzt, und für Ausländer ist nur der einstige „B Reaktor“ zugänglich.

Bei Hanford hat man es mit einem 1.500 Quadratkilometer großen Wüsten- und Steppengelände im Südosten des Staates Washington zu tun. Ab dem Jahr 1947 wurde hier in neun Reaktoren Plutonium produziert. Die Reaktoren standen ausnahmslos in der sogenannten „100 Area“ und wurden wegen des Kühlwasserbedarfs direkt ans Ufer des Columbia River gebaut. 1959 begann man, „N Reactor“ zu errichten – es sollte die letzte Anlage sein, sie blieb bis 1987 in Betrieb.

Leibwächter für „Mr.Farmer“

Unser Bus hat mittlerweile eine Sperre passiert, es geht hinein ins Gelände der „100 Area“. Eine menschenleere Gegend, der Wind streift über Gestrüpp und Gras. Das „Manhattan-Projekt“, wie das Nuklearwaffenprogramm der USA im Zweiten Weltkrieg genannt wurde, unterlag strengster Geheimhaltung. So wurden die beiden seinerzeit auf dem Gelände liegenden Ortschaften White Bluffs und Hanford evakuiert. Konkret hieß das, im Frühjahr 1943 mussten die Bewohner innerhalb von 30 Tagen gegen eine kleine Entschädigung ihre Häuser und Farmen verlassen und aufgeben.

Auf einer Piste fährt der Besucher unausgesetzt geradeaus, bis irgendwann am Horizont ein großes, umzäuntes Gebäude auftaucht: Der „B Reaktor“ ist erreicht. Ein Tor wird geöffnet, und man betritt das Betriebsgelände. Linker Hand führt die Tour vorbei an zwei vor sich hin rostenden Diesellokomotiven, dann durch ein paar Gänge und schließlich direkt ins Herzstück der Anlage – das Gewölbe, in dem einst die Brennelemente in den Reaktor eingeführt wurden. Von Neonlicht erhellt, wird der Raum durch einen elf Meter breiten und elf Meter hohen Grafit-Block ausgefüllt, in dem sich 2.004 horizontale Prozess-Schächte oder Röhren mit einem Durchmesser von circa vier Zentimetern befinden. In diese Röhren wurde das Uran geschoben. Der laufende Reaktor musste mit Unmengen von Wasser gekühlt werden. Dazu wurden dem Columbia River rund 300.000 Liter entnommen – und zwar pro Minute. Mit neun horizontalen Kontrollstäben aus Bor ließ sich die atomare Reaktion steuern. 29 Sicherheitsstäbe konnten von der Decke aus in den Grafit-Block gesenkt werden, um den Reaktor bei Bedarf schnell abschalten zu können. Der war zudem mit einem 25 Zentimeter dicken gusseisernen Hitzeschild umgeben, der wiederum von einer anderthalb Meter dicken Schicht aus Stahl und Holz ummantelt war, um die Arbeiter vor radioaktiver Strahlung zu schützen. Es war im September 1944, als an diesem Ort die erste atomare Kettenreaktion gelang.

Was noch heute verblüfft, ist der damalige Stand der Technik. So wurde dieser Reaktor innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft. Noch vorhandene Relais, Röhren und elektrische Steckverbindungen im Kontrollraum stehen für die Standards der 40er Jahre und ein Unternehmen der Superlative.

Nachdem 1943 die letzten Landwirte das Gelände verlassen hatten, wurde eine Bau-Armee von 50.000 Mann angeheuert. Die Arbeiter wussten zwar, dass man sie für ein kriegswichtiges Unternehmen brauchte, hatten aber keine Ahnung vom wirklichen Zweck des Objektes. 40.000 wurden in Baracken einquartiert, der Rest in Wohnwagen. Die Verpflegung galt als logistische Herausforderung: Jeden Tag wurden 2.500 Kilo Würstchen für das Frühstück gebraten, 100 Kilo Butter verarbeitet und 15 Tonnen Kartoffeln geschält. Das Personal verpaffte pro Tag 16.000 Päckchen Zigaretten und trank in der Woche 55.000 Liter Bier.

