Inwieweit haben EU-Bürger eigentlich Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Hinblick auf die EU-Erweiterung? Informiert sein gehört jedenfalls dazu.
Vor kurzem hat der Nomos-Verlag die erste Kommentierung zur Europäischen Grundrechtscharta herausgegeben. In der Vorinformation schreibt er, dass sich unsere nationale Rechtsordnung schon jetzt auf Änderungen im Gefüge der Grundrechte und der Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht einstellen müsse. Das ist missverständlich - dieser Satz könnte die Furcht bei einzelnen Bürgern vergrößern, durch die rapide Erweiterung der EU in ihren politischen Gestaltungsspielräumen immer mehr eingeschränkt und gegängelt zu werden. Die nationalen Grundrechtecharten und Verfa
und Verfassungen bleiben aber, so der Herausgeber und Völkerrechtler Jürgen Meyer, die alten.Meyer hat als deutscher SPD-Delegierter an den Beratungen des ersten und zweiten Konvents teilgenommen. Er ist sozusagen einer der Väter der europäischen Grundrechtscharta. Seit 1981 ist er Professor für deutsches und ausländisches Straf- und Prozessrecht sowie Kriminologie an der Universität Freiburg.In den "Allgemeinen Bestimmungen" der Paragrafen §51-§54, so Meyer, seien Anwendungsbereich, Tragweite, Schutzniveau und das Verbot des Missbrauchs der Rechte der Charta festgelegt. Der Rechtsexperte Martin Borowsky kommentiert: "Die Charta steht in der Parallelität der Grundrechtsordnungen. Nach dem Willen des Konvents soll sie sich in das bestehende Geflecht aus nationalen, europäischen und internationalen Grundrechten schonend einfügen, ohne Schaden anzurichten, ohne zu einer Anpassung nach unten zu führen". So soll zum Beispiel den skandinavischen Mitgliedstaaten mit ihrem hoch entwickelten Grundrechtsschutz die Sorge genommen werden, der eigene hohe Grundrechtsstandard könnte durch die Charta in irgendeiner Weise - sofern diese unter dem Niveau bleiben sollte - gemindert werden. Um kein anderes Kapitel habe der Konvent so lange und so intensiv gerungen, wie um das der "Allgemeinen Bestimmungen", die vor allem für den Fall der Rechtverbindlichkeit entworfen wurden. "Von Anfang an war unbestritten, dass die Charta gerade die europäische Hoheitsgewalt binden, bändigen, begrenzen soll" heißt es in der Kommentierung zu Artikel 51, Abs. 1. Die Charta schützt mithin vor Grundrechtsverletzungen seitens der "Organe und Einrichtungen der Union", also dem Europäischen Parlaments, dem Rat der Europäischen Union, der Europäischen Kommission, dem Gerichtshof und dem Rechnungshof."Streit hatte sich vor allem an der "religiösen Frage" entzündet. Die hochemotionalen Auseinandersetzungen drohten für einen Moment fast das ganze Chartaprojekt zum Scheitern zu bringen. Es ging um religiös-philosophisch divergierende Auffassungen von den Bedeutungen und Wertigkeiten der Begriffe "spiritual héritage" (England), "Patrimonio espiritual", (Spanien), "heritage culturel, humaniste et religieux" (Frankreich) und dem Begriff "geistig-religiöses Erbe" (Deutschland). Jeder einzelne Delegierte in dem Multinationalen Gremium "Konvent" hatte gleichzeitig die binnennationale Auffassungen seines eigenen Landes zu transportieren und repräsentieren. Meyer wertet die Konventsarbeit schon wegen der Übersetzungsprobleme als Musterbeispiel der internationalen Verständigung. Letztlich sei die Konventsmethode sei ein voller Erfolg gewesen: die Öffentlichkeit der Sitzungen plus der stete kommunikativer Austausch zwischen der Zivilgesellschaft und den Delegierten des Konvents einerseits (überwiegend Parlamentariern) - und dem Präsidium des Konvents andererseits.Jürgen Meyer hat seinen Ausführungen zur "Präambel", mit denen das Buch beginnt, den vollständigen Text der Präambel vorangestellt. Sie lautet: "Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. (Abs. I). In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit." Man muss nicht mit allem, was der EU-Konvent, beschlossen hat, zufrieden sein. Aber immerhin diesen Absatz darf man als einen wichtigen Schritt bei der Friedenssicherung auf dem Weg zu einer erweiterten europäischen Union werten. Gerade wem die reale Politik der EU ein Dorn im Auge ist - zumindest auf die Charta kann er sich berufen.Jürgen Meyer: Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Nomos, Baden-Baden 2003, 634 S., 98,- EUR