Krise Eigentlich schreit alles nach sozial-ökologischer Politik. Eigentlich. Für einen echten Aufbruch bräuchte es ein gesellschaftliches Gegenprojekt zum Neoliberalismus
Demonstrieren war undenkbar – für eine handvoll Wochen. Jetzt ist es undenkbar, nicht zu demonstrieren. Die Black Lives Matter-Proteste haben die gesellschaftliche Debatte noch im Lockdown über das Virus hinaus auf weiterhin drängende Themen wie Rassismus, Diskriminierung und Polizeigewalt gelenkt – und knüpfen damit an Kämpfe an, die vor der Pandemie auf der Straße lagen. Eine Menschenkette des unteilbar-Bündnisses unter dem Motto „#SoGehtSolidarisch“ kann als weiterer Versuch gewertet werden, nach Wochen der wenig durchschlagkräftigen Online-Demonstrationen wieder den Schritt auf die Straße zu wagen. Und auch die Klimabewegung meldet sich zurück und versucht, an ihre Erfolge des Vorjahres anzuknüpfen.
Doch in d
en.Doch in der Pandemie ist einiges anders als vorher. Nicht nur, weil die Grundrechtseinschränkungen das Demonstrationsrecht zwischenzeitlich infrage stellten und körperlich naher Proteste sich auch zukünftig durch das unabsehbare Infektionsgeschehen infrage stellen müssen. Sondern auch, weil die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie sowie die Krankheit selbst einen neuen Blick auf das gesellschaftliche Ganze ermöglichen: Welche Alternative gibt es zum Markt, der im Gesundheitssystem und bei der Vorbeugung der Pandemie offensichtlich versagt hat? Wofür sollten die Rettungsmilliarden ausgegeben werden? Und wer zahlt für die Kosten der Krise, und wer trägt ihre Lasten? Mit anderen Worten: Die Verteilungsfrage – und mit ihr die Frage nach einer Alternative zum Neoliberalismus – ist zurück. Nun wird es darauf ankommen, ob soziale Bewegungen sich trauen, auf diese Frage eine Antwort zu geben.Was haben die Demonstrationen der letzten Jahre erreicht?Was die sozialen Bewegungen im letzten Jahr an politischer Agenda vorgelegt haben, kann sich sehen lassen. 1,4 Millionen Menschen folgten in Deutschland am 20.9.2019 dem Aufruf der Bewegung Fridays for Future zum Kimastreik. Dennoch wurde am selben Tag ein durchweg enttäuschendes Klimapaket auf den Weg gebracht. Selbst wenn die These stimmen sollte, dass eine „Abwrackprämie 2.0“ vor allem durch die starke Klimabewegung verhindert wurde: Von einer Klimapolitik, die dem Ernst der Lage gerecht wird, sind wir trotz starker Bewegung noch meilenweit entfernt.Die von Black Lives Matter auch hierzulande erzwungenen Diskussionen zur Umstrukturierung der Polizei sind bislang ebenfalls folgenlos geblieben. Es brauchte nicht viel, um von Rechtsextremismus und Rassismus in der Polizei abzulenken: Ein paar Nebelkerzen rund um eine scharf polizeikritische Kolumne sowie die vermeintlichen „Riots“ in Stuttgart reichten aus.Dabei hatten auch hier soziale Bewegungen einiges an Aufklärungsarbeit geleistet: Gegen die Polizeigesetze auf Landesebene, die die Macht der Polizei massiv ausweiteten und präventive Ingewahrsamnahmen ohne richterlichen Beschluss ermöglichten, gingen im Jahr 2018 in Bayern und Nordreinwestfahlen Zehntausende auf die Straße. Bei der ausgehetzt-Demo vor der bayrischen Landtagswahl protestierten 50.000 Menschen gegen die „Politik der Angst“ – bei der Demonstration von unteilbar wenige Wochen später in Berlin waren es eine viertel Million.