Auf verlorenem Posten

Niederlage Viele verstanden nicht, weshalb Leute wie Rolf-Dieter Buhl für die 35-Stunden-Woche streikten. Doch er steht zu seinen Forderungen, auch jetzt, obwohl der Kampf längst verloren ist

Schmarotzer", schreit ein erzürnter junger Mann der Gruppe zu, die gerade durch das Werkstor von DaimlerChrysler in Ludwigsfelde geht. Sie kommen gerade von ihrer Schicht und wollen nach Hause. Ein gellendes Trillerpfeifenkonzert begleitet die Arbeiter, denn seit Wochen stehen die Streiker auf der einen, Streikbrecher auf der anderen Seite. Die Belegschaft ist gespalten. Zwei Männer halten ein Transparent in die Höhe. "Seid solidarisch! Brecht nicht den Streik", ist darauf geschrieben. "Arschkriecher", ruft der junge Mann wieder. Über sein Hemd hat er sich diesen roten Plastiksack gezogen, auf dem in schwarzen Lettern steht: "Wir streiken!" Die Männer, die den Spießrutenlauf gleich hinter sich haben, schütteln die Köpfe, manche lächeln verächtlich, als wollten sie sagen: "Ihr spinnt doch alle."

Das war vor zehn Tagen. Heute ist die Werkseinfahrt wieder frei. Die Transparente sind verschwunden, die roten Gewerkschaftsfahnen liegen zusammengerollt im Materiallager der Metaller. Weggesperrt. Vielleicht für lange Zeit, denn die IG Metall hat die größte Niederlage seit ihrem Bestehen erlitten. Eine neue Tarifschlacht wagen sie nicht mehr so schnell. Viele an der Basis glauben, dies alles geschehe nur, weil an der Spitze der Arbeiterorganisation seit Monaten ein Machtkampf tobt zwischen dem designierten Chef Jürgen Peters und dem Noch-Vorsitzenden Klaus Zwickel und dessen Wunschnachfolger, dem Stuttgarter Bezirksleiter Berthold Huber. Und tatsächlich beherrschen nun Rücktrittsforderungen die Stimmung innerhalb der Gewerkschaft. Die IG Metall Bochum forderte bereits am Sonntag Peters Kopf. Andere Verbände möchten den Vize-Chef auch loswerden und verklausulieren ihre Forderung mit dem Spruch vom "nötigen Neuanfang", wie es Frank Tichmüller des Bezirks Küste tat. Die IG Metall braucht für diese Niederlage auf jeden Fall einen Schuldigen. Opfer dieser Auseinandersetzung sind die einfachen Mitglieder, die den Kampf persönlich führten und sich sogar mit den Arbeitskollegen zoffen mussten. So wie Rolf-Dieter Buhl, Betriebsrat bei Daimler Chrysler.

Ludwigsfelde noch vor zehn Tagen: Buhl steht nur wenige Meter entfernt von diesem Werkstor und beobachtet, eine Zigarette rauchend, die Szenerie. Er ist der Streikführer. Den Glimmstengel nimmt er zwischen Zeige- und Mittelfinger. Die Finger sind muskulös und scheinen alle fast gleich lang zu sein. Wenn er einem die Hand schüttelt, spürt man seine Kraft und weiß, wenn er wollte, könnte er einem die Hand quetschen. Buhl scheint sehr gelassen zu sein, während seine streikenden Kollegen ihre blanke Wut zeigen, weil sie sich verraten fühlen von jenen, die, trotz Arbeitskampf, arbeiten gehen.

