"Sexualität ist der Schlüssel"

Selbstbestimmt Seit den politischen Revolutionen in den arabischen Ländern ist dort auch das Liebesleben im Umbruch. Shereen El Feki hat ein Buch darüber geschrieben
"Sexualität ist der Schlüssel"

Foto: Patrick Baz / AFP / Getty

Der Freitag: Frau El Feki, zu Beginn des Arabischen Frühlings haben Frauen und Männer gemeinsam auf dem Tahrir-Platz demonstriert. Jetzt sind Frauen dort vor sexuellen Übergriffen nicht sicher. Was ist passiert?

Shereen El Feki: Es ist schwer zu sagen, wer genau dahintersteckt. Man kann aber annehmen, dass diese sexuellen Übergriffe politisch motiviert sind. Sie sind ein Mittel, um größtmöglichen Schaden anzurichten. Die Gewalt gegen Frauen in Kairo ist erschreckend, aber leider nicht überraschend, denn sie ereignet sich vor dem Hintergrund einer ohnehin weitverbreiteten und zunehmend gut dokumentierten sexuellen Übergriffigkeit.

Wie lässt sich diese erklären?

Sexuelle Gewalt ist eine mächtige Waffe, überall auf der Welt, auch im arabischen Raum. Sie wird zur Demütigung eingesetzt, zum Beispiel bei der Vergewaltigung von männlichen politischen Gefangenen. Wenn man Frauen angreift, gilt die Demütigung allerdings nicht nur den Frauen, sondern auch ihren männlichen Familienmitgliedern. Es geht um die kollektive Ehre, und das schließt die Ehre der Männer ein.

Wer hätte dafür ein Motiv?

Zum Beispiel islamische Konservative, die finden, dass Frauen nicht in die Öffentlichkeit gehören. Der effektivste Weg, sie wieder von der Straße zu verbannen, ist, sie sexuell einzuschüchtern. Die Demonstrierenden sehen dann unzivilisiert aus, ihr Platz in der neuen politischen Ordnung ist in Gefahr. Einige Elemente der politischen Opposition könnten aber auch Gründe haben. Wer der Regierung schaden will, zeigt mit Vergewaltigungen, dass die Straßen unsicher sind und die Politik nicht funktioniert.

Das hört sich an, als könnten Frauen dabei nur verlieren.

Die Berichte sind verstörend, aber sie zeigen auch eine positive Entwicklung. Früher war sexuelle Belästigung eine persönliche Schande, niemand hat darüber geredet. Heute gehen die Frauen ins Fernsehen und sagen: Ich bin sexuell angegriffen worden, tut etwas dagegen. Ich habe ein Recht als Frau, auf dem Tahrir-Platz zu demonstrieren.

Sind das Einzelkämpferinnen?

Sie bekommen viel Unterstützung. Mitte Februar gab es in Kairo und vor ägyptischen Botschaften Protestmärsche gegen die Gewalt an Frauen. Es gibt Netzwerke und Hilfsprojekte für die Betroffenen, zunehmend auch mit Beteiligung von Männern. Allerdings finde ich es wichtig, nicht nur über sexuelle Gewalt zu reden, sondern über alle Bereiche von Sexualität. Für mich ist Sexualität ein Schlüssel, um politische, ökonomische und soziale Veränderungen zu verstehen.

Was meinen Sie damit?

Die Proteste haben Autoritäten in allen möglichen Bereichen herausgefordert: in der Politik natürlich – und da durch den politischen Islam die Politik mit Religion in Verbindung steht, fragen sich die Menschen zunehmend nach der Rolle des Islams im öffentlichen Leben. Wenn man jetzt nach vorn schaut, ist es wichtig, dass wir in allen Bereichen mehr Mitbestimmung erreichen, auch in der Sexualität, die nach politischer Macht und Religion das dritte unangerührte Tabu war. Es ist nichts, was wir auf später verschieben können. Die Geschlechterfrage kann man nicht von der Revolution trennen. Die Ziele der Gleichberechtigung und Verantwortung gelten auch im persönlichen und sexuellen Leben.

Um die sexuelle Kultur zu untersuchen, haben Sie fünf Jahre lang arabische Länder bereist. Hat Sie dabei etwas überrascht?

Ich war erstaunt, wie offen die Menschen mit mir geredet haben. Ich habe viele getroffen, die sich für sexuelle Aufklärung einsetzen. Es gibt Projekte für unverheiratete Mütter, für Sexarbeiter oder für Menschen, die außerhalb heterosexueller Normen leben.

Wie arbeiten Aktivisten in einem Klima sexueller Tabus?

Fasziniert hat mich die Methode von Safa Tamish, einer Palästinenserin, die Jugendliche in arabischen Schulen in Israel sexuell aufklärt. Man kann die israelischen Lehrpläne nicht einfach übernehmen, weil Eltern fürchten, dass ihre Kinder Sex haben, wenn sie zu viel wissen. Tamish fragt die Schüler lediglich: „Was möchtet ihr über die Pubertät erfahren?“ Die Schüler schreiben alles auf: Verhütung, Selbstbefriedigung, Liebe, Sex. Wenn Tamish den Eltern die Ergebnisse zeigt, ist Aufklärung keine Frage von Ja oder Nein. Dann heißt es: Was machen wir jetzt? Oft wollen die Eltern selbst geschult werden.

