Wie die Welt es treibt

Klischeefrei Gerhard Mauz bleibt der Meister der Gerichtsreportage

Eine Gerichtsreportage erzählt die Geschichte von einer armen Sau oder von einem fiesen Schwein, je nach Zeitgeist und Stimmungslage. Jede Lokalzeitung hat das im Programm, oft sind es freie Mitarbeiter, die sich auf den Gerichtsfluren herumdrücken auf der Suche nach einer Story, die sich verkaufen lässt. Das Meiste, was es in dieser Rubrik zu lesen gibt, ist ehrbar, ja, und auch viel näher an der Wirklichkeit als jede Gerichtsshow im TV, aus der sich das Wissen weiter Bevölkerungskreise um die Justiz im Übrigen speist. Gerhard Mauz hat nicht nur ehrbar und realitätsnah von den bewegenden Prozessen berichtet. Die Auswahl seiner Reportagen, die Mauz zwischen 1964 und 1995 im Spiegel veröffentlichte, hat Gisela Friedrichsen unter dem Titel Die großen Prozesse der Bundesrepublik Deutschland versammelt. Friedrichsen, notabene, ist die Frau, die Mauz von der FAZ als seine Nachfolgerin zum Spiegel holte. Das Buch ist ein Anschauungsstück herausragenden Journalismus, ein packendes Geschichtsbuch, eine Lektion in Sachen Strafrecht. Wer wissen will, was eine große Reportage ist, der studiere die Reportagen von Mauz.

Aber wer war dieser Gerhard Mauz? Darüber gibt das Buch leider keine Auskunft, und misslich ist ebenso, dass die versammelten 35 Reportagen - in drei Kapitel (NS-Bewältigung, RAF-Prozesse, Kriminalfälle) eingeteilt - nicht in ihren historischen Kontext eingeordnet werden. So bleibt leider offen, wann die Gerichte seine Einschätzung teilten, dass Monika Weimar die Mörderin ihrer Töchter war, oder welchen Spruch das Landgericht Moabit in Sachen Teufel und Langhans 1967 fällte.

Geboren wurde Mauz 1925 in Tübingen, die Familie zog 1939 nach Königsberg, der Vater - Medizinprofessor und Klinikchef - blieb möglicherweise nicht völlig frei von Verstrickungen in die NS-Linie. Noch vor dem Abitur wurde Mauz zum Kriegsdienst eingezogen. Die Erfahrungen mit der Nazi-Diktatur prägten ihn, immer wieder klingt dieser Bezugspunkt seines politischen Denkens an, nicht nur, wenn er über die großen Verfahren mit kleinem Ausgang berichtet, die den NS-Verbrechern gemacht wurden. Mauz war ein Moralist, nicht untypisch für die Generation, deren Jugend in die Hitler-Zeit fiel, und die alt genug war, bei Kriegsende die gesamte Katastrophe zu erkennen. Ein bewegendes Dokument sind die viereinhalb Seiten, auf denen er schildert, wie er 1964 mit dem Schwurgericht Frankfurt zum Ortstermin auf das Gelände des ehemaligen KZ Auschwitz reist. Als fröhlicher Vatertagsausflug von Gericht und Journaille beginnt das, bis den Beteiligten schwant, dass dies der falsche Ort für Medienentertainment ist: "Hier kann man nur allein stehen, für sich allein." Desillusioniert und geimpft gegen den Totalitarismus ist dieser Mauz, und aus dieser Haltung entwickelt er eine überragende Qualität: die Freiheit von Klischees und einfachen Urteilen. Er schreibt im Zweifel für den Angeklagten, reduziert die Täter nicht auf ihr Täterdasein, sondern sieht den Menschen. Auch im Auschwitz-Aufseher, auch in Jürgen Bartsch, auch in der verzweifelten Frau, die ihre zwei Söhne ertränkte.

Mauz, der studierte Psychologe, hat Verständnis, aber - und das ist überraschend, das hat ihm keiner nachgemacht - er hat Humor. Der oft gerühmte Spiegel-Stil jener Zeiten, das ist auch das Markenzeichen seiner Texte. Vielleicht hat Rudolf Augstein, der das Magazin gegründet hat, diesen Zug schon bemerkt, als Mauz noch für die Welt schrieb. Augstein holte ihn dort weg, nachdem Mauz (der Spiegel bezeichnete ihn damals als einen "irren Kollegen") über das Grubenunglück von Lengede berichtet hatte.

