Monsieur und die Wunderlampe

Legenden Vor gut 100 Jahren lernte der Schriftsteller Robert Walser auf Schloss Dambrau das Dienen. Sein Aufenthalt hinterließ größte Spuren in seinem Werk

Es ist kühl im Schloss von Dąbrowa, es ist dunkel und still. Staub legt sich auf die Haut und dringt in die Nase ein. Von den Wänden blättern ellenlange Bahnen von Tapete mit Farbresten ab, auf dem Boden liegt eine zentimeterdicke Schicht abgeplatzten Mörtels und lässt alle Gemächer und Trakte gleich aussehen.

Stühle stehen vereinzelt vor Fenstern und in Durchgängen. In den Ecken einiger Räume kauern Kachelöfen. Sie stehen auf gebogenen, grazilen Beinchen, in ihren Körpern klaffen Löcher, in die man Kohlen und Holz füllen könnte. Viele der Klappen stehen erwartungsvoll offen, aber hier heizt niemand mehr, hier wird es bitterkalt im Winter, es ist bedeutungslos. Das Schloss existiert seit Jahren nur noch für sich selbst.

Früher war das anders, da herrschte Betrieb, es brauchte Personal. 1905 wurde ein neuer Lakai eingestellt, ein Schweizer Schriftsteller, der in Berlin lebte. Im Oktober kam dieser Robert Walser nach Dambrau, er würde bis in den Dezember hinein bleiben. Kurz vorher hatte er einen sechswöchigen Kurs für Diener in Berlin besucht und sich auf die Herausforderung vorbereitet, die vor ihm lag.

Der 27-jährige Walser hatte bereits einige Gedichte in Zeitschriften und ein erstes Buch veröffentlicht, Fritz Kocher’s Aufsätze. Die letzten Jahre hatte er in der Schweiz und bei seinem Bruder Karl in Berlin verbracht. Er war nicht glücklich. Seiner Tätigkeit als Commis in häufig wechselnden Bureaus war er überdrüssig, der schlechte Verkauf der Aufsätze wird ihn zusätzlich deprimiert haben.

Der kunstsinnige Graf

Vermutlich war es sein Bruder, ein bekannter Maler und Buchillustrator, der ihn auf das Schloss Dambrau brachte. Karl Walser kannte den Grafen Konrad von Hochberg, der das Schloss am Anfang des 20. Jahrhunderts bewohnte, häufig in Berlin logierte und regelmäßig Künstler in Dambrau empfing – glaubt man dem Dorfgeplauder unten in Dąbrowa gilt der Graf bis heute nicht nur als fanatischer Kunstliebhaber, sondern als großzügiger Mäzen. Karl Walser mochte sich wohl an ihn gewandt haben mit der Bitte, seinen Bruder als Diener in Dambrau gewähren zu lassen. Robert Walser dankte es ihm gleichsam in seiner Literatur, etwa mit der Beschreibung eines kunstsinnigen Grafen in der Erzählung Tobold.

Orientierungslos irrt man durch die Räume des Schlosses, den ersten, den zweiten Stock, und tritt früher oder später in den Ballsaal. Die hölzerne Kassettendecke ist erhalten geblieben, ein Ölbild prangt in ihrer Mitte, eine dunkelhaarige Frau blickt nachdenklich nach unten in Richtung des Kamins an der Stirnseite des Saales.

Wunsch nach einer Zeitmaschine

Die Luft ist abgestanden, es gibt kein Fenster, das sich öffnen ließe. Das Schloss übt sich in Gleichgültigkeit, jeder darf für sich entscheiden, wie lange er es in der Tristesse seiner Mauern aushält.

Indes: Wenn das Herz des Schlosses heute noch schlägt, dann hier. Über dem Kamin prangt das riesenhafte Wappen des österreichischen Adelsgeschlechts der Mettich-Tschetschaus, die das Schloss im späten 16. Jahrhundert erbaut haben. Die Öfen und Kamine wurden zum Spezialgebiet von Robert Walser, sie sind ein häufiges Motiv in seiner Literatur, und auch mit diesem Exemplar im Ballsaal wird er sich eingehend beschäftigt haben: Auf dem Wappen der Familie stehen zwei Fische Kopf, in ihrer Mitte entwächst einem Ritterhelm ein Blümchen. Zusammen mit den gezwirbelten Schornsteinen und den schiefen Oval-Fenstern in der Schlossfassade drängt sich der Verdacht auf: Dieser Familie wohnte ein Sinn für das Skurrile inne.

Gegenüber vom Kamin, hinter ein paar mit Brettern verrammelten Türen, breitet sich ein Balkon aus. Presst man das Gesicht gegen ein Astloch, erkennt man einen Teich und ein Wäldchen. Die Türen wurden leider ordentlich versperrt. Man bleibt gefangen im Staub des Ballsaals, gefangen auch im Wunsch nach einer Taschenlampe oder einer Maschine, die einen in die Zeit zurücktransportieren könnte, in der sich die Türen noch öffnen ließen. Eine Zeit, in der das Schloss ein Hort war von Kunst und Kultur, Objekte sich dicht an dicht drängten, und Licht sich ergoss aus zahllosen Öllampen und peinlich genau geputzten Fenstern.

