Es gibt Literatur, die per Definition ihren mündlichen Vortrag verlangt. Ohne eine Stimme, die sie vorliest, ist sie nicht vollständig. "Akustische Literatur" kann man auch lesen - wie aber fügt sich Folgendes vor dem inneren Auge zusammen und welche Betonung könnte es im Vortrag ordnen?
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Der diese Zeilen 1919 schrieb - es handelt sich um den Anfang des Lautgedichtes Soundreel - ist niemand anderer als Raoul Hausmann. Der berühmte Mitbegründer des Berliner DADA und Anwärter auf die Titel Erfinder des Lautgedichts und Erfinder der Photomontage ist in jeder Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts vertreten. Weniger verbreitet ist die Tatsache, dass er in den Jahrzehnten vor seinem Tod 1971 einige seiner Werke auf Tonband gesprochen hat.
Hausmann, der Sprachzerstörer, hat in seinem radikalen Zweifel Worte und Sätze zertrümmert, bis nichts mehr übrig bleibt als die Grundelemente: Buchstaben und Phoneme. "Wir wollen alle schönen, hohen, edlen, feierlichen Worte vermeiden, und die Begriffe, die sie versinnbildlichen, anzweifeln - weil sie der Bürger verseucht und vernichtet hat." Hausmann stellt die "verseuchte" Sprache der Bürger auf den Kopf, setzt Regeln der Grammatik, der Syntax und der Aussprache außer Kraft und zerschlägt die Ketten, mit denen Worte an Bedeutung gefesselt sind. Was dann noch bleibt? Hausmanns Vortrag macht es deutlich: Grunzen, Schnalzen und Fauchen, singen aus voller Kehle, klopfen und knurren, prusten, schreien und heulen, dass es den Zuhörern eine wahre Lust ist.
Aus der schier unaussprechlichen Aneinanderreihung von Konsonanten, Satzzeichen und Zahlen wird ein Feuerwerk aus Klängen und Lauten. Die Botschaft: Befreiung der Sprache aus den Zwängen der Pädagogik, und die Aufforderung mitzumachen. Hausmanns Lautgedichte bewirken, dass die Lust am Jauchzen und Tröten sich wieder einstellt und das anarchistische Spiel mit der Sprache zurück kehrt.
Seine Ideen wirken in den Werken anderer Künstler fort. So in den "bewusstseinserweiternden" Gedichten von Carlfriedrich Claus, der damit die Wirksamkeit des Lautvortrages auf die Spitze getrieben hat. Besonders berühmt aber in der Ursonate von Kurt Schwitters, dem Lebenswerk des DADA-Künstlers, veröffentlicht 1932 und Jahrzehnte später von Komponisten wie Luciano Berio als wahrhaft avantgardistisch gewürdigt. Wie Hausmann zerstört auch Schwitters die Sprache und benutzt sie als sinnentleertes Material. Doch im Unterschied zu seinem Freund begnügt sich Schwitters nicht mit dem Reiz des anarchistischen Sprachspiels, sondern fügt das Lautmaterial in eine neue, artfremde Ordnung: in die der Sonate. Schwitters formt aus dem Lautmaterial vier Hauptthemen - darunter ein ehemaliges Lautgedicht von Hausmann - und entwickelt vier Sätze: Rondo, Largo, Scherzo und Presto, umrahmt von Einleitung und Schluss. Manchmal erinnern die Buchstabenreihungen entfernt an die Welt der Dinge, scheinen Vogelrufe nachzuahmen oder von Elefanten zu erzählen. Insgesamt aber bleiben sie Unsinn, der die strenge Struktur der Sonate um so klarer hörbar werden lässt. Ob es sich bei der Ursonate um Poesie oder um Musik handelt, lässt sich nicht entscheiden. Ganz so hat es sich Schwitters erhofft: alles wird gleichermaßen zu Material für ein Kunstwerk, dass sich an keine Grenzen von Gattungen oder Disziplinen mehr hält.
