Der Mann sitzt auf der Anklagebank inmitten zweier Polizisten. Doch der Mann sagt selten etwas und will sich zu den schweren Vorwürfen, die gegen ihn erhoben werden, nicht äußern. Der Staatsanwalt beschuldigt ihn eines "schweren Kriegsverbrechens gegen die Zivilbevölkerung" - doch der Mann schweigt und blickt stattdessen dem Richter immer wieder in die Augen. Es ist ein Kräftemessen zwischen den beiden.
Der Angeklagte heißt Nebojsa Ranisavljevic, und sein Fall wird seit Ende Mai vor dem montenegrinischen Bezirksgericht in Bijelo Polje verhandelt, das gerade einen Zeugen hört, der erklärt, er habe Ranisavljevic in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1993 im bosnischen Strpci in einer Gruppe bosnisch-serbischer Soldaten gesehen, die den Zug von Belgrad nach Bar aufhielten, 18 Männer aus den Waggons holten und erschossen. Die Opfer seien vor allem Muslime gewesen. Damals war Slobodan Milosevic Präsident Serbiens, in Kroatien und Bosnien tobte der Bürgerkrieg.
Weil er seit fünf Jahren in Untersuchungshaft sitzt, protestiert Ranisavljevic seit einigen Tagen mit einem Hungerstreik gegen die Dauer des Verfahrens. Außerdem gibt es ein Verteidigungskomitee, das die Machthaber in Podgorica, der Hauptstadt Montenegros, beschuldigt, einen politischen Prozess gegen Ranisavljevic inszeniert zu haben und die Republik Serbien diskreditieren zu wollen. Schließlich wisse jeder, dass sich der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic von Milosevic abgewandt und ihn verraten habe, kurz bevor im März 1999 erste NATO-Bomben auf Jugoslawien fielen. Der Angeklagte sei ein Opfer dieses Verrats - dabei habe er doch nur Serbien und das Serbentum verteidigt.
Verrat, dass ist die schlimmste aller Sünden, die ein Mensch begehen kann, sagt man in Serbien. Wie oft seien das "serbische Himmelsvolk" und seine heldenhaften Führer verraten worden - vom Fürsten Lazar bis zu Slobodan Milosevic, fügt man inzwischen hinzu.
Milosevic-Prozess in Den Haag
30.März / 1. April 2001
Der Ex-Präsident wird in Belgrad verhaftet, um ihm - wie es zunächst heißt - in Serbien den Prozess wegen Korruption und Machtmissbrauchs zu machen.
6. April 2001
Ein Gesandter des Haager Tribunals übergibt den serbischen Behörden einen Haftbefehl für Milosevic. Kurz darauf setzt das Belgrader Verfassungsgericht das Regierungsdekret zur Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher aus. Milosevic soll bis zum 12. Juli nicht ausgeliefert werden.
28. Juni 2001
Premier Djindijic setzt sich über die Direktive des Gerichts hinweg - Milosevic wird nach Den Haag deportiert.
3. Juli 2001
Erste Anhörung vor dem Tribunal, bei der Milosevic das Gericht als "illegal" bezeichnet, von einer "Kollektivverurteilung" der serbischen Nation spricht und sich nicht zur Anklage äußert.
12. Februar 2002
Eröffnung des Milosevic-Prozesses mit der Verlesung der Anklageschrift, in der dem Ex-Präsidenten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Kroatien, in Bosnien und im Kosovo vorgeworfen werden.
3. Mai 2002
Der Präsident des Kosovo, Ibrahim Rugova, sagt vor dem Tribunal aus und wirft Milosevic unter anderem vor, für die gewaltsame Vertreibung von 600.000 bis 800.000 ethnischen Albanern 1998/99 verantwortlich zu sein.
That´s your problem
Nach einer populären Erzählung wurde der Heerführer Lazar bei der Schlacht auf dem Amselfeld gegen das Osmanische Reich 1389 von seinem Schwiegersohn Vuk Brankovic verraten. Der fraternisierte mit dem türkischen Sultan Murat I. und zog sein Heer während des Kampfes zurück. Lazar, dadurch im Stich gelassen, starb auf dem blutgetränkten Amselfeld und verlor gegen eine osmanische Übermacht die Schlacht am heiligen St. Veitstag, dem 28. Juni 1389. Dieses Datum beansprucht in Serbien einen symbolischen Wert. Es war ein 28. Juni im Jahre 1914, als der serbische Attentäter Gavrilo Princip in Sarajevo die tödlichen Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand abfeuerte und damit den Ersten Weltkrieg auslöste. Und man schrieb den 28. Juni 2001, als der serbische Premier Zoran Djindjic entschied, Milosevic aus dem Belgrader Zentralgefängnis an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu überstellen. Der Gefangene soll zu den Polizisten, die ihn aus der Zelle führten, gesagt haben: "Wisst ihr denn nicht, welcher Tag heute ist? Es ist der heilige St. Veitstag!"