Höchstens ein wenig wunderlich

Spätestens, wenn man wiederholt auf seine eigenen Fußspuren im Staub stößt, weiß man, dass man sich auf den 3.000 Quadratmetern des Schlosses verlaufen hat. Die Planken, die man über den aufgerissenen Boden gelegt hat, knarren bei jedem Schritt. Sie führen durch endlose Zimmerfluchten, in die ab und zu ein Streifen Licht dringt, durch ein zerbrochenes Fenster oder milchiges Glas.

Der Ausblick ist die Rettung: An den Wipfeln des Parks kann man sich orientieren, an seinen Buchen, Platanen und den Blaukiefern. Der Park misst noch heute 22 Hektar, aus ihm und vom nahe gelegenen Waldrand wird in den langen Wintern das Holz für die Öfen herangeschafft worden sein, von den Förstern und Knechten, die außerhalb des Schlosses im Vorwerk wohnten. Nach Moos und Erde wird es gerochen haben, Harz wird sich in die Haut der Diener gerieben haben, die für das Heizen verantwortlich waren.

Heute wirkt der kleine Ort weiter aus der Welt gerückt als vor hundert Jahren. Damals fuhr die Bahnlinie Berlin – Krakau ab Berlin in drei Stunden in das kleine Nest mit dem großen Schloss. Wer heute auf die Idee kommt, mit dem Zug von Berlin nach Oberschlesien zu reisen, muss mindestens zweimal umsteigen und ist über acht Stunden unterwegs. Was heute polnisches Kernland ist, war zu Walsers Zeiten preußischer Regierungsbezirk, die Entscheidung, nach Dambrau zu gehen, also nicht exotisch oder abwegig – höchstens ein wenig wunderlich, also ganz dem Wesen Walsers gemäß. „Ist ein Leben ohne Sonderbarkeiten, ohne so genannte Verrücktheiten überhaupt ein Leben?“ schrieb er einmal.

Fliederlauben und dottergelbe Kleckse

Dąbrowa ist ein Ort, den es kaum gibt. Steht man vor dem Ortsschild, erkennt man am Horizont den Waldrand, eine Straßenüberführung, auf den Feldern ein paar Neubauten, in deren Vorgärten Männer Rasen mähen. Hat man Dąbrowa einmal erreicht, fragt man sich, ob man sich in seiner Reiseroute nicht geirrt hat. Im besten Fall scheint es, dass dies eine Satellitensiedlung der Stadt Opole sei, die keine zwölf Kilometer entfernt liegt. Die Straßenränder sind flankiert von Werbungen für Schindeln, Kamine, Tapeziertische, Motorsägen, Motels und Badezimmermöbel. Allerorts schießen die Schlote der Kohleförderungen in den Himmel, die Luft riecht nach ihren Dämpfen. Im Dunst, weit hinter Dąbrowas Ortsschild, lässt sich ein bewaldeter Hügel ausmachen, aus dem eine Turmspitze ragt. Man fährt noch etwa zehn Minuten um ihn und den alten Kern des Dorfes zu erreichen: Bauernhöfe reihen sich dort aneinander, eine Kirche thront an einem Abhang, und über allem, als Hintergrund, breitet sich eine Wildnis aus, in die ein kleiner Pfad führt. Die Hunde der umliegenden Höfe bellen empört, wenn man ihn findet und ins Grün entschwindet. Danach ist nichts mehr wie vorher.

Der Waldboden ist übersät mit Buschwindröschen, die Wipfel der Buchen bewegen sich im Wind. Längst hört man die Hunde nicht mehr, das Zirpen, Kieksen, Trillern der Vögel betäubt die Ohren und begleitet den Spaziergänger bis nach oben auf eine Wiese. Fliederlauben stehen dort, das Gras reicht bis zu Waden und ist über und über bekleckert mit dem Dottergelb des Löwenzahns. Im Hintergrund ergießt sich der Wald über Hügel und Mulden, das Pochen der Spechte und das Gurren der Wildtauben ist zu hören.

Hier draußen muss ein Märchenland sein, ein verzauberter Ort. Irreal sind Opole, die Schlote, die Werbeplakate, all das ist plötzlich Gerücht und unwichtig.

Nähert man sich dem Schloss auf diesem Zauberweg, ist man mit ihm allein, teilt es nicht mit Dorf und Kirche, mit der Straße und Fußgängern, die außen an ihm vorbeigehen – nähert man sich ihm von hinten, schlägt man der Zeit ein Schnippchen.

Wärmender Zauber

Greifbar nah rückt die Epoche, in der preußischer und alter österreichischer Adel in der Gegend um Oppeln 270 Schlösser bewohnt und über das Land und seine Dörfer geherrscht hat. In einem dieser Schlösser hat Anfang des 20. Jahrhunderts der Nachfahre der Tschetschau-Mettichs, Graf Hochberg, eine elaborierte Sammlung vom Antiquitäten und Kunst herangeschafft. Das Schloss von Dambrau war nicht nur von außen etwas besonderes, sondern vor allem von innen. – Während Robert Walser vom Park als einem „Zauberpark“ sprach, waren ihm die Gemächer des Schlosses „Zaubergemächer“, die er mit „Wunderlampen“ beleuchtete.

