Ein Mann von 50 Jahren verlässt Berlin Richtung Osten, bis nach Moskau will er, wie Hitler und Napoleon. Aber der Mann ist kein Soldat, auch kein Historiker, und ein einfacher Tourist schon gar nicht. Am liebsten will er allein sein und unerkannt, aber schon am ersten Abend setzt sich der Landser neben ihn, der deutsche Soldat, der auf die Weite des Ostens nicht vorbereitet war, kurz kämpfte, schnell verlor und verschollen blieb - wie der Großvater des Mannes.
Der Mann heißt Wolfgang Büscher und hat für den Fußmarsch nach Moskau seinen Ressortleitersessel in der Redaktion der Welt für knapp drei Monate verlassen. Das Ergebnis heißt Berlin - Moskau, Büscher hat dafür 2003 den Kurt-Tucholsky-Preis erhalten. Jetzt erscheint es in gekü
rscheint es in gekürzter Fassung als Hörbuch, gelesen von Ullrich Matthes.Eine Reise zu Fuß also auf historischer Route, begleitet vom deutschen Landser, das hört sich nach Vergangenheitsbewältigung an. Und wirklich: Von Krieg ist oft die Rede. Nur angestrengt wird es nicht, wenn Büscher der Geschichte begegnet. Er findet sie, gut informiert, und flüstert ihr, dem Großvater und all den Gespenstern der Vergangenheit zu: "Sei ganz ruhig, ich werde durch dich hindurchgehen wie der Wind."Das heißt nicht, dass Büscher die Geschichte schön schreibt. Er berichtet von der Allee der Gehenkten, in der SS-Leute Deserteure in den Linden aufgehängt haben 1945, kurz bevor die Russen kamen. Er besucht den Totenwald von Katyn, in dem Stalin 1943 die polnische Elite erschießen ließ, und außerdem noch ungezählte Landsleute. Wie er im Waldboden gleich auf Schuhsohlen und eine Rippe stößt, hat etwas sehr beunruhigendes. Die Geschichte ist nicht vorbei, nicht einmal ordentlich begraben. Aber als er die Gruppe Veteranen sieht, die sehr bedrückt vom Besuch ihres Einsatzortes zurückkommt, ist er wütend. "Wem gefällt das? Wen befriedigt es, sie so zu sehen?"Lieber sind ihm unglückliche, romantische Liebesgeschichten, die mitten im Krieg über die Feindeslinien hinweg gelebt wurden. Am stärksten ist die von der polnischen Gräfin Mankowski, die ihm ihr Sohn in einer Mondnacht vor dem früheren Familienschloss anvertraut. Diese schöne und mutige Adlige hat ihren Mann und ihre Kinder immer wieder vor den Nazis gerettet, und dabei war sie verliebt in einen deutschen Oberst, später General. Sie beeindruckt Büscher sehr, wohl weil ihn etwas mit ihr verbindet: Die Gräfin schaut auf die Menschen, nicht auf ihre Uniform oder ihre Nationalität. Auch Büscher versucht, die großen Themen in menschlichen Dimensionen zu verstehen und das Persönliche zu finden. Wie er den Kommunismus als alten Mann beschreibt, der ständig versucht, die riesige Frau zu besteigen, ihr Wohl beschwörend und sie doch vernichtend, bis er zu alt wird und sie ihn einfach abwirft - das ist eine von vielen Perlen, die seinen Reisebericht in die Nähe der Literatur rücken.Büschers ureigenstes Thema ist das Gehen. Elf Stunden und länger kann er am Tag "Strecke machen", Hunger, Müdigkeit und die Unsicherheit, wo er übernachten wird, einfach weggehend. Das hört sich soldatisch an, und Büscher selbst vergleicht seinen Gewaltmarsch mit dem eines Heeres. Nur dass er sich seinen Durchhaltebefehl selbst geben muss, indem er das Mantra der 100 Schritte aufsagt oder mit dem Land hadert: "das große große Land, es will und will und will dich nicht, du deutscher, deutscher Zwerg." Ullrich Matthes verleiht dem Text eine leise Melancholie, sodass selbst Spuren deutscher Zwanghaftigkeit wie liebenswerte Versuche klingen, sich irgendwie in dieser haltlosen Weite zu behaupten.Der Reisende redet mit oft sich selbst, erfindet Geschichten