Wollen wir Chancen zur Reform ergreifen, müssen wir zuallererst fragen: was wollen wir erreichen? Was einfach erscheinen mag, verlangt Offenheit für Unbekanntes - Besinnung darauf, was wir wollen, ist notwendig. Dies wird besonders deutlich an den Reformversuchen, die bislang unternommen worden sind. Sie gleichen einem Aktionismus, der zwar langfristige Lösungen beabsichtigt, zu kurzfristigen Lösungen jedoch gegriffen hat.
Eines scheint in der Debatte unumstritten: Auf jeden Fall muss die Autonomie der Bürger gestärkt, ihnen Verantwortung zurückgegeben werden, wo sie diese übernehmen können, ohne ihre Integrität zu gefährden. Nicht die Marktteilnehmer tragen unser Gemeinwesen, sondern die Bürger - das ist entscheidend. Reformen müssen also die Bürger stärken.
Doch wie kann das geschehen? Wir meinen: nur durch ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürger - ein "Bürger"-Einkommen, es ist utopisch und realistisch zugleich. Jeder Bürger sollte es erhalten, Kinder wie Erwachsene, von der Wiege bis zur Bahre. Es sollte so hoch als möglich sein, denn je höher es wäre, desto mehr Freiheit eröffnete es. Es sollte immer ausgezahlt werden, ein von jeglicher Leistung unabhängiges Einkommen, das die Bürger als Bürger anerkennte. Das würde jedem Sicherheit verleihen, aber nur in der Höhe eines Grundeinkommens. Eltern würden treuhänderisch das Grundeinkommen ihrer Kinder zum Wohl der Familie einsetzen - bis zur Volljährigkeit.
Das Grundeinkommen sollte steuerfrei sein, besteuert würden erst Einkommen aus Arbeit, Kapital, Immobilien et cetera. Welche Art indirekter Steuern noch in Erwägung gezogen, welche abgeschafft werden sollten, wäre zu überdenken.
"Aber wer arbeitet dann noch? Und wer erledigt die Tätigkeiten, die nicht sehr attraktiv, aber doch unerlässlich sind?" - so die Einwände. Erwerbsarbeit würde es weiterhin geben und alle, die dies jetzt schon aus Hingabe an eine Sache tun, sich mit ihr identifizieren, würden noch in ihrem Interesse bestärkt. Sie sind wahrscheinlich auch diejenigen, die schon heute Neuerungen hervorbringen. Doch werden sie dies nicht mehr unter allen Bedingungen tun müssen. Auch dort, wo einfachere Tätigkeiten verlässlich und gewissenhaft verrichtet werden müssen, hätten die Freiheit, schlechte Arbeitsbedingungen abzulehnen - sie müssten sich nicht um jeden Preis verdingen.
Jugendliche wären von dem gemeinschaftlichen Druck befreit, der gegenwärtig herrscht. Sie müssen die gegenwärtigen Debatten und Entscheidungen für besonders widersprüchlich halten. Einerseits sollen sie einen Beruf ergreifen. Andererseits machen sie die Erfahrung, dass menschliche Arbeitskraft in vielen Bereichen ersetzbar geworden ist. Aus Angst, den Erwartungen nicht zu entsprechen, greifen manche zum Naheliegendsten, nicht aber zu dem, wofür sie sich interessieren. Halten wir an dieser Politik fest, verschwenden wir unsere Zukunft, die Jugend, statt ihr die Freiheit zur Entscheidung zu geben.
Wo menschliche Arbeitskraft unersetzlich ist, erführe sie durch das Grundeinkommen eine Aufwertung, aber nicht nur das: die Bürger, als Arbeitnehmer, erhielten Verhandlungsmacht. Sie müssen nicht ihre Integrität, ihre Autonomie, aufs Spiel setzen, um ein Einkommen zu erzielen. Wir zwingen schon heute niemanden, einen bestimmten Beruf zu ergreifen. Auch wer zum Beispiel bei der Müllabfuhr arbeitet, macht dies freiwillig, er hat sich dafür entschieden. Findet sich niemand, der eine solche Tätigkeit ergreift, wird es der Markt richten müssen: höhere Bezahlung eventuell, bessere Arbeitsbedingungen. Falls das nichts hilft, müssen wir eine andere Lösung finden, gegebenenfalls es selbst in die Hand nehmen.
Der Aufschrei - wo soll das hinführen? - ist schon jetzt zu vernehmen, doch alternativ zu dieser Freiheit könnten wir die Bürger nur zwingen. Wir wären also wieder dort, wo Hartz IV uns beinahe hinführt - Zwang zu Arbeit, Arbeitszwang: also Zwangsarbeit. Eine Lösung? Nur für Zyniker, nicht aber für uns, die Bürger unseres Gemeinwesens.
