Mit meinem Vater verstand ich mich besser, nachdem er gestorben war. Tote sind leicht zu erkennen. In jedem Film geht das so: sie tragen bessere Kleidung als die Lumpenbande ringsum und wählen ihre Worte auch besser aus als die trüben Figuren, die glauben zu leben. Ein wenig altmodisch wirken sie schon, wenn sie so schreiten durch ihre Häuser, wie schwebend, aber doch überlegen in ihren stolzen weißen Anzügen, ganz rein und offen und wahr.
Wir hatten immer gut zusammen geschwiegen, jetzt redeten wir wild aufeinander los. Plötzlich gab es Wörter für alles, schöne und hässliche. Man konnte sie greifen wie Werkzeug und sie hatten einen guten vernünftigen Sinn: alles haarklein zu zerlegen in handliche Stücke, was jetzt so ohne Verstand war, quertickte, nicht mehr zu retten und hoffnungslos aus dem Takt. Geh mir doch weg mit diesem maroden Zeugs, schon kaputt, wenn du einmal scharf draufguckst. Und wie mit wenigen Griffen wieder alles in Ordnung kam: denke, wir haben jetzt unsere Ruhe damit.
Plötzlich war ich diejenige welche, auf die es ihm angekommen war. Du bist doch meine kleine Dichterin, sagte er nachdenklich, du weißt, wie man die Dinge betrachten muss. Dinge ändern sich, Menschen nie. In meinem Schreibtisch lagen nun plötzlich Stöße von Briefen und Ansichtskarten und Photographien, die von seinen Reisen erzählten. Demnach hatte er viele Stunden zugebracht in klammen Hotelzimmern mit abgebrochenen Kleiderhaken, Schränken, die nicht mehr schlossen, verlässlich tropfenden Hähnen. Er hatte mir Karten geschrieben. Wie schön doch das Leben sei. Viel war die Rede davon, was er gegessen hatte, wo er eingekehrt war, er hatte das Leben genossen. Aber wer kann das wissen. Ich verkroch mich jetzt lange Abende in seinem Keller und rückte die Dinge zurecht. Alles wie früher hier unten. Hier stand mein Werkzeugkasten neben seinem abgegriffenen Werkzeug. Kindersäge, Kinderzollstock, kleine Zangen. Hier hatten wir stumme Nachmittage verbracht mit dem Entwickeln von Filmen. Hier hatten wir tote Radios zum Leben erweckt. Wirres Gedärm zottelte aus den Kästen, die man ausweiden musste, komplett, ratzekahl, ohne Gnade, um neue Adern ins alte Gehäuse zu fädeln. Ein Geschäft für Experten. Bald rauschte es wieder und Stimmen erzählten von irgendwoher.
Mit seinem Tod war ich aufgewacht, nun ging es ums Leben. Jetzt fange ich noch mal von vorn an, sagte ich, um ihn zu trösten, denn ich kannte ja seine fixe Idee, sich um mich zu sorgen. Er wartete freundlich auf meine weiteren Pläne. Ganz von vorn, sagte ich ohne wirkliche Zuversicht. Mein Vater hockte entspannt auf dem zertrümmerten Schemel, den wir geduldig zusammengeleimt hatten, die gebrochenen Beine im Schraubstock geschient. Er sah tatsächlich ein bisschen verkleidet aus in seinem schneeweißen Anzug. Und wir verstanden uns leichter. Aber sonst: alles wie damals, nicht wahr. Trüber Nachmittag, ewig trübe, Novembersonne blakte schüchtern durchs alte Rollo, brüchiger Aschefetzen, dahinter: Basstiraden, Autos murmelten dunkel vorbei, wohin fahren die Leute, dachte ich, was singen sie, wann werde ich fahren und singen, im Keller mein Kind, das die Welt repariert mit Schrauben und Leim. Ihm sagen: nicht wahr, das kriegen wir schon, was zerbricht kann man kitten, der Schraubstock umarmt's und morgen ist der Tisch gedeckt mit vier Tellern, die zarte Adern durchziehen, vergessen der Streit und die Scherben.
