Der Freitag: Wesentliche Forderungen der Protestierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 wurden von Ihren Schriften inspiriert. Was empfinden Sie, wenn Sie darüber nachdenken?
Wei Jingsheng: Meine Veröffentlichungen waren nur ein Teil von vielen, die die Menschen aktivierten, Demokratie zu fordern. Die Entwicklung der Artikel führte zu Protesten und Demonstrationen, die bewiesen, dass unsere Ideen im Volk Widerhall fanden. Das war überaus anregend und stärkte unsere Zuversicht.
Sie befanden sich seit 1977 im Gefängnis. Wie erfuhren Sie von dem Massaker und was bewirkte es bei Ihnen?
Ich erfuhr aus dem Fernsehen davon. In diesen kurzen zwei Monaten, als die KP Chinas die Kontrolle verlor, genossen die Medien in China eine Menge Freiheiten. Das Massaker
le verlor, genossen die Medien in China eine Menge Freiheiten. Das Massaker, das dann begangen wurde, bestätigte meine Warnung, die ich bereits zehn Jahre zuvor, 1979, an alle gerichtet hatte: Deng Xiaoping und seine Gefolgsleute aus der KP waren Autokraten ohne irgendeine Einschränkung. Um ihre Macht zu erhalten, war ihnen jedes Mittel recht, einschließlich eines Massakers.Ist China momentan der Demokratie näher als vor 20 Jahren?Betrachten wir Regierung und System, ist die Entfernung genauso groß. Das Maß der Unterdrückung ist mal schwächer und mal stärker. Wie auch immer, ein Beleg für eine Veränderung des autokratischen Systems ist dies nicht. Die KPC selbst wiederholt laufend, dass es keine grundsätzlichen Veränderungen gibt. Nur einige Wissenschaftler und Medienleute, die sich haben ins Bockshorn jagen lassen – oder die selbst gern in die Irre führen – benutzen die minimalen Veränderungen als Beweise für eine Veränderung des gesamten Systems. Mit Logik hat diese Beweisführung nichts zu tun. Betrachten wir allerdings gesellschaftliche Wahrnehmung und Empfinden, befindet sich China näher an der Demokratie als vor 20 Jahren. Vor 20 Jahren haben auch die demokratischen Anführer auf dem Platz des Himmlischen Friedens Reformen durch die KP gefordert. Heutzutage wollen die meisten Chinesen die totale Abschaffung der Einparteiendiktatur. Das Volk ist nicht nur aufgebracht gegen einzelne KP-Mitglieder, sondern gegen die gesamte KP. Das ist ein grundlegender Wandel."Das Netzwerk der Dissidenten reicht bis in die letzten Winkel Chinas" Junge Menschen in China wissen kaum etwas über das Massaker. Ist überhaupt noch etwas von dem Geist des damaligen Kampfes übrig?Die meisten dieser jungen Chinesen wissen deshalb nichts vom Massaker, weil die KP mit großem Aufwand jegliche Information über das Ereignis verhindert. Schon allein diese Tatsache zeigt, wie sehr sich das Regime immer noch vor dem Geist jener Tage fürchtet. Noch viel schlimmer ist für das Regime jedoch, dass dieser Geist sich inzwischen in unzähligen Widerstandsakten und Protesten gleichsam reinkarniert. Der Freiheitswille wird stärker in der gegenwärtigen Widerstandsbewegung und wird in den Zusammenbruch der Einparteiendiktatur münden.Die weltweit präsenten Netzwerke der chinesischen Diaspora wirken sehr effizient. Wie sieht es mit der Vernetzung der Regimekritiker innerhalb Chinas aus? Die stärkste Macht, die der KP Chinas Widerstand leistet, befindet sich in China. Das geheime Netzwerk reicht bis in den letzten Winkel des Landes. Das ist auch der wahre Grund, warum jährlich mehr als 100.000 Widerstandsakte registriert werden – sogar von offiziellen Statistiken der chinesischen Regierung bestätigt.Mit Blick auf die wachsende Zahl von Unruhen und Angriffen gegen Repräsentanten der Regierung: Befindet sich das Regime am Rande des Zusammenbruchs? Und wohin würde das führen: Demokratie oder Anarchie?Zunächst