China steht, wenn es um Demokratie und Menschenrechte geht, permanent in der Kritik. Zunehmend sind aber die Kritiker selbst starker Polemik ausgesetzt. Fast schon gebetsmühlenartig weisen insbesondere deutsche China-Experten darauf hin, dass für China ganz andere Maßstäbe zu gelten haben als für europäische Staaten. Einer der Hauptvorwürfe gegen die Kritiker lautet, „China-Bashing“ verbaue die Chancen zum Kennenlernen der wirklichen Aufbruchprozesse. Immerhin sei es dem kommunistischen Ein-Parteien-Regime gelungen, das rückständige Land entscheidend zu modernisieren. Was angesichts des ungeheuren Wirtschaftserfolgs offenkundig scheint, verdient eine nähere Betrachtung aus historischer Perspektive.
Der Epochenbruch
Die Modernisier
Die Modernisierung des über 5000 Jahre alten Landes ist das Grundthema des neuen Buchs von Sabine Dabringhaus. Die Historikerin von der Universität Freiburg unterzieht in dem knapp dreihundert Seiten langen Werk die Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert einer näheren Betrachtung. Dabringhaus’ "Geschichte Chinas 1279-1949" (2006) und ihre Biographie Mao Zedongs (2008) legten bereits Grundlagen für eine facettenreichere Rezeption chinesischer Geschichte. Bisher dominierte der vermeintliche Epochenbruch durch die Machtübernahme Maos und die Folgen des kommunistischen Regimes die Interpretation des heutigen China. War China wirklich so isoliert und rückständig?Dabringhaus hat bereits früher dargelegt, dass die Integration Chinas in internationale Strukturen schon während der Qing-Dynastie (1644-1911) begann. Internationale Forschung belege sogar, dass der sozioökonomische Wandel im spätkaiserlichen China mit westlichen Entwicklungen vergleichbar ist. Es ist zwar von gewaltsamer Öffnung die Rede, die die europäischen Mächte während der Opiumkriege zwischen 1840 und 1860 erzwangen. Doch löste dieses Aufeinanderprallen der Kulturen in China eine intensive geistige Auseinandersetzung mit den ökonomischen und kulturellen Grundlagen der westlichen Vormacht aus.Die Autorin lehnt die übliche Einteilung der chinesischen Geschichte in Epochen ab. Die strikte Einteilung nach Phasen politischer Herrschaft (spätkaiserliches China bis 1911, Chinesische Republik bis 1949 und Volksrepublik China seit 1949) verhindere die Wahrnehmung langfristiger, epochenübergreifender Zusammenhänge. Zudem verändere die Gesamtentwicklung Chinas die Perspektive. Neu einzuordnen ist so beispielsweise, dass dem heutigen Aufblühen des privaten Unternehmertums in der Volksrepublik eine erste Gründerzeit eines industriellen und finanziellen Kapitalismus in der Republik China während der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vorausging.Weg mit den EpochenIn der Gegenüberstellung chinesischer und westlicher Forschungsansätze und -ergebnisse zeigt sich aus Dabringhaus Erläuterungen en passant ein bemerkenswerter Unterschied: Während westliche Forscher sich an den drei Leitlinien Revolution, Nation und Modernisierung abarbeiten und Chinas Geschichte in einen linearen Prozess einordnen, orientieren sich chinesische Ansätze viel eher an den intellektuellen Auseinandersetzungen, die die Systemveränderungen begleiteten. Erst die lineare marxistische Geschichtsbetrachtung seit 1949 unterdrückte – zumindest zeitweise – die in der traditionellen chinesischen Kultur angelegte holistische Reflexion von Geschichte.Dabringhaus geht in ihrer Darstellung von den drei großen Umbruchphasen aus und unterteilt diese in fünf Zeitabschnitte, denen sie je ein Kapitel widmet. Die Arbeit beginnt mit den Jahren zwischen 1890 und 1919, in denen unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem Konfuzianismus den allmählichen Bruch mit der kaiserlichen Herrschaftstradition vorbereiteten. Dieses Kapitel legt zugleich die Grundlage für ein tiefer gehendes Verständnis der fundamentalen Bedeutung des Konfuzianismus, der eben nicht nur eine geistige Haltung bedeutete, sondern ein ganz auf das Kaisertum zugeschnittenes System staatlicher Ordnung.Das Kaisertum versuchte zwar noch durch Reformen ím Bildungs- und Erziehungswesen sowie in Wirtschaft