Unter dem Druck der USA, die androhten, Milliarden-Dollar-Kredite für Serbiens Wiederaufbau zu blockieren, solange Milosevic nicht ausgeliefert werde, brach die serbische Regierung damals ein. Der serbische Schriftsteller Aleksa Djilas - ein Sohn von Milovan Djilas, des wohl berühmtesten Dissidenten während der Tito-Ära - meinte lakonisch: "Wir haben ihn verkauft". Ein nicht eben häufiger Vorgang in der Geschichte, dass ein Staat seinen ehemaligen Präsidenten einem internationalen Gericht übergibt.
In Den Haag feierte der bald darauf ein solches Comeback, dass Zoran Djindjic seine Bestürzung nicht verbergen konnte. Milosevic, der einst in Belgrad Rechtswissenschaften studiert hatte, trat auf wie ein Staatsführer und sorgte bei seinen Landsleuten mehrheitlich für Begeisterung. In Belgrader Cafés ist Milosevics Satz "That´s your problem" zum Running-Gag avanciert. "That´s your problem", antwortete der Angeklagte dem Vorsitzenden Richter Richard May, als dieser fragte, ob er die Anklage unter anderem wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und (im Falle Bosniens) Völkermord auf serbisch verlesen lassen solle. Slobodan blaffte: "That´s your problem". Milosevic, unbeeindruckt und herablassend, behauptet wieder und wieder, Den Haag sei ein "Tribunal der Sieger". Man wolle ihn vernichten, weil er sein Land verteidigt habe. In Serbien wuchs die Beliebtheit des Ex-Präsidenten mit jeder Live-Sendung aus dem Gerichtssaal, bis schließlich Zoran Djindjic die Übertragungen des staatlichen Kanals unterband - eine bemerkenswerte Entscheidung.
Jugoslawiens Präsident Vojislav Kostunica, der ohnehin gegen eine Überstellung seines Amtsvorgängers nach Den Haag war, nutzte die Gelegenheit für einen harschen Angriff auf den ungeliebten, aber mächtigeren Premier. Der habe sich verhalten, wie jener serbische Fürst Milos Obrenovic, der 1817 Anspruch auf den Königsthron erhob, seinen Rivalen Karadjordje Petrovic ermorden und dessen abgeschlagenen Kopf anschließend nach Istanbul sandte als Beweis seiner Treue dem Osmanischen Reich gegenüber. Dafür erhielt Milos Obrenovic die Macht und erreichte 1830 eine Autonomie unter der Oberhoheit des Sultans. Seit Milosevic in Den Haag sitzt, mehren sich die Stimmen, die sagen, Serbien habe wieder einmal "Verrat" geübt. Und wieder an einem heiligen St. Veitstag. Im Belgrader Magazin Vreme war ein Gedicht zu lesen, in dem es hieß: "An jenem Tag, mein Lieber / verrieten wir unseren Bruder Slobodan / der - erschreckt über den Verrat - / erinnerte an den heiligen St. Veitstag."
Internationales Straftribunal für das frühere Jugoslawien (ICTY)
Die Gründung des ICTY geht auf einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates vom Mai 1993 zurück. Das Gremium soll Kriegsverbrechen untersuchen, die seit 1991 auf dem Gebiet der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien begangen wurden. Den ersten Prozess gab es 1996, inzwischen liegen Anklagen gegen 120 Verdächtige vor. Dem Gericht gehören 16 von der UN-Versammlung gewählte Richter an, weitere 27 stehen zur temporären Hilfe bereit. Präsident des Tribunals ist Claude Jorda (Frankreich), Chefanklägerin Carla del Ponte (Schweiz). Insgesamt arbeiten für das Tribunal 1.200 Mitarbeiter aus 77 Staaten, das Budget 2002 liegt bei 100 Millionen Dollar.