Wäre das Modell auch in Ägypten möglich?

Ja, wenn Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und andere demokratische Strukturen gegeben sind. Tamishs Kurse sind auch in Ägypten relevant, weil sie sich auf die arabische Kultur insgesamt beziehen. Manche Frauen erfahren erst hier, dass es arabische Bezeichnungen für die weiblichen Genitalien gibt. Diese sind oft so schambesetzt, dass sie nicht einmal benannt wurden.

Sie schreiben viel über die Unterdrückung weiblicher Lust in der arabischen Kultur. Selbst in der Ehe müssen Frauen ihr Begehren verbergen. Woher kommt dieser Frauenhass?

Da würde ich widersprechen. Es ist nicht so sehr Hass auf weibliche Lust, als vielmehr Angst vor ihr. Historisch gesehen wird in der islamischen und arabischen Kultur die weibliche Sexualität gefeiert. Sie ist sogar kraftvoller als die männliche Lust. Der Prophet Mohammed betont, wie wichtig es ist, die Ehefrau sexuell zu befriedigen.

Trotzdem sind 90 Prozent der Ägypterinnen genital verstümmelt und haben kaum sexuelle Rechte.

Mit solchen Aussagen muss man vorsichtig sein. Ägyptische Frauen sehen weibliche Genitalverstümmelung durchaus als ihr Recht an. Als das Mubarak-Regime die Beschneidung verbot, sahen Mütter und Großmütter ihr Recht, so zu handeln, wie sie es für ihre Töchter richtig finden, eingeschränkt. Frauen bestimmen vieles selbst, auch wenn es für den Westen nicht immer so aussieht. Eine wichtige Rolle bei der Abschaffung weiblicher Genitalverstümmelung spielen Initiativen, die Frauen als Entscheiderinnen erkennen und sie mit akkuraten Informationen versorgen.

Die strengen Regeln für Frauen scheinen sich vor dem Hintergrund westlicher Werte noch zu verschärfen. Welche Rolle spielt der Westen für die Sexualmoral in der arabischen Welt?

Es gibt unterschiedliche Einflüsse. Pornografie bestätigt viele darin, dass weibliche Beschneidung richtig ist. Die unbeschnittenen Frauen, die man dort sieht, scheinen sexuell unersättlich zu sein. Ähnlich ist es beim Thema Sex vor der Ehe. Ich habe geschiedene Frauen gefragt: „Wäre es nicht einfacher, wenn ihr wüsstet, worauf ihr euch einlasst?“ Sie haben mit einem arabischen Sprichwort geantwortet: „Die Ehe ist wie eine Wassermelone: Man weiß erst, wie gut sie ist, wenn man sich dafür entscheidet.“ Ehe ist für sie der Schlüssel zum Erfolg. Natürlich gibt es jüngere Frauen, die Sex haben. Aber die meisten haben gesagt: Das ist nicht die Freiheit, die wir uns wünschen.

Halten sie auch etwas aus dem Westen für nachahmenswert?

Ja, sie wünschen sich die Gleichberechtigung, die sie in westlichen Ehen sehen. Sie möchten ihr Begehren ausdrücken und wollen, dass ihr Mann darauf eingeht. Sie wünschen sich Zusammenhalt und mehr Romantik.

Wird der westliche Einfluss also überschätzt?

Es ist nicht so, dass junge Menschen in der arabischen Region nicht wüssten, was es alles gibt. Wir leben im Informationszeitalter, viele haben Internetzugang und sehen Filme. Wenn sie sich trotzdem entscheiden, ein anderes Sexleben zu führen, geschieht das bewusst. Diejenigen, die im Bereich sexueller Aufklärung arbeiten, müssen jungen Menschen dabei helfen, ihren eigenen kulturellen Umgang mit Sex zu finden.

Und was wird aus der arabischen „sexuellen Revolution“?

Das Wichtigste ist, dass junge Frauen und Männer gemeinsam gegen die Gewalt protestieren, die mit Sexualität verbunden ist. Viele Frauen haben angefangen, sexuelle Regeln infrage zu stellen. Die Herausforderung ist jetzt: Wie können wir die Männer mitnehmen? Wir werden nicht vorankommen, wenn wir nicht wissen, wie Männer sich fühlen, was sie wollen und was sie zu dem Wandel beitragen können.

Das Gespräch führte Sarah Schaschek

Shereen El Feki wuchs als Tochter eines Ägypters und einer Britin in Kanada auf, promovierte in Medizin und war stellvertretende Vorsitzende der von der UN eingesetzten Global Commission on HIV and the Law. Als Journalistin arbeitete sie für Al-Dschasira und den Economist. Ihr Buch Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt ist gerade bei Hanser Berlin erschienen.

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 9/13 vom 28.02.20013

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