Doch wie Hausmanns Lautgedichte auch leidet die Ursonate unter ihrer unzureichenden Notation. Präzise Angaben zu Dynamik, Betonung und Intonation gibt die Druckfassung nicht her, sodass sich die verschiedenen im Handel erhältlichen Aufnahmen beträchtlich unterscheiden. Diejenigen, die Schwitters eher für die Musik in Anspruch nehmen wie Eberhard Blum, tragen schwungvoll-dynamisch, lustvoll-spontan und also sehr packend vor. Andere Interpreten folgen dem Vorbild von Schwitters selbst, der ebenfalls eine Aufnahme aus den dreißiger Jahren mit Teilen der Ursonate hinterlassen hat. Des Autors eher leidenschaftsloser, gestisch wenig abwechslungsreicher Stil betont stärker die abstrakten Qualitäten dieses Brückenschlages zwischen Poesie und Musik.
Diese Verbindung von Musik und Lyrik ist auch der heute wohl berühmteste Autor akustischer Literatur eingegangen: Ernst Jandl. Jandl hat seine Gedichte am besten selbst vorgelesen, und sein grandioser Vortrag - von dem manche meinen, er sei ebenso meisterhaft wie die Gedichte selbst - ist in zahlreichen Aufnahmen im Handel. Das Spektrum reicht von buntgemischten Gedichtsammlungen mit verschiedenen Aufnahmedaten über das Programm ganzer Leseabende bis zu Jazz-Events für Klavier, Holzbläser und Stimmen.
Jandls Präsenz auf dem Hörbuchmarkt hat Tradition: Gleich sein erster erfolgreicher Gedichtband laut und luise wurde kurz nach der Veröffentlichung 1966 auf Schallplatte gepresst.
Nicht ganz unwahrscheinlich ist es, dass zu Jandls Ruhm eben diese Aufnahmen beigetragen haben: Der Wiener Lehrer und Dichter hat es mit seinem Werk nicht nur in die Literaturgeschichten geschafft, sondern bis in die Lesebücher, ja vielleicht sogar bis in den Wortschatz der deutschen Sprache: "lechts und rinks" ist beinahe zur Redewendung geworden. "manche meinen/ lechts und rinks/ kann man nicht velwechsern./ welch ein illtum!" (Lichtung) Auch wenn Jandls Werk nur teilweise die Worte zersplittert, ist es doch in jedem Fall zur akustischen Literatur zu zählen. Das Prinzip, mit Klang zu spielen, Ähnlichkeiten und unverhofft bedeutungsvolle Varianten von Silben und Namen zu finden, kurz: die klangvolle Oberfläche der Sprache zum Glänzen und Funkeln zu bringen, kennzeichnet die Jandlschen Gedichte immer - mal mehr, mal weniger radikal.
Das "deutsche Gedicht" gleicht einer langen Erzählung, die in der Fassung mit Musik und Gesang zum abendfüllenden Ereignis wird. Flöten, Frauenschreie und dröhnende Klaviatur geben den atmosphärischen Rahmen für Jandls Zeilen aus der Vergangenheit, für die Szenen eines kleinen Jungen, der das nationalsozialistische Wien bestaunt. Am Ende, angekommen im Präsens mit Blick in die Zukunft, dröhnt nur noch Jandls Stimme allein, hallend und scheinbar emotionslos und vermittelt gerade deshalb besonders eindrucksvoll Resignation und Verzweiflung. Natürlich bleibt diese Stimme - "ein Wesen von verfeinerter Borstigkeit" nennt sie der CD-Covertext - der Mittelpunkt auch dieser Jazz-Komposition von Matthias Rüegg. Aber die Musik setzt fort, was an Rhythmik, Stimmungen und weiteren nonverbalen Elementen in Jandls Wortschöpfungen steckt. Die Wirkung von Sprache, fortgesetzt in der Musik: ein altbekannter Brückenschlag in der akustischen Literatur, auch hier gewinnbringend ausgeführt.