Intrinsische Motivierung ist die Voraussetzung jeglicher Kultur der Neuerung. Bereitschaft zur Hingabe besteht dort, wo sich der Einzelne mit seiner Tätigkeit identifiziert, wo sie eine Herausforderung darstellt, ganz gleich ob im Beruf, dem bürgerschaftlichen Engagement oder der Familie. Eine solche Herausforderung liegt dann nicht mehr vor, wenn ein Automat die Arbeit verrichten kann. Die Bereitschaft dazu wird zerstört, wo Bürger gezwungen werden, sich zu engagieren. Gerade in Bereichen, die vom freiwilligen Engagement für das Gemeinwesen leben, wollen manche dasselbe zu einer Verpflichtung erheben - auch Helga Uhlenhut. Bei allem politischem Freigeist, der ihren Ausführungen innewohnt, woher rührt das Misstrauen? Ihre Überlegungen zum "Bürgeranteil" setzen eigentlich auf die Verantwortung des Einzelnen, seine Bereitschaft, einen Beitrag zu leisten. Doch ein Rest an Misstrauen wohnt ihren Ausführungen inne. Ganz bedingungslos könne der Bürgeranteil doch nicht sein, kommunales Engagement müsse dem Einzelnen abverlangt werden. Weshalb?
Die "schöpferische Zerstörung" der vergangenen Jahrzehnte eröffnet uns Automatisierungsmöglichkeiten in einem Umfang, wie es früher unvorstellbar gewesen ist. Wir stehen heute also vor den Erfolgen der vergangenen Jahrzehnte, dazu gehört auch die Arbeitslosigkeit. Wir wollen jedoch bislang daraus keine Konsequenzen ziehen. Automatisierbare Tätigkeiten sollten automatisiert werden. Statt Unternehmen zu kritisieren, sollten wir sie durch entsprechende Reformen dazu ermuntern. Ihre Aufgabe ist es nicht, Arbeitsplätze zu schaffen, sondern Werte zu erzeugen, von denen unser Gemeinwesen abschöpfen kann. Wohlstand bedeutet doch nicht: zu arbeiten, sondern frei zu entscheiden, wie man seinen Beitrag zum Wohl unseres Gemeinwesens leisten will.
Statt zu diese Möglichkeiten ins Auge zu fassen, werden die Auseinandersetzungen um Reformen in unserem Land von Skepsis und Misstrauen bestimmt. Auch manche Verfechter des Grundeinkommens scheinen nicht frei davon. Wenn Michael Opielka an dieser Stelle davon gesprochen hat, dass "vermutlich ... die schlagartige Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens nicht einmal wünschenswert" sei, wie anders könnte dies begründet werden, als mit Skepsis, die letztlich Skepsis dem Einzelnen gegenüber ist. Denn die Chancen eines Grundeinkommens stehen und fallen mit einer öffentlichen Diskussion, da die Parteien sich bislang der Idee verweigern. Solange nicht für ein bedingungsloses Grundeinkommen gestritten wird, es keine Auseinandersetzung öffentlich gibt, ist es ein Leichtes - wie Opielka es tut - zu behaupten, die "Bürger im allgemeinen und die Eliten insbesondere" seien schwer zu überzeugen.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert unsere Werteordnung heraus. Ob die Bürger dazu bereit sind, werden wir erst wissen, wenn es eine solche Debatte gegeben hat. Was pragmatisch erscheinen mag, nämlich die radikale Idee nicht zu verfolgen und vermeintlich naheliegende Wege vorzuziehen, kann große Schritte genauso verhindern und bestehende Probleme festschreiben. Weshalb nicht sogleich aufs Ganze setzen, damit langfristige Wege eröffnen, statt uns mit Mittelwegen zu beschäftigen? Uns fehlt es nicht an kurzfristigen Überlegungen, sondern an langfristigen.
"Wie hoch soll das Grundeinkommen denn sein?" Eine allzu verständliche Frage, doch Angaben über die Höhe eines Grundeinkommens leiden heute unter einem einfachen Problem: die Kaufkraft des Einkommens gilt nach gegenwärtigen Preisen. Wenn das Grundeinkommen aber unser Wertgefüge wandelt, dann wandelt sich auch die Wertschätzung bestimmter Güter und Dienstleistungen. Nicht nur steht zu vermuten, dass manche Güter vom Markt verschwänden, andere würden stärker nachgefragt. Doch können wir dies lediglich vermuten, keine verlässliche Auskunft über reale Entwicklungen geben, wären wir sonst Hellseher.
