KEHRSEITE Er steht genau vor mir. Ich habe Zeit, ihn anzuschauen, während die Lautsprecherstimme Unverständliches dröhnt und Hubschrauber die Wipfel der Bäume ...
Er steht genau vor mir. Ich habe Zeit, ihn anzuschauen, während die Lautsprecherstimme Unverständliches dröhnt und Hubschrauber die Wipfel der Bäume in Wallung bringen. Es kommt mir so vor, als hätte ich noch nie im Leben einen Menschen so lange, so intensiv angeschaut; als hätte noch nie ein Mensch meinem Anschauen so lange so unbeweglich standgehalten.
Im Hintergrund toben die noch eingesperrten Hunde.
Er ist älter als die anderen - ein Vorgesetzter, mittelgroße wohlproportionierte Gestalt, Haltung aufrecht aber nicht starr. Während die jungen Polizisten verlegen wegschauen, wenn ein Blick sie trifft, schaut er ruhig zurück - dunkle Augen im gebräunten Gesicht, Ausdruck kompetent, vertrauenerweckend, zuverlässig. Ein netter Polizi
Ein netter Polizist! Von ihm würde ich mir gerne den Weg zeigen lassen. Wenn ich in Gefahr geriete, würde ich mich gerne von ihm beschützen lassen. Leider geht das jetzt nicht, weil die Gefahr, in der ich mich befinde, von ihm ausgeht. Ich versuche ein Lächeln und sehe seine Mundwinkel zucken.Was sieht er, wenn er mich sieht? Eine Frau, die seine Mutter sein könnte, eingehakt mit Leuten, die seine Kinder, ihre Enkel sein könnten, schaut ihn an, fragt wortlos: Was bist du für einer? Wirst du schlagen?Seine Augen fragen zurück: Was bist du für eine? Wie kommst du auf die Idee, mit diesen Chaoten ein Waldstück zu besetzen, in dem eine gesetzlich angeordnete Rohdung stattfinden soll? Warum zwingst du mich, dich wegzuräumen?Ich zwinge dich doch nicht, sagen meine Augen. Wenn du nicht schlagen willst, dann tu's nicht. Schau uns an! Wir haben keine Waffen. Wir stehen in einem Wald, der allen gehört. Die Freunde haben Fichtenstämme zusammengefügt und das Konstrukt "Freundschaftshaus" genannt. Ehe ihr uns mit euren Hubschraubern, Hundertschaften, Helmen, Hunden auf den Leib rücktet, haben wir Blaubeeren gesucht zwischen den achthunderttausend Stämmen, die ihr umlegen wollt, um euer Konstrukt zu bauen und das wird kein Freundschaftshaus sein. Das haben wir getan und was tust du?Ich schütze die Ordnung, sagen seine Augen. Diese Besetzung und diese Hütte sind ordnungswidrig. Ich habe die Anweisung, diesen Wald zu räumen. Dabei kann es zu Gewalt kommen.Wenn es zu Gewalt kommt, dann kommt sie von euch, sagen meine Augen. Schaut euch doch an, bewaffnet, gepanzert von oben bis unten. Hört das rasende Hundegebell aus dem vergitterten Wagen!Tu mir den Gefallen und löse dich aus der Kette! sagen seine Augen. Geh nur einen Schritt vor, dann gehörst du zur Ordnung und ich kann dich schützen.Es tut mir wirklich leid, dich in Verlegenheit zu bringen, sagen meine Augen. Sicher ist es dir unangenehm, alte Frauen zu schlagen oder zu treten. Trotzdem kann ich diesen Schritt nicht tun. Ich finde deine Ordnung nicht in Ordnung. Dafür habe ich Gründe, die ich dir gerne mitteilen würde. Aber dazu musst du den Helm abnehmen. Mit dem Helm über den Ohren kannst du nichts hören.Wo kämen wir denn hin, wenn Polizisten mit Demonstranten diskutieren würden, sagen seine Augen.Wo kommen wir hin, wenn bewaffnete Polizisten auf wehrlose Leute