Selbst für die mulmigen Momente hatte Mauz Ironie und Sarkasmus übrig, und damit verhinderte er den Tonfall des pathetischen Verständnisses, Stichwort: armes Schwein. Das, was andere getan haben, ist nicht so weit vom eigenen Handeln entfernt, wie es das Publikum, wie es der Staatsanwalt gern hätten. Beim Prozess wegen der Beschaffung der Hitler-Tagebücher notiert Mauz über sich und seine Journalisten-Kollegen, die auf den Kujau-Coup herein gefallen sind: "Die Weinhändler, die Ärzte, die Banker, die Metzger und andere: Da sieht man, wie die Welt es treibt. Doch diesmal hat es die eigene Welt getrieben." Seine eigene Zunft nimmt er da auf die Schippe, aber mit Biss kritisiert er vom Bundeskanzler bis zum kleinsten Zeugen, wenn sie sich vor Gericht anschicken, der Wahrheitsfindung im Weg zu stehen. Das konnte Mauz sich erlauben, weil er mit dem Spiegel zur Institution geworden war, und weil er ein grandioser Sprachkünstler war. Mit kompliziertem Juristendeutsch hatte er nichts am Hut, sondern formulierte griffig, aber anspruchsvoll.

Ein Sprachkünstler mit Ironie und ein Gerichtsreporter, der ohne Klischees auskommt, das ist Mauz. So streift er kursorisch durch die bundesdeutsche Rechtsgeschichte, schreibt gern über starke Frauen auf der Anklagebank, verbeißt sich in den Montessori-Prozess, bei dem es um Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs in Kindertagesstätten ging, hilft dem unterentwickelten Gutachterwesen auf die Sprünge. Der erste Text des Buches aber ist sein Bericht vom Auschwitz-Prozess, 1964 geschrieben. Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen begleitet Mauz bis in die neunziger Jahre hinein. Dem Bundeskanzler Kiesinger versetzt er eine journalistische Ohrfeige erster Qualität. Böse ruft er 1993 Theodor Maunz nach, dem berühmten Grundgesetzkommentator, der der Nazi-Ideologie auch nach 1945 treu blieb. Besonders erbittert ihn der Fall des NS-Richters Hans-Joachim Rehse, der nie verurteilt wird. Die Haltung von Mauz ist nie platt, nie verhetzend: "Brechen wir nicht den Stab über den Menschen Rehse. Wir kennen das Raffinement noch nicht, das eines Tages das Unrecht darauf verwenden könnte, uns zu gewinnen." Und dann holt Mauz aus und erklärt, dass die Urteile von Rehse der Selektion in Auschwitz um nichts nachstanden - Rehse erlag der "Versuchung zur Unmenschlichkeit": "Es ist kein Unterschied, was diese Gefahr angeht, zwischen der Rampe in Auschwitz und dem Richterstuhl."

Mauz, geprägt durch die NS-Zeit, beobachtet folgerichtig mit besonderer Energie die Prozesse gegen die 68er und die RAF. Hier geriet die Justiz wieder in den Strudel von Politik und Ideologie. Sie wirkt hilflos gegenüber der Infragestellung durch die junge Generation, und hilflos schlägt sie um sich. Mauz sieht in diesen Prozessen "eine Rollenzuweisung, die den Gerechten ihre Gerechtigkeit deftig bestätigt und den Angeklagten einen Platz tief unter den Gerechten zuweist." Immer drängender wird seine Forderung, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren, die Rechte der Angeklagten und ihrer Verteidiger zu respektieren, kurz: "Liberalität und Humanität" zu retten, die er beim Prozess gegen Baader, Ensslin und Meinhof verloren sieht. Über einen der Rechtsanwälte schreibt Mauz, er sei ein "exzellenter Strafverteidiger". Dieser revanchierte sich in einer Trauerrede auf den 2003 in Hamburg verstorbenen Mauz: "Zu allererst galt sein Engagement dem Recht und dem Rechtsstaat", sagte er. Die Reportagen, so der in die Jahre gekommene Strafverteidiger von einst, seien "zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert". Hier ist Otto Schily ausnahmsweise Recht zu geben.

Gerhard Mauz: Die großen Prozesse der Bundesrepublik Deutschland. Herausgegeben von Gisela Friedrichsen. zu Klampen Verlag, Göttingen 2005, 240 S., 19,90 EUR


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