So wurde in nur elf Monaten unter der Verantwortung des Physikers Enrico Fermi von der Universität Chicago der „B Reaktor“ hochgezogen. Aus Sicherheitsgründen trug der gebürtige Italiener, der 1938 in die USA eingewandert war, in Hanford den Namen „Mr. Farmer“ und sah sich stets von Leibwächtern begleitet. Der „B Reaktor“ war bis Februar 1968 in Betrieb.

Jahrzehnte später allerdings sollte sich zeigen, welche katastrophalen ökologischen Kollateralschäden die Plutonium-Produktion in Hanford verursachte. Über einen langen Zeitraum hinweg war aus Geheimhaltungsgründen keine zivile Kontrolle möglich. Mit hochradioaktivem Abfall wurde umgegangen, als würde es sich um profanen Hausmüll handeln: Man vergrub ihn in der Erde, kippte ihn in Abwässer-Gräben, ließ ihn ins Grundwasser sickern oder pumpte ihn in die nahen Sümpfe. Als am 1. Mai 1987 Hanford für Kontrollen durch Staats- und Bundesbehörden geöffnet wurde, kam ein gigantischer Umweltskandal ans Tageslicht, wie man das schon geahnt hatte. In der Umgebung wurden dreiäugige Fische gefangen oder Kälber mit Missbildungen geboren. Radioaktive Wolken aus den Kaminen wehte es bis nach Oregon und Montana. Offizielle Stellen wiegelten ab. Warum sich empören? Mit dem Plutonium aus Hanford wurde schließlich im Kalten Krieg die westliche Freiheit verteidigt.

Vom Gelände des „B Reaktor“ aus sind durch einen Zaun in der Ferne andere Gebäude der ehemaligen Plutonium-Fabriken zu sehen. Heute arbeiten dort Tausende mit Schutzkleidung und Atemmasken am größten Entkontaminierungsprojekt der Welt. Mehr als 1.900 verseuchte Stellen wurden auf dem Gelände identifiziert, von Verschmutzung des Bodens bis zu gewaltigen, in der Erde vergrabenen Müllhalden. Ganze Gebäude sind radioaktiv verseucht, darunter die neun Reaktoren und die chemischen Fabriken „200 East“ und „200 West“, in denen das Plutonium von den Brennstäben geschieden wurde. Schätzungen gehen davon aus, dass zwei Billionen Liter verseuchter Flüssigkeit ins Erdreich gelangt sind.

In Glas einschmelzen

Allein 100.000 ausgebrannte Brennstäbe lagern in Wasserbecken. Eines der größten Probleme stellen die im Boden vergrabenen Metalltanks dar, in denen 240 Millionen Liter hochverseuchten Schlamms gelagert wurden. Die Behälter haben mittlerweile zu rosten begonnen, sodass mutmaßlich Millionen Liter hochradioaktiven Mülls ins Erdreich eingedrungen sind. Diese Altlast zu beseitigen gilt als größte und teuerste Herausforderung bei der Sanierung von Hanford. Es ist vorgesehen, diesen Müll in Glas einzuschmelzen und in rostfreien Stahlbehältern zu lagern, sodass keine kontaminierten Substanzen mehr versickern können. Der weniger radioaktive Teil des Reaktormülls soll in Hanford vergraben werden. Den am meisten strahlenden Teil will man in eine atomare Endlagerstätte verbringen, die es in den USA bisher aber genauso wenig gibt wie in Deutschland. Neun Millionen Liter wurden bisher in neue, doppelwandige Tanks umgefüllt und zwei Drittel der Anlage fertiggestellt, die diesen Müll in Glas einschließen soll.

Eine Sanierung für das Hanford-Gelände ließ lange auf sich warten. Es gab diverse Pläne, doch erst 2001 wurde das Vorhaben wirklich in Angriff genommen, verbunden mit der Gewissheit, die technischen Herausforderungen würden so gewaltig sein wie die Kosten. Erste Schätzungen sprachen von hundert Milliarden Dollar, allein 2013 wurden 2,9 Milliarden gebraucht, und ein Ende ist nicht absehbar. Ursprünglich wollte man 2047 fertig sein, dann jedoch verlängerte das US-Energieministerium die Frist – es werde wohl bis 2052 dauern.

Rudolf Stumberger ist Publizist und Soziologe. Er schrieb bisher für den Freitag vor allem zu sozialen Themen

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