David wird in unserem Kampf weiterleben

Nachruf Rojava trauert um David Graeber, der sich stets für die Sache der KurdInnen stark machte, schreibt Salih Muslim, der Ex-Vorsitzende der PYD

Die Menschen in Rojava sind schockiert und traurig über den Tod von David Graeber, unseres wahren Freundes und radikalen Verteidigers der Rojava-Revolution. Mit seinen revolutionären Ideen diente David all jenen, die an eine bessere Zukunft glauben. Er war ein äußerst einflussreicher Anthropologe und ein unglaublicher öffentlicher Intellektueller, ein Denker unseres Jahrhunderts, dessen Bücher den Menschen Hoffnung gegeben haben, indem sie sehr offensiv die Schwächen von Herrschaftssystemen aufzeigten. Er erklärte die Grundursachen der Konflikte und Probleme der Welt – insbesondere Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, die ökologische Katastrophe, Ungleichheit, politisches und soziales Chaos sowie die profitorientierte Wirtschaft.

Doch David war nicht nur ein Schriftsteller, Intellektueller oder Theoretiker – er war auch ein Fürsprecher der Unterdrückten, ein politischer Aktivist, dessen Bücher die Menschen zum Kampf ermutigten. Er war ein Revolutionär und war selbst immer bei den Menschen auf der Straße. Mit seiner bescheidenen und liebenswürdigen Persönlichkeit sah er sich nicht als über dem Volk stehend, sondern als einer des Volkes.

David versicherte seinen Lesern, dass wir die Probleme der Welt überwinden können, indem wir Alternativen schaffen. In diesem Zusammenhang wies er insbesondere auf die Alternative der Rojava-Revolution in Nord- und Ostsyrien hin. Die Rojava-Revolution hat weltweit Millionen von Freunden, einer von ihnen war David. Diese Revolution setzte die Ideen von Abdullah Öcalan – für dessen Freiheit die Kurden seit 21 Jahren kämpfen – in Nord- und Ostsyrien um. Die als Demokratischer Konföderalismus bekannten Ideen Öcalans bildeten die Grundlage für die syrischen Kurden, eine demokratische Alternative in einem Zentrum des gegenwärtigen globalen Krieges zu schaffen.

Trotz des brutalen Krieges des türkischen Staates gegen uns und trotz der Weigerung der internationalen Staaten, diese Brutalität zu verurteilen, ist es uns dennoch gelungen, unsere Lösung, den Demokratischen Konföderalismus, in Nord- und Ostsyrien umzusetzen. Für diese Revolution haben wir einen hohen Preis bezahlt: Tausende von Märtyrern und Zehntausende von Verletzten. Aber der Widerstand von Millionen unseres Volkes hat uns auch Hoffnung gegeben und erhält unsere Hoffnung aufrecht.

David gewann die Herzen der KurdInnen

Die Errichtung des Kommunalismus in Rojava als eine konkrete Basisdemokratie faszinierte David Graeber. In vielen Artikeln versuchte er, westliche Intellektuelle, Aktivisten und die breite Öffentlichkeit zu motivieren, ihre Ansichten darüber, über die Völker des Nahen Ostens und insbesondere über die Kurden zu ändern. Unser demokratisches Modell, das von einer autonom organisierten Frauenbewegung geführt wird, war für David ein Schlüsselpunkt. Im Gegensatz zu dem weltweit wachsenden Rassismus und Nationalismus haben wir ein Modell des Zusammenlebens zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen entwickelt, die in unserer Region leben. Im Gegensatz zum wachsenden Sexismus hat unsere Revolution die Kraft der organisierten Frauen zur Befreiung der Gesellschaft gezeigt.

Als viele unsere heldenhaften weiblichen Kämpferinnen der YPJ nur als Kämpferinnen sahen, ging David tiefer, um den Grund für ihr Vorbild zu verstehen. Man kann sagen, dass er ein drittes Auge hatte, das in der Lage war, den Wesenskern einer Sache zu sehen.

David gehörte zu den wenigen, die ein großes Interesse an der Theorie und dem Paradigma hatten, die der Rojava-Revolution zugrunde liegen. Er beschäftigte sich eingehend mit den Schriften des kurdischen Anführers Abdullah Öcalan.

Er gewann die Herzen der Kurden vor allem deshalb, weil er sich – anders als viele westliche Denker, Intellektuelle und Linke – objektiv mit Öcalans Thesen auseinandersetzte. Und er trug dazu bei, dass die demokratische Alternative, die in Nord- und Ostsyrien umgesetzt wurde, über Syrien hinaus in der gesamten Region Wirkung zeigen würde. Nach Davids Ansicht war der demokratische Konföderalismus eine zentrale Alternative nicht nur für Nord- und Ostsyrien/Rojava, sondern auch für den gesamten Nahen Osten.

Es war auch Davids Revolution

Heute bietet der Demokratische Konföderalismus Inspiration über Kurdistan hinaus und gibt allen unterdrückten Völkern des Nahen Ostens neue Hoffnung.

Für mich und für alle Kurdinnen, die die Ehre hatten, David zu kennen und mit ihm zu arbeiten, ist es schwierig, über sein Ableben zu schreiben. Als Freund unseres Projekts werden wir ihn sehr vermissen. Er war ein natürlicher Vertreter unserer Revolution, von der wir tatsächlich sagen können, dass sie auch Davids Revolution war. Wir haben ihn als einen von uns akzeptiert.

Wir werden seine Beiträge und seine Bemühungen um die neue Hoffnung, die unsere Revolution darstellt, nie vergessen. Wir wissen, dass wir mit unserer Revolution ein kleines Stück von Davids Traum und Utopie verwirklicht haben. Wir sind glücklich, dass wir ihn glücklich machen konnten. Seine brillanten Ideen, Thesen und Alternativvorschläge werden uns noch über Generationen hinweg leiten. David Graeber wird in unserem Freiheitskampf weiterleben.

Salih Muslim war von 2010 bis 2017 Co-Vorsitzender der kurdischen Partei PYD in Syrien und ist stellvertretender Koordinator des Nationalen Koordinationskomitees für Demokratischen Wandel. David Graeber lernte er persönlich bei dessen Besuchen in Rojava kennen

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