Buhls grüngraue Augen liegen tief, meist zieht er sie zusammen zu schmalen Schlitzen, als ob er das innere Feuer seiner Gefühle zu verstecken versuchte. Über der hohen Stirn und den Geheimratsecken hängt ein ungekämmter, grauer Seitenscheitel. Auf seinen Wangen ist noch der graue Schimmer der Rasur zu sehen. Buhl ist 1,74 Meter groß und steht massig in seinen Jeans, scheinbar unverrückbar, auf der Stelle, hier im Industriepark, nahe des Werkstors. Er ist 44 Jahre alt, und es wäre eine Lüge, zu behaupten, er sähe jünger aus. Über dem roten, kurzärmligen Hemd trägt Buhl eine ockerfarbene Weste, eine Art Foto-Weste, wie sie Kriegsreporter tragen, die man im Fernsehen sieht. An der einen Tasche hängt ein rotes Käppi mit dem Logo der IG Metall. Auch Buhl war schon im Fernsehen. Die Presse interessiert sich seit Beginn des Streiks im Osten des Landes für ihn sehr. Häufig klingelt sein Mobilfon. Interviewanfragen stellte sogar schon die Korea Economic Daily. Für die Medien ist es eben eine tolle Geschichte. Lange her.

Immer wieder gehen Männer auf Buhl zu und fragen, wie der Arbeitskampf enden wird. Andere sagen ihm, die IG Metall soll ja keine faulen Kompromisse eingehen. Und er redet ihnen dann gut zu, macht ihnen Mut. So ein bisschen, sagt er, muss er sich auch um die Seelen der Arbeiter kümmern. Er kennt die Menschen dieses Betriebes, die Stadt Ludwigsfelde und ihren Stolz. Am Bahnhof des Ortes prangt ein großes Schild. Darauf ist zu lesen: "Willkommen in der Autobauerstadt Ludwigsfelde." Gleich in der Nähe ist das Automuseum.

In den Tagen der Tarifauseinandersetzung erfahren die Streiker kaum Unterstützung. Im Gegenteil, teilweise schlägt den Metallern offener Hass entgegen. In den Medien heißt es, die Gewerkschafter seien "unverantwortlich". Angesichts der vielen Arbeitslosen sollten sie doch froh sein, in Lohn und Brot zu stehen. "Im Grunde", sagt Buhl, "kämpfen wir zur Zeit allein gegen alle". Heute, über eine Woche später, weiß er, wie Recht er mit seiner Einschätzung hatte.

Viele verstanden nicht, weshalb Leute wie Rolf Buhl streikten, für die Angleichung zwischen Ost und West, aber der Betriebsrat steht zu seiner Forderung, auch jetzt, da er weiß, dass der Kampf längst verloren ist.

Aufgewachsen ist er in Wünsdorf und ging dort in die Goethe-Schule. Im Alter von 16 Jahren begann er seine Ausbildung zum Automobilschlosser bei der Industrievereinigung Volkseigener Fahrzeuge IFA in Ludwigsfelde. Natürlich war er damals in der Jugendbrigade und in der FDJ. Aber Buhl engagierte sich gern und setzte sich für seine Kollegen ein. Mal musste schnell eine Wohnung für einen Genossen gefunden werden, mal bat er bei der Betriebsleitung für einen Freund kurzfristig um Urlaub. "Vieles war sehr einfach damals", sagt er. Er war ein junger Kerl, als ihn die Genossen zu ihrem Vertrauensmann wählten. Sein Vater, ein Polizist aus Sachsen-Anhalt, habe ihm immer gesagt, er solle zusehen, dass aus ihm mal was wird. Heute ist Buhls Vater stolz auf seinen Sohn.

Mit 19 lernte Buhl seine Frau kennen, eine Leipzigerin. Sie ist gelernte Drogistin. "Das war 1980 und nur ein Jahr später hab ich sie geheiratet." Die große Liebe, aus der drei Kinder hervorgingen. Zwei Töchter, ein Sohn. Buhl lächelt, wenn er über seine Familie spricht. "Die eine macht gerade ihr Abitur, die andere ihre Ausbildung zur Restaurantfachkraft, mein Sohn eine Industriemechanikerlehre bei DaimlerChrysler." Ausgerechnet.