Ähnlich viele hatten sich zuletzt bei den Anti-TTIP-Protesten im Jahr 2015 versammelt. Bei den Protesten gegen die europäische Sparpolitik in den Jahren zuvor demonstrierten regelmäßig Zehntausende. Doch all diese beachtlichen Mobilisierungserfolge führten nicht zu einer Umkehr in der Wirtschaftspolitik. Die Finanzmärkte blieben unangetastet, ebenso wie Steuern auf Unternehmensgewinne, hohe Einkommen und Vermögen. Die Schwarze Null und die Austeritätspolitik – wie tödlich sie war, zeigt sich in den Auswirkungen der Pandemie in Südeuropa – blieben Staatsdoktrin. Und TTIP wurde nicht durch den internationalen Wiederstand beerdigt, sondern durch den Wahlsieg Donald Trumps.Die Corona-Pandemie könnte nun ein „Game-Changer“ sein. Die schwarze Null und Verschuldungsregeln in der EU wurden temporär ausgesetzt, die massive Staatsverschuldung stellt die Frage nach deren Finanzierung und entkräftigt zugleich das Argument, dass „kein Geld da ist“. Wohlgemerkt: könnte.Ein gesellschaftlicher Wahlkampf?Denn weder kündigt sich derzeit eine neue Bewegung gegen den Neoliberalismus an, noch wären neue Demonstrationen für sich genommen ausreichend, um ein progressives Projekt in die Offensive zu bringen. Denn es fehlt zum einen eine greifbare und zugleich den Problemen der Gegenwart angemessene Politikalternative. Zum anderen fehlt eine Strategie, mit der diese Alternative gegen die Macht der etablierten Politik und der deutschen Großkonzerne durchgesetzt werden kann. Auf Grün-Rot-Rot zu hoffen, wäre fatal. Die Scholz-SPD wird sich in der Post-Merkel-Ära absehbar nicht grundlegend erneuern, während die Grünen sich an der Union zu orientieren scheinen, um einen grünen Kapitalismus zu gestalten.Eine post-neoliberale Agenda für ein dauerhaftes Ende der Schwarzen Null, radikale Umverteilung, massive Investitionen und transformativer Klimapolitik bei gleichzeitiger Vergesellschaftung verschiedener Wirtschaftsbereiche kann nur dann wirkmächtig werden, wenn diese Position aus der Zivilgesellschaft und aus sozialen Bewegungen heraus entwickelt und mit gesellschaftlichem Druck verknüpft wird. Die gesellschaftliche Linke könnte dabei als Zugpferd dienen – müsste jedoch eng mit Gewerkschaften arbeiten und an konkrete Arbeitskämpfe anknüpfen. Die Tarifrunden im öffentlichen Nahverkehr und öffentlichen Dienst böten hierfür Anlässe. Auch die Bundestagswahl im Jahr 2021 könnte eine Möglichkeit bieten, im Zuge eines „gesellschaftlichen Wahlkampfs“ für eine Abkehr vom Neoliberalismus zu streiten.Insgesamt müsste es darum gehen, die Mobilisierungserfolge der vergangenen Jahre stärker aufeinander zu beziehen und im Kontext der anstehenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – wie den Tarifrunden oder der Bundestagswahl – mit einer Vision für eine sozial-ökologische Wende zu verbinden.Zeit für den Post-Corona-DealSoziale Bewegungen und insbesondere Gewerkschaften tun sich jedoch schwer damit, neben themen-spezifischen Ein-Punkt-Forderungen und reaktivem Protest auch pro-aktiv für ein gesellschaftliches Gegenprojekt einzutreten. Zu groß ist die Angst, im Bündnis mit anderen die Kontrolle über die eigene Organisation oder das eigene Label zu verlieren. Doch das Fehlen einer belastbaren Alternative, die die etablierte Politik unter Rechtfertigungsdruck setzt, indem sie die soziale und ökologische Frage sowie radikale und reformerische Elemente miteinander verbindet, hat zur Folge, dass die einzelnen Kämpfe sich nicht gegenseitig stärken. Ein Bewegungszyklus folgt auf den nächsten, doch es gibt keine übergeordnete politische Stoßrichtung, auf die gemeinsam hingearbeitet wird. Dabei läge der Post-Corona-Deal auf der Hand: Seite an Seite mit Beschäftigten müsste vor dem Hintergrund der Corona- und Klimakrise eine Kehrtwende in der Gesundheits- und Verkehrspolitik eingeleitet werden – verknüpft mit historisch unübertroffenen Investitionssummen zum Umbau der Ökonomie. Bei so einem „Konjunkturprogramm von unten“ werden zwar bestimmte (öffentliche) Wirtschaftsbereiche gestärkt, andere jedoch im Sinne des „Postwachstums“ planvoll heruntergefahren und transformiert. Dabei müsste der Mehrheit der Menschen vermittelt werden, dass es um eine Verbesserung ihrer Lebensumstände geht, etwa durch billige und gute Transportmöglichkeiten – auch international ohne zu fliegen –, eine gute gesundheitliche Versorgungen, gute und bezahlbare Lebensmittel, niedrige Mieten und mehr Wohnraum, mehr Gehalt und