Noch einmal, dachte ich, noch einmal zurück in die freundlichen Lügen: alles wird wieder gut, wenn man weiß, was man will, es wird kommen der Tag, das sind die besten Jahre, ach. Noch einmal im Schwindel hinab auf den Boden: so klein wie du warst, auf Knien den Schulbus erklommen, der Ranzen rutschte kopfüber, gleich umgerannt auf dem Schulhof, ins Gras gebissen jeden Tag, die Milchzähne eingesperrt wie Juwelen im Nachttisch der Eltern. Noch einmal auf Zehenspitzen, dann langen die Finger an Flaschen mit giftigem Zeug, das reicht, alle Mann zu vergiften, zu wissen, es liegt nur an dir, ist ein gutes Gefühl und gute Gefühle lassen dich wachsen. So groß bist du heute, dass jedes Schulkind dir bequem auf den Kopf spucken könnte. Dinge ändern sich, Menschen nie.
In den Regalen Schachteln mit Schrauben und Muttern, nach Größen sortiert. Rostige, farbverschmierte Dübel. Aus Wänden gerupft, bevor man die Wohnung verließ, wir hatten viele Wohnungen hinter uns, viele vor uns vermutlich, für die man Schrauben brauchen würde, Dübel und Werkzeug. Werkzeug und Schrauben sind tröstliche Dinge, man kann sie überall brauchen. Was brauchte ich noch: klare Gewissheiten, die man an die Wand nageln kann wie ein verschossenes Familienbild. Wissen, was Samstag und Sonntag für Tage sind. Weißt du noch, sagte ich, samstags fuhren wir los, hatten was vor. Samstag hieß warten und frieren, denn Regen und Wind schieben am Samstag Dienst, wenn sich die guten Wetter erholen. Dich störte das nicht. Hat dich je was gestört? Samstag hieß: Bahnhöfe gucken und Lokomotiven, Futter für unsere Kamera. Schwarzglänzende Drachen krochen aus ihrem Schuppen direkt hinein in den Sucher. Samstags raus und sonntags rein in den Keller. Im Dunkeln Filmdosen knacken, Entwickler mischen aus Wasser und Gift, mit spitzer Zange die schwarzen Drachen aus der Lake ziehen und an die Leine knipsen. Trostlose Ausstellung für den Rest der Familie. Wie gut, dass es mich gab. Wer wäre schon freiwillig mit dir auf die Bahnhöfe raus. Hätte höfliche Fragen gestellt nach Baujahr und Typ der Lokomotiven, ohne was an ihnen entdecken zu können wie du. Heute schau ich erst hin. Könnte mich glatt in die verhassten Dinger vergaffen. Aber dafür muss man ja ins Museum marschieren, da stehen sie dann, majestätisch und hilflos auf ihren verstümmelten Schienen.
Im Keller, weißt du, war alles ganz leicht, ohne Geheimnis. Zwei systematische Köpfe, gebeugt über einsichtige Katastrophen. Kabelbruch, Kurzschluss, müde gewordenes Material. Wir hatten zu tun mit überschaubarem Unglück. Das war aus der Welt, wenn wir aus dem Keller stiegen. Wieder was geregelt, geschafft, ein Stück Unordnung aus der Welt. Oben schlug das Licht grob über uns zusammen, längst war etwas Neues kaputt in der Wohnung. Also hatten wir Zukunft. Dinge ändern sich, Menschen nie. Irgendetwas hatte insgeheim schon beschlossen, den Geist aufzugeben, auseinander zu fallen, still zu verrecken. Morgen, nächste Woche, schon bald. Dinge träumen voll Sehnsucht von ihrem eigenen Verfall. Wir würden sie retten. Im Keller. Wir zwei.
Mit meinem Vater verstand ich mich besser, nachdem er gestorben war.
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