Vor allem aber ist die gewünschte Höhe des Grundeinkommens nicht durch Expertise zu bestimmen. Experten können allenfalls einschätzen, ob gewollte Höhen realisierbar wären, nicht aber, ob sie gewollt sind. Dazu muss über die Höhe zuerst einmal gestritten werden, sie hängt also wesentlich davon ab, wie hoch es nach unserem Dafürhalten sein soll. Rechenmodelle dürfen politische Gestaltung nicht ersetzen, wie man gegenwärtig oft den Eindruck gewinnen kann.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde uns - die Bürger - anerkennen. Es würde uns darin anerkennen, das Fundament unseres Gemeinwesens zu sein. Wir sind Erbe dessen, was Generationen vor uns hervorgebracht und erarbeitet haben - ein Gut aller und damit ein Gut der Bürger. Dieser Wohlstand erlaubt es, allen Bürgern ein bedingungsloses Grundeinkommen zu gewähren, das an die Stelle gegenwärtiger Sozialleistungen träte. Es bedürfte keiner Arbeits- und Sozialämter alter Gestalt mehr. Vertrauen, nicht Misstrauen in die Bereitschaft der Bürger, ihren Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, würde unsere politische Ordnung prägen. Sie würde es ermöglichen, sich für eine Tätigkeit jenseits der Erwerbsarbeit so selbstverständlich zu entscheiden, wie es heute nur für Erwerbsarbeit gilt.
Die Freiheit, die das bedingungslose Grundeinkommen eröffnete, könnte für Sinnvolles genutzt werden. Eltern könnten gleichermaßen für ihre Kinder sorgen, mehr Zeit mit ihnen verbringen als heute. Eine Familie könnte sich, so unsere Vision, damit unterhalten, und zwar nicht auf dem gegenwärtigen Sozialhilfeniveau. Existenzsorgen würden verschwinden und die Familien würde gestärkt. Den Vätern stünde es frei, mehr Zeit für ihre Kinder aufzuwenden, gerade dann, wenn sie am meisten benötigt werden.
Neuerungen müßig zu entwickeln, wäre selbstverständlich und nicht mit dem Makel der Spinnerei versehen. Auch wären sie nicht zu früh schon vom Absatz an einem Markt abhängig. Die Wirtschaft könnte auf leistungsbereite Arbeitnehmer setzen, denn sie arbeiteten freiwillig. Allerdings müssten sie diesen Arbeitnehmern auch gute Arbeitsbedingungen bieten, denn der Freiwilligkeit entspräche die Chance, Arbeitsplätze mit schlechten Arbeitsbedingungen abzulehnen. Über die Arbeitszeit und das Arbeitsalter würden die Arbeitnehmer mit ihren Arbeitgebern individuell verhandeln. Allgemeiner Regelungen bedürfte es möglicherweise nicht mehr.
Arbeit muss wieder an Leistung gemessen werden. Allerdings bedarf Leistung, soll sie ein Motor der Neuerung sein, bestimmter Entfaltungsbedingungen. Diese werden schon in einem Bildungswesen gelegt, das sich auf die Förderung von Neugierde gründet; ein Bildungswesen, das in die naturwüchsige Neugierde von Kindern vertraut, Neugierde auch zum Auswahlkriterium für Studenten erhebt und in ihrer Förderung ihren höchsten Zweck erkennt. Nur auf der Grundlage von Neugierde werden Neuerungen entstehen können, einer solchen politischen Gestaltung bedürfen wir. Sie schafft die Voraussetzungen für eine leistungsstarke Wirtschaft, eine Wirtschaft, die Leistung prämiert. Ein Land, das eine Kultur des Müßiggangs fördert, der die Quelle von Neuerungen ist, wird für jedes Unternehmen ein begehrter Standort werden - ein alter Hut, sollte man meinen.
Eine Innovationsdynamik in allen Bereichen unserer Gemeinschaft - auch in der Wirtschaft - würde entfesselt. Wer nicht arbeitet, wäre nicht arbeitslos und stigmatisiert, sondern frei dazu, seinen Interessen nachzugehen. Diese Freiheit ist auch eine Zumutung, und zwar eine Zumutung an Verantwortung. Wer frei entscheiden kann, wozu er seine Lebenszeit nutzt, muss die Freiheit ergreifen, die ihm die Gemeinschaft ermöglicht. Sie zu verschwenden wäre ein Freiheitsverlust, aber einer, den jeder Bürger selbst zu verantworten hätte. Freiheit der Bürger statt Bevormundung, Freiheit statt Vollbeschäftigung - das ist eine Vision für das 21. Jahrhundert, eine, die manches unserer gegenwärtigen Probleme langfristig lösen würde.
Sascha Liebermann ist Mitbegründer der Initiative Freiheit statt Vollbeschäftigung
www.FreiheitStattVollbeschäftigung.de
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