Jetzt sitzt Buhl an einem Biertisch, seine dicken Unterarme auf die Ellenbogen gestützt. Vom Grillstand weht der Rauch von Bratwürstchen herüber. Vor dem zweiten Weltkrieg sei hier auch Daimler gewesen, erzählt er. Dann kam die Teilung und die IFA baute hier Autos. Nach der Wende kehrte der westdeutsche Kraftfahrzeugriese wieder. 1.700 Menschen sind hier beschäftigt. Buhl selbst setzte seine Gewerkschaftsarbeit fort. Als sie sich in der IG Metall organisierten, wählten ihn die Kollegen gleich zum Abteilungsgewerkschaftsleiter. Im Jahre 1990 handelte er als Mitglied der Tarifkommission den Vertrag zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft mit aus. Der Einsatz lohnte sich. Für alle. Im Jahre 1994 erreichte der Standort in Ludwigsfelde die gleiche Produktivität wie im Westen. Auf einer Betriebsversammlung lobte der damalige Geschäftsführer Rolf Bartke den Erfolg des Unternehmens. Dennoch blieben die Ostlöhne damals 25 Prozent unter den Westlöhnen. Bartke ist heute der verantwortliche Manager für den Bereich Nutzfahrzeuge. Die Arbeiter in Ludwigsfelde kämpfen um die Angleichung ihrer Löhne. Sie wollen endlich ankommen in einem Land, das sie, aus ihrer Sicht, in vielerlei Hinsicht immer noch auschließt.

"Im Jahr 13 nach der Vereinigung kann es doch nicht wahr sein, dass wir immer noch wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden", sagt Buhl. Und das Argument des Standortvorteils stimme doch ohnehin nicht mehr. "Wenn es nur nach den Löhnen ginge, dann müssten doch sämtliche Investitionen im Osten getätigt werden. Aber wo wird investiert? Im Westen und dort, wo viele Fördermittel fließen, wie in Leipzig für BMW zum Beispiel." Eine junge Frau unterbricht Buhl, weil ein Laster durch das Werkstor fahren will. Buhl steht auf und schreitet zu den Männern am Werkstor, die nur einige Meter entfernt vom Wachpersonal des Betriebes ihre Blockade aufgebaut haben. Am sonnenschirmüberdachten Stehtisch stecken sie die Köpfe zusammen und schauen in eine Liste, auf der steht, welche Materialien angeliefert werden dürfen. "Das ist nicht eingetragen", sagt einer. Buhl schaut den Fahrer an. "Geh erst mal zur Materialannahme, dann sehen wir weiter." Der Lkw-Fahrer zieht ab. "Hier kommt nichts durch, was für die Endproduktion benötigt wird", erklärt Buhl. Mit dem Betrieb habe man einen Deal vereinbart. Es gibt Notdienste, die von Kollegen übernommen worden sind, dafür habe Daimler erlaubt, dass die Streikposten auf dem Werksgelände stehen dürfen. "Das ist halt ein Geben und Nehmen." Im Werk Ludwigsfelde findet die Finalproduktion der Daimler "Vario"-Transporter statt. Von dort liefert der Betrieb die Laster europaweit aus. Eigentlich. Während des Streiks darf kein Wagen das Gelände verlassen.

Vor einiger Zeit fragte Buhls jüngere Tochter, ob sie auch der Gewerkschaft beitreten könne. Sie wolle etwas tun. Und sein Sohn engagiert sich auch bei der IG Metall. Klar ist er stolz auf seine Kinder und glücklich, dass sie ihn verstehen und seine Arbeit unterstützen. Trotzdem fühlt er, wie verdammt allein gelassen die Metaller sind in der Tarifauseinandersetzung, und wie die Medien auf sie eindreschen. "Aber wahrscheinlich liegt dies daran, dass die ihre Anzeigen von der Wirtschaft bekommen", sagt er. Über die Behauptung, die West-Gewerkschaft mit ihrem baldigen Chef Jürgen Peters hätte die Ostler in den Streik getrieben, kann Buhl nur lachen. "Ich hab noch keinen Westler hier gesehen."