Eine weitere Qualität von Jandl sind seine szenischen Texte wie das Gedicht gut kleid. Es sprechen: drei Männer, von denen Jandl selbst den gütigen Richter mimt, dem die beiden anderen verwegen-forsch ihre Bekleidung zur Begutachtung aufzählen. Erst am Schluss ist eine Frauenstimmer zu hören. Sie kommentiert das "gut - nackend" wortlos mit orgiastischen Gesangsimprovisationen, und erinnert so an Hörspiele des Autorenpaares Jandl/Mayröcker wie die humanisten. Die Reduktion dieses männlichen Sprachgestus, übertragen in ein verkürztes "Gastarbeiter"-deutsch, folgt im Gedicht wie im Hörspiel einem eindeutigen Geschlechterschema. Die Männer ergehen sich in herrisch-kurzen Bestätigungen, während die Frau in diesem Sprachherrschaftsbereich nur am Rand als jammernd-jauchzendes Stimm- und Körperwesen vorkommt.
Der gebürtige Russe Valeri Scherstjanoi ist ein ausgewiesener Kenner des russischen Formalismus - einem weiteren Anfang der akustischen Literatur - und lebt seit über 20 Jahren im "nichtmuttersprachlichen" Deutschland. Die Folge: "Man bleibt im Besitz eines einzigen Schatzes, des Lautschatzes der Muttersprache." Was seinen Lautgedichten deutlich anzuhören ist! Kombinationen von "o" mit diversen, nur dem russischen Ohr vertrauten Konsonanten wandern da durch den Raum, schnupfen, niesen und husten bilden den Hintergrund für einen Singsang, von dem unsereins nicht weiß: Ist das nun ein russisches Wiegenlied oder doch wieder "scribentisch"? Scherstjanoi improvisiert die Lautgedichte seiner Vorbilder und findet einen Ausdruck für Ort und Umstände seiner jeweiligen Lebenssituation. Er trägt frei vor Publikum vor oder arbeitet mit digitalem Werkzeug im Studio. Und er hat endlich das Problem der Notation gelöst! In "scribentisch" ist jedem Zeichen genau ein Rhythmus, eine Lautverbindung, ein Geräusch, eine Intonation zugeordnet. Damit hat Scherstjanoi eine Sprache erfunden, in der all das ausgedrückt werden kann, was andere Lautpoeten nur akustisch, im eigenen Vortrag, vermitteln können. Trotzdem erübrigt er dadurch nicht den eigenen Vortrag, denn scribentisch kann nur einer lesen, schreiben und verstehen: Valeri Scherstjanoi.
Ernst Jandl: heldenplatz. Der hörverlag: wien:, ca. 90 Min, Produktion Schaubühne am Lehniner Platz 1998, 2 CD EUR 24,90
Eile mit Feile, Produktion Luchterhand Literaturverlag, München, ca. 70 Min., 1 MC, E 13,50
vom vom zum zum, Aufnahme mit Musik Wien 1988, produziert von Mathias Rüegg und Julian Schönfeld, Hörsturz Booksound, Erding, 1 CD, E 19,40
bist eulen? Aufnahme mit Musik, produziert von Mathias Rüegg und Harald Quendler, 1 CD, EUR 19,38
him hanfang war das wort, 1 CD, 51 Min., EUR 16
laut + luise und hosi + anna, 1 CD, 32 Min., EUR 16
Die Humanisten, Verlag G. Scholz, Obermichelbach, 1 CD, EUR 17,90
Raoul Hausmann: Poémes Phonetiques, Verlag G. Scholz, Obermichelbach, 1 CD, EUR 25, 05
Kurt Schwitters: Ursonate, Produktion: Hörspiel BR und WDR 1989, Vortrag Arnulf Appel, LOGO Verlag, ca. 53 Min., 1 CD, EUR 21, 47
Valeri Scherstjanoi: LautLand, Verlag G. Scholz, Obermichelbach, 1 CD, EUR 17, 90
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