LEVIS ODER ARIZONA-JEANS Die meisten Jugendlichen machen aus ihrer Armut ein sorgfältig gehütetes Geheimnis. Die Angst vor der Stigmatisierung ist groß - und leider begründet
Jedes siebte Kind in Deutschland ist arm. Das geht aus einer Studie hervor, die im Oktober von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) veröffentlicht wurde. Die Untersuchung räumt auch mit dem gängigen Klischee auf, solche Kinder und Jugendliche würden gleichzeitig in instabilen Familien aufwachsen. Überwiegend leben sie in »voll ständigen« Familien mit beiden Eltern, und die Väter sind mehrheitlich berufstätig. Und dennoch hat die Familie nur die Hälfte des Durchschnittseinkommes. Armut bekommt angesichts dieser Ergebnisse neben der Arbeitslosigkeit wieder eine eigene Dimension. Und doch ist es eine Problematik, die in den vergangenen Jahrzehnten nur vergessen wurde, wie ein Blick in die Geschichte der Armut seit dem 16. Jahrhundert zeigt.
Ein Han
eigt.Ein Handy? »So was brauch ich nicht, das find' ich doof!« Das, was der 15-jährige Kevin Jones* sich nicht leisten kann, findet er uninteressant. Sagt er zumindest den anderen in der Klasse. Der Konsumdruck unter Kindern und Jugendlichen ist groß, doch Kevin, der seit seiner Geburt von Sozialhilfe lebt, hat eigene Strategien entwickelt, mit der Armut umzugehen. »Wie fandst du den Film gestern auf Pro7?« - »Der war nicht so toll.« Mit dieser Bemerkung würgt er weiteres Nachfragen ab. Oder er schnappt Pausengespräche über einen Film auf und redet einfach mit. Daheim gibt die Hausantenne nur drei Programme her.Kevin gehört zu der einen Million von Kindern und Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben, insgesamt sind es in Deutschland drei Millionen Menschen. Im Vergleich zu anderen Altersgruppen weisen die unter 18-jährigen die höchste Armut auf. Zirka zwei Millionen Kinder und Jugendliche kommen morgens oft ohne Frühstück in den Kindergarten oder die Schule. Fehl- und Mangelernährung lassen sie häufiger krank werden. Ihre Zukunftschancen sind eingeschränkt. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie der Arbeiterwohlfahrt (AWO) über Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. Grundlage ihrer Armutsdefinition ist das Einkommen der Eltern, das weniger als die Hälfte des Durchschnitts beträgt. Jedes siebte Kind in Deutschland gilt demnach als arm.Ein häufiges Reaktionsmuster auf die Armut ist nach Erkenntnissen der Studie das Verheimlichen. Es ist die Scham, die aus dem Sozialhilfebezug ein sorgfältig gehütetes Geheimnis macht. Bei Tina Jones (19 Jahre) weiß es keine ihrer Freundinnen, und bei ihrem Bruder Kevin wusste es nur ein Kumpel, der selbst lange von Sozialhilfe lebte - bis zur Klassenfahrt. Während viele arme Kinder und Jugendliche nicht an Ausflügen und Fahrten teilnehmen können, garantiert die westdeutsche Großstadt, in der die Jones leben, die Übernahme der Kosten. Doch das hinderte die Lehrerin nicht, Kevin vor der ganzen Klasse als Sozialhilfeempfänger bloßzustellen. Seitdem wird er von seinen Mitschülern als »Sozialkind« verspottet. »Die wissen ja ganz genau, was einen verletzt,« sagt er traurig.Kevins Mutter Elisabeth ist Engländerin und lebt seit 1980 in Deutschland. Ihre beiden Kinder, die sie seit der Geburt allein erzieht, haben gleichfalls einen britischen Pass. Der Aufenthaltsstatus der Familie ist unsicher und