Reisewelle nach Den Haag
In den vergangenen Wochen folgten Milosevic freiwillig weitere Angeklagte. Der ehemalige Präsident der serbischen Republik Krajina in Kroatien, Milan Martic, stellte sich dem Haager Gericht. Ihm wirft Chefanklägerin Carla del Ponte die Bombardierung Zagrebs und die Vertreibung Tausender Kroaten aus der Krajina vor. Der 60 Jahre alte, ehemalige Oberbefehlshaber der jugoslawischen Armee, Dragoljub Ojdanic, flog in die Niederlande. Er wird beschuldigt, für die Vertreibung der Kosovo-Albaner 1998/99 verantwortlich zu sein. Vor seinem Abflug sagte er Belgrader Journalisten, er fühle sich "wie jeder andere Held Serbiens auch und sei stolz auf seine Taten". Milosevics einstiger Sicherheitsberater Nikola Sainovic stellte sich. Ihn begleitete Momcilo Gruban, ein Wärter im bosnisch-serbischen Lager Omarska. Gruban werden Vergewaltigungen, Misshandlungen und die Beaufsichtigung von Massentötungen vorgeworfen. Auch er sieht sich als "Held Serbiens".
Ein bekannter Belgrader Journalist, der enge Kontakte zu Milosevics Ehefrau Mira Markovic unterhält, deutet die "Reisewelle" nach Den Haag als Indiz für eine fixe Idee - sie gehe auf den Milosevic-Prozess zurück. "Alle haben gesehen, wie Slobo wieder zum Star wurde. Das wollen auch sie lieber sein, als sich durch Djindjics Häscher abführen zu lassen wie gewöhnliche Verbrecher." Lieber seien sie Helden in niederländischen Gefängnissen als Feiglinge im eigenen Land.
Tatsächlich bekundet jeder aus der Haager Legion, keinesfalls gegen den ehemaligen Staatschef aussagen zu wollen. "Sie werden uns nicht gegeneinander ausspielen", sagt Martic. "Wir werden Serbiens Ehre nicht beflecken", sagt Sainovic. Eine Front der Verteidiger Serbiens und Milosevics. Gräuel an Nicht-Serben habe es nicht gegeben - alles böswillige Erfindungen des Westens.
In Serbien ist bekannt, dass Mira Markovic regelmäßig mit ihrem Mann telefoniert. Das ganze Land schaue ihm zu und liebe ihn dafür, dass er für Serbiens Ehre kämpfe, sagt sie ihm. Slobodans Herz schlägt dann kräftiger, er sammelt Mut für den nächsten Prozesstag und legt sich seine Krawatte zurecht, die blau-weiß-rot gestreift ist in den Farben der Flagge Jugoslawiens, das es nicht mehr gibt. Er steht vor einem Gericht, dass seiner Ansicht nach gar nicht existieren dürfte und sieht sich mit Zeugen konfrontiert, die nach seiner Auffassung lügen, er verteidigt sich gegen den Vorwurf, für Verbrechen verantwortlich zu sein, die es nach seiner Überzeugung so nicht gegeben hat.
Die Wahrheit ist der Verrat, der begangenen wird", sagt auch das Verteidigungskomitee für Ranisavljevic in Bijelo Polje. Vor wenigen Tagen aber tauchte ein Dokument der jugoslawischen Armee vom 1. Februar 1993 auf, in dem der jugoslawischen Staatsbahn offiziell mitgeteilt wurde, "dass der Zug Nummer 671 auf der Fahrt von Belgrad nach Bar von der bosnisch-serbischen Armee am Bahnhof in Strpci oder Goles aufgehalten und Insassen abgeführt werden". Es waren 16 Muslime, ein Kroate und ein Afrikaner, die den Zug zu verlassen und sämtliche Wertgegenstände den Soldaten zu übergeben hatten. Danach wurden sie erschossen. Das Schriftstück beweist, der jugoslawische Geheimdienst und Generalstab wurde unterrichtet. Der damalige General Ojdanic muss ebenso im Bilde gewesen sein wie sein damaliger Vorgesetzter Slobodan Milosevic, dem der Geheimdienst unterstand.
Ranisavljevic gehörte zu den Soldaten, die den Zug stoppten, doch ist er sich keines Verbrechens bewusst. Das Verteidigungskomitee hält unbeirrt an seiner Ansicht fest: die Beweise seien gefälscht, das Gericht urteile nicht objektiv, der Zeuge sei ein Lügner und - das Schlimmste von allem - fähig zum Verrat.
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