für Menschen, gibt ihnen Namen und verwandelt so die fremde Welt in seine eigene. Die Kraft, eigene Bilder für das Fremde zu finden, ist die Stärke des Textes, besonders, wenn es um Menschen geht. Da sind solche, die er nur im Vorbeigehen sieht und dennoch treffend beschreibt wie die aufgeputzten Dorfschönen, die um den Marktplatz spazieren, als müsse sich ihr Leben gerade an diesem Abend entscheiden. Doch die örtliche Prinzenschaft gibt sich dem Alkoholgenuss hin und biegt mit dem Fahrrad um die Ecke, an den Häuserwänden Halt suchend. Ganz wenige Sätze braucht Büscher nur, um eine fremde Atmosphäre klar mitzuteilen.Von anderen Menschen lässt er sich Schicksale erzählen, die nicht in der Zeitung stehen. Wie das von Arkadij, eine der beiden Seiten der russischen "Volksseele" à la Büscher. Die Russen lassen sich entweder gehen und saufen, oder sie sind streng und diszipliniert wie Arkadij. Zum Glück bricht dieses Schema, als Akradij, der ehemalige "Liquidator", der im explodierten Reaktor von Tschernobyl gearbeitet hat, seinem Besucher enthusiastisch diesen Reaktor als zukünftige Touristenattraktion vorstellt. Ulrich Matthes, der mit stark russischem Akzent "Reaktor, Reaktor" ruft und sich dabei fast überschlägt, vermittelt viel vom Sinn des Liquidators für schwarzen Humor.Besonders beeindruckt ist der Fußgänger, wenn er sich ohne große Worte einfach neben einen Pilzverkäufer an den Autobahnrand setzen kann. Dann scheint er seinem Ziel nahe, einem Touristen wohlbekannten Paradox: Das Fremde ist faszinierend, aber selber will man nicht fremd sein. Eine schmale Grenze, auf der Büscher meisterhaft balanciert. Anlässlich des 11. Septembers spricht er sie aus: "Dass einer der seit Wochen allein, ohne Zeitungen, ohne Fernsehen und in dem Glauben, nach Osten lief, langsam der Welt zu entgleiten ... dass so jemand wie auf ein Satellitensignal hin plötzlich das nächste Fernsehgerät aufsucht, um zuzusehen, wie auf der anderen Seit der Welt Menschen aus einem von feindlichen Flugzeugen getroffenen Wolkenkratzer in den Tod springen. Meine Füße konnten tun, was sie wollten, meine Augen waren eine Million Mal schneller, und sie hatten eine Fernbedienung."In der sehr sensibel gekürzten Hörbuchversion fehlen leider die intensivsten Begegnungen, die mit dem Heiler und die mit Herrn Kalender. Der Heiler war jahrelang Bergarbeiter in Sibirien. Im russischen Dampfbad erzählt er dem Fremden von der Kirche der Assyrer, der dritten großen neben Rom und Byzanz, die nie Staatsreligion wurde und deren Vertreter berühmt waren für ihre Heilkunst. Als der Heiler den Fremden im Bad erst mit Wermutsbündeln behandelt und ihm dann das mit Wermut angereicherte Aufgusswasser zu trinken gibt, ist es, als würde diese längst vergangene Tradition aufleben.Auch Herr Kalender war in Sibirien, aber er ist als grober, verschlossener Mensch zurück gekehrt. Der Reisende muss in seiner verkommenen, dreckigen Behausung übernachten, er hat keine Wahl. Herr Kalender verlangt erst "Winka", Wein, dann kann er nicht schlafen, und als er endlich schläft, schreit er wie ein Tier. Wie Büscher die Verwandlungen des Herrn Kalender beschreibt - erst der grobe, dann der nachts mit dem Tod kämpfende, morgens schließlich zart gewordene und nach wenigen Stunden schon wieder grobe alte Mann - das vergisst man so leicht nicht.Hörbuch 2004 bei "Der Audio Verlag" 3 CDs, Laufzeit insgesamt 209 Minuten 39,22,95 EURhttp://www.freitag.de/2004/14/04142201-c.jpgWolfgang Büscher Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß Rowohlt, 2003 237 Seiten EUR 17,90 ISBN 3-498-00631-2
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