damit eine große Belastung: »Ich gehe immer wieder mit Angst zum Ausländeramt,« sagt die 51-jährige, die früher als Krankenschwester arbeitete. Dass insbesondere Kinder und Jugendliche ohne deutschen Pass und mit ungewissem ausländerrechtlichen Status von Armut betroffen sind, ist ein weiteres Ergebnis der AWO-Studie.Danach sind arme Kinder auch häufiger verhaltensauffällig (bei 38 Prozent wurden Störungen im Spiel- und Sprachverhalten festgestellt), und nur 69 Prozent werden bereits mit sechs Jahren eingeschult (im Gegensatz zu 88 Prozent der Nichtarmen). Auch der Übergang zu höheren Schulen ist seltener: nur 16 Prozent der armen Kinder schaffen den Übergang zum Gymnasium, aber 29 Prozent der nichtarmen Kinder. Als Ursache macht die Studie neben finanziellen Gründen auch »mentale Einschränkungen der Zukunftserwartungen, die in Apathie münden können« aus. Ein Teufelskreislauf der Armut ist die Folge.Elisabeth Jones kämpft aktiv dagegen an. »Ich habe immer geguckt, was die Kinder unbedingt brauchen. Ein Computer musste sein.« Mit Übersetzungsarbeiten hat sie das Geld für den Rechner zusammengespart, denn eine gute Ausbildung sei das Wichtigste. Ihre Kinder sind auf dem besten Weg dorthin. Tina will Abitur machen und danach studieren. Kevin erzählt begeistert von seinem Schülerpraktikum in einem großen Hotel. Die Hotelleitung war so überzeugt von dem aufgeweckten Jungen, dass sie ihm einen Ausbildungsplatz anbot. Kevin will nächstes Jahr die Gesamtschule verlassen, um Hotelfachmann zu werden, oder Abitur machen, wenn die Noten stimmen.Aber das hängt nicht nur von ihm ab. »Nächste Stunde bringt ihr einen Badmintonschläger mit. Wer ohne kommt, kriegt eine Sechs.« Die Forderung des Sportlehrers war ebenso klar wie unerfüllbar für Kevin. Also bekam er das »Ungenügend« angeschrieben und musste zur Strafe während des Turnunterrichts in der Schulbibliothek die Badminton-Regeln abschreiben.Je älter die Kinder werden, desto problematischer wird die Armut für sie, besagt die AWO-Studie. Das können auch Kevin und Tina, bestätigen: »Als Kind wusste ich doch gar nicht, dass ich von Sozialhilfe lebe,« sagt Tina und Kevin ergänzt: »Früher war es mir egal, ob ich eine Levis hatte oder eine Arizona-Jeans aus dem Otto-Katalog.« Das ist heute anders. Die Geschwister, die neben der Schule jobben, achten sehr auf ihre Kleidung, damit man ihnen die Armut nicht ansieht. Sie wissen genau, wann und wo es reduzierte Markenklamotten gibt. Voller Neid schaut Tina nach England, denn »da laufen alle in Schuluniform rum, und man sieht nicht, wer Geld hat«.Mit Sozialhilfe, Wohngeld und Unterhalt für ihre Kinder kommt Elisabeth Jones auf 2.600 Mark im Monat, die Warmmiete und der Strom kosten allein 1.200 Mark. Manchmal schicken ihre Eltern aus Großbritannien etwas Geld, aber als Rentner haben sie selbst nicht viel. So besteht das Leben von Elisabeth, Tina und Kevin Jones aus ständigem Organisieren und Planen, um das knappe Geld einzuteilen. Und mancher Sachbearbeiter und seine Willkür machen Behördengänge zu nervenaufreibenden Kämpfen. Elisabeth Jones bilanziert ihr Leben auf Sozialhilfe mit dem Satz: »Viele sagen zwar, du kriegst das Geld umsonst, aber du bezahlst auf deine Weise dafür.«* Alle Namen von der Redaktion geändertWeitere Informationen zur Studie unter www.iss-ffm.de.
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