hingehen, statt sie zu fragen, warum sie am heiligen Feiertag mitten im Wald ein Freundschaftshaus bauen? Das könnte dich auch interessieren, Polizist. Du bist doch sicher Familienvater.Familienvater hin und her, sagen seine Augen und verengen sich, weil er allmählich ungeduldig wird. Zunächst mal bin ich Polizist und folge meinen Befehlen. Reden können wir später.Wer geschlagen wird, redet nicht mehr, sagen meine Augen. Das solltest du wissen, aus der psychologischen Schulung.Willst du vielleicht, dass ich wegen deiner Spinnerei meine Karriere aufs Spiel setze? sagen seine Augen. Am Ende lande ich noch bei der Verkehrspolizei.Sind wir schon wieder so weit, dass Leute, die nicht schlagen wollen, ihre Karriere aufs Spiel setzen? fragen meine Augen.Wieder dröhnt der Lautsprecher. Wir haken uns fester ein. Geflüster wächst die Reihen entlang: Keine Gegenwehr! Nicht loslassen! Einzelne werden gegriffen. Ich halte mich fester, um das Zittern in meinen Armen zu stoppen. Die Polizisten gehen einen Schritt vor. Jetzt steht er so dicht vor mir, dass ich sein Rasierwasser riechen kann und den Schweiß, der ihm über das Gesicht rinnt. Es muss wahnsinnig heiß sein unter dem Helm. Ich stelle mir vor, wie er sich später zuhause die Uniform vom Leib reißt: Ein versauter Feiertag! Er hatte versprochen, mit den Kindern ins Schwimmbad zu gehen. Nun muss er im Wald herumstehen und schwitzen, bloß wegen ein paar Chaoten.Was ist das - Chaoten? Wird sein Junge ihn fragen. Was antwortest du ihm Polizist?Los, Oma, geh! Dann bist du aus allem raus, flehen seine Augen. Er tut einen kleinen Schritt zur Seite um mich durchzulassen.Plötzlich sehe ich ihn nicht mehr. Ein Stoß hat mich nach hinten geworfen, kein Boden mehr unter den Füßen. Ich hänge an den Armen der anderen und sehe, wie unter dem Ansturm der Polizisten die Klammerung sich öffnet, die Arme der Freunde entgleiten. Haltlos sacke ich ab, Stiefel über mich. Wollen sie mich tottreten?Im Gedränge packen die Freunde zu, ziehen mich hoch. Wir versuchen, nach rückwärts auszuweichen, aber da ist kein Platz. Die Polizisten drängen uns gegen das Freundschaftshaus, das sich unter dem Andrang neigt und zusammen bricht. Durch eine Lücke zwischen Uniformen sehe ich, wie sie einen Jungen an Arm und Beinen über den Waldboden schleifen. Er will aufstehen, mitgehen, aber sie lassen ihn nicht. Sie stoßen ihn nieder. Sie treten ihn mit Stiefeln. Sie zerren ihn durch die Brombeerranken. Blut läuft über sein Gesicht. Ich höre eine Stimme, meine Stimme, wüst und gemein, wie ich sie noch nie aus meinem Mund gehört habe: Polizistenschweine! Mir wird schlecht vor Ekel. Ich kotze über einen Polizistenärmel.Der Platz ist geräumt. Wir ziehen ab, vorbei an den Polizisten. Mein Blick streift die Gesichter entlang, sucht den, den ich gesehen habe, der mich gesehen hat, finde ihn nicht. Keine Gesichter. Sie sehen alle gleich aus.(Aufgezeichnet: Ende der siebziger Jahre)Später wurde das Projekt abgeblasen, nicht etwa wegen des jahrelangen, gewaltlosen Widerstandes von Anwohnern, Landrat, Atomkraftgegnern, sondern weil es einem Manager einfiel, dass man das Ding billiger woanders bauen konnte. So lernte ich, wer in dieser Republik das Sagen hat.
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