soziale Absicherung, weniger Arbeitszeit, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Mitsprache am Arbeitsplatz. Anstatt „sozial-ökologische Transformation“ als inhaltsleeres Schreckgespenst mit „Wir-müssen-den-Gürtel-enger-schnallen“-Rhetorik zu verkaufen, bräuchte es eine Vision für die demokratische Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums und der gewaltigen Produktivkräfte der heutigen (digitalen) Ökonomie. Es gibt eine Mehrheit in Deutschland für eine sozial-ökologische Modernisierung der Wirtschaft. Und es gibt die reale Chance, diese Mehrheit in ein alternatives Hegemonieprojekt einzubinden, bei dem es letztlich um den Aufbau eines post-kapitalistischen Wirtschaftssystems geht. An dieser Stelle müsste ein Post-Corona-Deal über den vielfach diskutierten „Green-New-Deal“ hinausgehen: Er müsste sowohl für breite Bevölkerungsschichten greifbarer als auch weitreichender sein, um wirklich wirkmächtig zu werden.Finanziert werden können all diese Umstrukturierungen einerseits mit sozialer Umverteilung: etwa durch Erbschafts- und Vermögenssteuern, höhere Steuern auf Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen, Vermögensabgaben und ein hartes Vorgehen gegen Steuerflucht. Andererseits ist es an Zeit, am Dogma der vermeintlich unpolitischen Zentralbank zu rütteln. Nachdem nun seit über zehn Jahren Zentralbanken mit dem sogenannten „Quantitative Easing“ direkt Geld in die Wirtschaft pumpen, um notleidenden Banken, Unternehmen und – zu harten Konditionen – auch Regierungen unter die Arme zu greifen, ist das Paradigma der „neutralen“ Zentralbank unhaltbar geworden. Eine Gesellschaft kann, sofern sie die realen Ressourcen dafür hat und die Ökonomie nicht überhitzt, durch die Zentralbank Wirtschaftstätigkeiten finanzieren, ohne in Staatspleite und Inflation abzurutschen. Der Post-Corona-Deal wäre bereits ein Schritt hin zu einer demokratischen Wirtschaftsplanung, da durch Investitionen „aus dem Nichts“ durch die Zentralbank politisch entschieden würde, worin investiert wird – und worin nicht.Linke Sammlungsbewegung?Wie stehen die Chancen für einen linken Aufbruch? Wenn alle so weiter machen wie bisher – die themenfeldspezifischen Bewegungsgruppen, die primär an der Verteidigung des Bestehenden interessierten Gewerkschaften und die in der Wahlkampf-Logik verhafteten Parteien – dann stehen die Chancen gut, dass in zwei, drei Jahren wieder davon die Rede sein wird, dass eine weitere Krise verschwendet wurde.Die sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen sollten damit vorangehen, einen Post-Corona-Deal zu formulieren und den Gewerkschaften und Parteiorganisationen eine Einladung auszusprechen, sich anzuschließen. Das wäre so etwas wie eine „linke Sammlungsbewegung“, die den Namen auch wirklich verdient. Um der Machtlosigkeit nur einer weiteren Großdemonstration zu entkommen, sind neue politische Formen notwendig. Wie kann im Kontext von Tarifrunden und Arbeitskämpfen eine sinnvolle Unterstützung seitens der Zivilgesellschaft aussehen, um so etwas wie einen „politischen Streik“ aus der Gesellschaft heraus zu entwickeln? Und wie kann dadurch gesellschaftlicher Rückhalt aufgebaut werden, um mittelfristig auch wieder „echte“ politische Streiks der Gewerkschaften zu ermöglichen, deren vermeintliche Illegalität schon lange angezweifelt wird? Können sich Demonstrationen – in Zeiten einer Pandemie – weiterentwickeln, um im Sinne „legitimer Massenaktionen“ im urbanen Raum eine Form des zivilen Ungehorsams zu entwickeln, an der sich noch viel mehr Menschen beteiligen können und die zugleich mehr Druck erzeugen als die klassischen, angemeldeten Demonstrationszüge?Von den Antworten auf diesen Fragen und der inhaltlichen Bestimmung eines Post-Corona-Deals wird es abhängen, ob das neoliberale Paradigma ernsthaft in Gefahr gebracht werden kann.
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