Etwas wärmender Zauber war bestimmt auch nötig. Kalt und unwirtlich wird es in jenem Herbst von 1905 in Oberschlesien gewesen sein, ein steifer Ostwind wird den Bäumen im Park die Blätter abgerissen und das Schloss in der Nacht auf eisige Temperaturen abgekühlt haben. Im Schloss selber gab es genug zu tun, um sich nicht zu langweilen, neben der Versorgung der Öfen und Lampen wischte „Monsieur Robert“, wie er im Schloss angeredet wurde, Böden, polierte Silber, klopfte Teppiche. In freien Minuten wandelte er in seiner goldbeknöpften Livree und glänzenden Lackschuhen durch die Säle, starrte ins Kaminfeuer und beobachtete den Adel. Früchte dieser Beobachtungen finden sich in zahlreichen Werken Walsers, vor allem in Jakob von Gunten und in Geschwister Tanner.

Mag Walser seine Dambrauer Zeit auch als Realisierung einer Fantasie oder als Recherche gesehen und das Schloss als einen verzauberten Ort empfunden haben: länger als in seinen Anstellungen als Commis hielt er es auch hier nicht aus. Im Dezember, in der Zeit der harschesten Schneestürme und des klirrenden Frosts, hat er, versehen mit einem guten Arbeitszeugnis, das Weite gesucht, und dieses Weite war, wie so häufig, Berlin.

Ihm wird kaum bewusst gewesen sein, dass er eine Welt kennenlernen durfte, die gut 40 Jahre später für immer verschwunden sein würde. Nach dem Krieg wurde der Adel – gleich allem Deutschen oder deutsch Scheinendem – aus Schlesien vertrieben, viele Schlösser wurden niedergebrannt oder geplündert. Was nicht zerstört war, verwahrloste.

Das Wunderliche muss bleiben!

1975 wurde der Universität von Opole das Schloss Dąbrowa überschrieben, die dort bis 1994 Weiterbildungen für Lehrer betrieb. Bald schon aber mangelte es am Geld, die Schloss-Schule wurde geschlossen, immerhin hatte man sich zeitig um Gelder für eine neue Bedachung gekümmert. Als die EU vor ein paar Jahren die Hälfte der Renovierungskosten bewilligte, versäumte man es, sich um die andere Hälfte zu bemühen, die Gelder verfielen.

Heute wirbt die Universität von Opole um private Investoren, spätestens im nächsten Jahr soll hier renoviert werden. Das Biologie-Institut soll einziehen, ein Museum, und vielleicht auch das Germanistik-Institut – benannt nach Robert Walser. Für die komplette Restaurierung des Spätrenaissance-Baus wird eine Summe von 30 Millionen Złoty benötigt, etwa 7,3 Millionen Euro.

Das wäre dann Geld genug, um die Böden zu sanieren, die Decken und die Öfen herauszuputzen, sowie die Säle mit Mobiliar und neuen Fenstern zu versehen. Aber hoffentlich ist es nicht so viel Geld, dass es das Wunderliche des Ortes und seinen Zauber vertreibt. Denn so verfallen und vergessen wie das Schloss heute daliegt, hätte es Robert Walser vermutlich am allerbesten gefallen.

Sabrina Janesz (geb. 1985), studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und Polonistik in Krakau. 2009 war sie Stadtschreiberin in Danzig, Im Herbst erscheint ihr Debütroman im Aufbau Verlag

2009 wurde in Bern das Robert-Walser-Zentrum eröffnet, das auch das Robert-Walser-Archiv umfasst. Das Zentrum dient der Aufbewahrung von Robert Walsers Nachlass und der Erforschung und Vermittlung seines Werks.

Glücklich ist ein Archiv, wenn ihm bislang unbekannte Dokumenten zufliegen. Wie vor zwei Jahren, als eine Karte auftauchte, die Karl Walser von einer Italienreise an seinen Bruder Robert sandte. Von besonderem Interesse ist die Anschrift, da sie Walsers Aufenthalt auf Schloss Dambrau bestätigt. Von dieser legendären Episode aus Walsers Biografie existieren nur wenige Zeugnisse. Nach dem Besuch einer Dienerschule im Herbst 1905 in Berlin diente er in Dambrau dem Grafen von Hochberg für einige Wochen als Lakai.

Der Dichter Walser als Diener fasziniert Leser und Forscher, weil das Dienen in seinem Werk zentral ist. Das Motiv tritt in zahlreichen Varianten auf: als Lobgesang auf untergeordnete Tätigkeiten, als kokette Unterwerfung gegenüber feinen Damen, als mutwilliges Aufgehen im Augenblick oder als blühende Fantasie herrischer Knechte. Den Schritt vom spielenden Gedanken zum wirklichen Dienertum rekapituliert Tobold, eine Erzählung Walsers von 1917. Bei Robert Walser dient indes alles, auch das Dienen selbst, nur dem einen, dem Poetenleben. (Michael Angele)

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