und auch Kommunikation seine Macht zu erhalten, scheiterte jedoch. Der revolutionäre Umbruch vollzog sich allerdings nicht im Jahr der Abdankung 1912, sondern erst im Verlauf der anschließenden radikalen Abrechnung mit dem Konfuzianismus durch die Neue Kulturbewegung, die 1919 in die Vierte-Mai-Bewegung mündete.Erst danach war die formale Abkehr vom Konfuzianismus vollzogen, die schließlich in den Sozialismus führte. Schon hier speiste sich die Kritik am traditionellen Herrschaftssystem unter anderem aus der intellektuellen Auseinandersetzung mit westlichem Denken und westlicher Technologie.Die Gründerzeit begann vor 200 Jahren Schon seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts erlebten Chinas städtische Gesellschaften eine eigene Gründerzeit, die unter anderem zu größerer politischer Partizipation führte. Dabringhaus zeigt an zahlreichen Einzelaspekten den politisch-kulturellen Aufbruch jener Jahre, der die Entstehung von Massenmedien ebenso beinhaltete wie die Entstehung einer modernen Literatur oder politischer Anarchie und religiöser Neuausrichtung – alles im Streben nach einem selbstbewussten neuen China in einer modernen Staatenwelt.Das zweite Kapitel analysiert den „Nationalismus in der schwachen Republik“. Dabringhaus zeigt auch hier, dass es einen traditionellen chinesischen Nationalismus ganz eigener Ausprägung lange vor dem westlichen gab. Es gab zwar seit den ersten Okkupationen durch Japaner und Europäer einen anti-imperialistischen Nationalismus, der dann zwischen 1937 und 1945 den heftigen Widerstand gegen die japanischen Besatzer befeuerte, daneben einen politischen Nationalismus, der von – freilich zu Zeiten der Republik utopischen – Vorstellungen von einem „chinesischen Staatsbürgerbewusstsein“ geprägt war sowie auch einen traditionell starken ethnischen Nationalismus. Von besonderer Bedeutung war aber der kulturelle Nationalismus, der die soziokulturelle Tradition als Kraftquell des modernen China rezipierte und aus dem insbesondere unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs eine moralische Überlegenheit gegenüber dem angeblich spirituell unterentwickelten Westen abgeleitet wurde, so die Autorin.Im dritten Kapitel wird die Entwicklung des chinesischen Kommunismus geschildert, die sich als Abfolge zahlreicher innerparteilicher Machtkämpfe zeigt. Nach Maos Tod war das Land verbittert und zerrüttet. Chinas Intellektuelle, die in Krisen immer versucht hätten, zur Rettung des Landes das politische Vakuum zu füllen, seien nachhaltig in die Isolation gedrängt worden.Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Phase der Öffnung unter Deng Xiaoping, in der neben umfangreiche staatlich initiierte Reformen zivilgesellschaftliches Engagement und Demokratisierungsbestrebungen traten, die die Autorin in der Tradition der Vierte-Mai-Ära sieht.Das letzte Kapitel widmet sich der Zeit seit 1989. Neben der Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Begriffen zur Natur des aktuellen Regimes – „konfuzianischer Leninismus“, „kapitalistischer Sozialismus“, „Nomenklaturkapitalismus“ wird hier erstmals auch Chinas Bedeutung in der internationalen Politik erörtert.Die detailreiche Darstellung macht es auch für unkundige Leser leicht, sich fundierte Kenntnisse der jüngeren chinesischen Geschichte anzueignen. Plausibel werden unterschiedliche Forschungsansätze gegeneinander abgewogen und insbesondere die Ergebnisse chinesischer Forscher einbezogen. Die Experimentierfreude und kulturelle Offenheit in den langen und widersprüchlichen Prozessen, in denen auch immer wieder auf die Traditionen des Konfuzianismus rekurriert wird, erscheinen als das eigentliche Movens der neueren chinesischen Geschichte.Es fragt sich, ob nicht die Unterdrückung der – traditionellen – intellektuellen Kultur unter dem Aspekt gesellschaftlicher Modernisierung zerstörerisch wirkt. Ob sich das Land auf dem Wege zur Demokratie befindet, erweist sich aus historischer Sicht als äußerst strittig. Faktenreich wird belegt, dass Chinas wirtschaftlicher Aufstieg die negative soziokulturelle Entwicklung nicht verschleiern kann.