Im Betrieb ist die Stimmung schlechter geworden. Viele Kollegen reden nicht mehr miteinander. Auch er wird "stinksauer", wenn er sieht, wie die anderen zur Arbeit gehen und den Streik brechen. "Klar, sind das dann auch Schmarotzer, denn von unserem Erfolg profitieren sie ja später auch." Buhl erinnert sich noch an die Worte von Helmut Kohl, der einst "blühende Landschaften" versprach. Und jetzt? Will keiner, "dass wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten." Prominente Leute kamen während der vergangenen Tage. Ottmar Schreiner, der SPD-Linke, besuchte die Genossen, und auch Verdi-Chef Frank Bsirkse bekundete in der Nähe des Werkstors seine Solidarität. Und dann waren sie wieder alle da, die Fernsehsender und großen Tageszeitungen. Nur zehn Tage ist das her.

Wenn im Westen gestreikt würde, so glaubt Buhl, dann würde die Presse nicht so einseitig negativ berichten. Dabei versteht wohl keiner, dass dies ein entscheidender Kampf ist. "Sollte die Wirtschaft gewinnen, werden im Westen bald die Forderungen nach mehr Arbeitszeit laut." Die CDU-Bundesvorsitzende Angela Merkel mahnte ohnehin vor einigen Wochen an, dass der Westen sich mehr am Osten - und nicht umgekehrt - orientieren müsse. Zahlreiche Politiker prognostizierten schon, dass der Streik in sich zusammenbrechen werde, und der CDU-Fraktionsvize Friedrich Merz schimpfte den Streik "Unsinn".

Buhl zieht mit den muskulösen Fingern wieder eine Zigarette aus der Schachtel und steckt sie in den Mundwinkel. Dann zischt er: "Die sollen uns bloß nicht unterschätzen." Aber versprechen kann er den Leuten hier nichts. Der Noch-IG-Metallchef Klaus Zwickel will sich im Herbst in den Ruhestand verabschieden und gilt nicht als Verfechter des Streiks, im Gegensatz zu seinem Nachfolger Peters, der als Traditionalist gilt. Und Gesamtmetallpräsident Klaus Kannegiesser sagte schon früh, dass er nicht bereit sei, auf die Forderungen der Gegenseite einzugehen. Alle Zeichen stehen auf Niederlage. "Wir müssen durchhalten und gewinnen", sagt Buhl. Doch er weiß, dass es sehr hart wird in den kommenden Tagen und Wochen. Er selbst ist schon ein bisschen kaputt, denn er schläft nur vier bis fünf Stunden. Den ganzen Tag steht er auf dem Gelände, hält Wache und spricht den Streikern Mut zu.

Am Wochenende war Buhl bei den Verhandlungen dabei. Zunächst sah alles noch ganz gut aus beim Treffen in Berlin. Aber hinter den Kulissen schienen Zwickel und seine Mannen mit einem Streikende einverstanden. Zumal der IG Metall-Boss damit zugleich seinem Intimfeind Peters eine herbe Niederlage beschert und hofft, dass er vielleicht doch noch seinen Kandidaten Huber beim Gewerkschaftstag im Oktober in Stellung bringen kann. Die katastrophale Niederlage in Kauf nehmend. Er ist es auch, der als erster vor den Fernsehkameras "das Scheitern" eingesteht. Rolf-Dieter Buhl ist zu diesem Zeitpunkt alleine. Er fährt nach Ludwigsfelde zurück und muss den Streikern mitteilen, dass alles vorbei ist und sie den Kampf verloren haben. Noch vor Stunden hätte er das nicht erwartet. Nun stehen die Arbeiter auf einem verlorenen Posten. Hier in der Nähe des Werkstores. Viele Männer gehen wieder zu Buhl und wollen Erklärungen haben. Aber der Betriebsrat kann nur trösten. Einen Haustarifvertrag verhandelt der Betrieb in Ludwigsfelde nicht. Bei Daimler gilt nur der Gesamtvertrag.

Dieser Tage ist Buhl im Urlaub. Er will mal so richtig ausschlafen und die vergangenen Wochen vergessen. Sein Mobilfon hat er abgestellt. Aber die Medien rufen ohnehin nicht mehr an. Jetzt nicht mehr, wo die Geschichte vorbei ist.

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