Vor kurzem erschien in Moskau eine Sammlung von Dokumenten, und zwar in einer Reihe, die von der Internationalen Stiftung "Demokratie" unter der Gesamtredaktion des Begründers der Stiftung, des unlängst verstorbenen Alexander Jakowlew, einem bekannten Ideologen der Gorbatschowschen Perestroika, herausgegeben wird. Bei einem großen Teil der Dokumente handelt es sich um Archivmaterialien aus den Beständen des Zentralkomitees der KPdSU, die niemals nachgedruckt wurden. Gegenwärtig werden sie hauptsächlich im Russischen Staatlichen Archiv für Sozialpolitische Geschichte aufbewahrt.
Die zweitwichtigste Quelle der Dokumente ist das nicht streng wissenschaftlich geordnete Zentralarchiv des Föderativen Sicherheitsdienstes Russlands, in dem sich die Materialien des ehemaligen Staatssicherheitskomitees (KGB) der UdSSR befinden. Während der Wirren und der Desorganisation jener denkwürdigen Behörde nach dem Scheitern des August-Putsches, in dem Michail Gorbatschow unter Hausarrest stand, und dem Fall des Kommunismus im Jahre 1991 erhielt der russische Historiker G.W. Kostyrtschenko Zugang zu ihnen. Kostyrtschenko ist eine international anerkannte Kapazität in dieser Forschung. 2001 veröffentlichte der habilitierte Historiker, der am Institut für Nationale Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften arbeitet, das Standardwerk: Stalins geheime Politik: Macht und Antisemitismus.
Kostyrtschenko nutzte die Gelegenheit und machte tagelang handschriftliche Kopien, Fotokopien waren nicht erlaubt. Der "Archivsammlung des Herausgebers" entstammen auch die im Sammelband aufgenommenen Dokumente aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation (sie hatten zwar formal eine Prozedur durchlaufen, die sie zu nicht mehr als vertraulich zu behandelnden Dokumenten machte, waren aber für eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Untersuchung bisher unzugänglich). Ausgewertet wurden Dokumente des Russischen Staatlichen Archivs für Neuere Geschichte, des Zentralarchivs der Streitkräfte und andere. Das editorische Niveau des Sammelbands ist beachtlich.
Hinsichtlich ihrer Konzeption überrascht die Publikation durch ihre Datierung - der Beginn der Politik des staatlichen Antisemitismus wird dem Jahr 1938 zugeschrieben. Diejenigen, die schon alt genug waren, um diese Zeit bewusst zu erleben, versichern in Gesprächen mit dem Autor dieser Rezension einhellig: "Vor dem Krieg machte er sich nicht bemerkbar". Eine Nachfrage der Abteilung der führenden Parteiorgane des ZK der KPdSU über die "Verunreinigung" der Kader im Apparat des Volkskommissariats für Gesundheit der UdSSR (die Hälfte der Familiennamen, die darin erwähnt werden, sind jüdisch) ist im Grunde genommen das einzige Dokument, auf dem diese Datierung beruht. Deshalb scheint sie nicht so überzeugend. Ganz anders ist es mit den Jahren 1942 bis 1944, als sich geheime innerparteiliche Dokumente dieser Art häuften und ihre Wirkung spürbar wurde.
In den Kriegsjahren jedoch konnte Stalin sowohl aus innenpolitischen wie auch besonders aus internationalen Gründen die Legalisierung des latenten innerbehördlichen Antisemitismus nicht zulassen. Als der kalte Krieg die Bündnisbeziehungen zu den westlichen Demokratien ablöste, benötigte er neben dem äußeren Feind auch einen inneren. Für diese Rolle wurden gemäß einer langen russischen Tradition die Juden auserwählt.
Dutzende von Dokumenten mit dem Stempel "geheim" und "streng geheim" illustrieren die verschiedenen Etappen und Facetten der antijüdischen Politik des Regimes - die gewaltsame Auflösung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und die Vernichtung seiner Führung, die Repressionen gegen die Führer des Jüdischen Autonomen Gebiets, die Ausrottung der jiddischen Kultur und die Repressionen gegen ihre Repräsentanten, die Kampagne gegen den "heimatlosen Kosmopolitismus" und - natürlich - die all diese Aktionen begleitenden Säuberungen unter den Kadern des staatlichen Apparats, der Wirtschaft, der Kultur und des Gesundheitswesens.
Die Dokumente zeigen die Eigenart des kommunistischen Antisemitismus - seinen unterschwelligen Charakter, seine Heimlichkeit, seine Dosiertheit, seine Tarnung durch internationalistische Rhetorik. Die Säuberungen der Kader wurden durch mündliche Direktiven von oben angeordnet, die persönlich oder telefonisch weitergegeben wurden. Das Einvernehmen in den Reihen der Nomenklatur erlaubte es, sich auf ein Stichwort zu beschränken: "Na, du weißt schon, worum es geht".
Die Materialien des Sammelbands zeichnen die Wechselwirkung zwischen der Politik der Regierungsspitze und der spontanen Judophobie der breiten Massen, ebenso aber auch die Proteste gegen diese Politik. Die letzteren sind in der Sammlung mit drei Dokumenten vertreten: Es handelt sich um einen anonymen Brief an die sowjetische Führung von einem "russischen Intellektuellen", einen Brief an Stalin von dem bekannten Wissenschaftler Nikolay Gamaleja und einen jüdischen, ebenfalls unterzeichneten Brief an das Politbüromitglied Lavrentiy Berija.
Die antijüdische Kampagne erreichte ihren Höhepunkt in Stalins letzten Lebensmonaten, zur Zeit der von ihm initiierten "Affäre der Kremlärzte". Diese Gruppe, die sich aus führenden Medizinern überwiegend jüdischer Herkunft zusammensetzte, hatte sich angeblich zum Ziel gesetzt, durch "Fehlbehandlungen" das Leben führender sowjetischer Parteifunktionäre und Militärs zu verkürzen - gemäß dem Auftrag amerikanischer und britischer Geheimdienste. Bereitete Stalin die nächste Welle eines "großen Terrors" und/oder eine Massendeportation der Juden vor? Dokumentarische Beweise dafür gab und gibt es nicht. Vielleicht deshalb, weil die Lebenszeit des in Wahnvorstellungen verfallenen Diktators dem Ende entgegen ging.
Übersetzung aus dem Russischen: Inge Grieshammer
Gosudarstwennyi antisemitism w SSSR. Ot natschala do kulminatsi (Staatlicher Antisemitismus in der UdSSR. Von den Anfängen bis zum Höhepunkt), 1938-1953. Hrsg. von G.W. Kostyrtschenko. Verlag Materik, Moskau 2005, 592 S.
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