einmal: Die alte Regierung und ihr System müssen zerstört werden. Als Konsequenz daraus würden natürlich Formen der Anarchie entstehen. Erst im Prozess der Wiederherstellung der Ordnung etablieren sich eine neue Regierung und ein neues politisches System. Das ist auch der wahre Grund, warum der Westen die chinesische Demokratie nicht unterstützt. Letztlich sind dem Westen wirtschaftliche Profite wichtiger als die Freiheit anderer Völker. Ein Beispiel: Gesetzliche Bestimmungen zahlreicher europäischer Staaten legen fest, dass Geld an China nur zur Unterstützung legaler Programme unter Kontrolle der KP vergeben wird, im Bestreben, das Regime der KPC zu stützen, statt die Demokratiebewegung finanziell zu überstützen. Denn die würde ja die bestehende Ordnung in China zerstören und Profitchancen der Europäer gefährden.Wie stehen denn die Chancen, dass sich die oppositionellen Kräfte vereinen?Wenn es zur entscheidenden sozialen Krise in China kommt, wird sicher die Mehrheit der Opposition ihre Differenzen bereinigen und sich zusammentun. In China wird sich aber auch genau das erweisen, was die Deutschen bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte vorfinden. Angesichts der Aktivitäten von Stasi-Agenten innerhalb oppositioneller Gruppierungen kann man erkennen, dass es unmöglich ist, alle diese Kräfte zu vereinen. Bevor in Deutschland die Akten aufgearbeitet wurden, gab es keine Beweise für die Existenz der Unterwanderung, obwohl eigentlich jeder es ahnte.Was sagen Sie zu dem Vorwurf, chinesische Dissidenten wie Sie, die jahrelang nicht mehr in China waren, würden das moderne China gar nicht kennen?Gegenfrage: Was würden Sie sagen, wenn jemand mit Hintergedanken ihnen vorwirft, Sie hätten ihre Mutter vor so langer Zeit verlassen, dass andere sie besser kennen würden als Sie?"Unterstützung bekomme ich im Westen vorwiegend aus der Bevölkerung"Sind die westlichen Staaten gut über China informiert?Einerseits wissen Politiker und Experten Bescheid. Oft ist es aber eine andere Frage, ob sie etwas unternehmen und wenn ja, was. Für Gerechtigkeit einzutreten, bedeutet etwas ganz anderes, als aus wirtschaftlichem Kalkül aktiv zu werden. Wir müssen unser gegenseitiges Verständnis erweitern.Sie reisen um die ganze Welt für die chinesische Demokratiebewegung. Ist die Unterstützung in Deutschland anders als in anderen Ländern? Die Unterstützung, die ich erhalte, stammt in den westlichen Staaten vorwiegend aus der Bevölkerung. Kühl oder ablehnend begegnen mir dagegen oft politische und geschäftliche Zirkel. In Deutschland ist der Unterschied zwischen ihrer Sorge um ihre eigenen Rechte und der Sorge um die Menschenrechte anderer Völker ist weitaus größer als in den anderen europäischen Staaten oder den USA.William Safire von der New York Times hat Sie als „chinesischen Nelson Mandela“ bezeichnet. 18 Jahre verbrachten Sie in chinesischen Gefängnissen. Im Westen erhielten sie zahlreiche wichtige Auszeichnungen für ihren Mut und ihren Einsatz für Demokratie und Menschenrechte. 1998 wurden Sie ausgebürgert. Denken Sie darüber nach, wie China sein wird, wenn Sie zurückkehren?Darüber denke ich ständig nach. Als ich vor zwölf Jahren in den USA ankam, überlegte ich oft, welche Gegenleistung wir erbringen könnten, wenn die westlichen Staaten uns beim Aufbau der Demokratie helfen. Heutzutage denke ich: der Westen hält die Kommunistische Partei Chinas an der Macht. Welche Gründe kann ich in der Zukunft nennen, um das chinesische Volk davon zu überzeugen, nicht nach Rache zu streben? Ich wünschte mir, westliche Gelehrte würden mir beim Nachdenken helfen. Natürlich ist dieses Problem für sie weit abgelegen.Das Gespräch führte Sabine Pamperrien.