Mondlicht bleicht das Grün der Nadeln

Weihnachtsfahrten Der Zentrale Omnibusbahnhof in Berlin erzählt seine Geschichten

In der Wartehalle mit den orangefarbenen Plastikstühlen zeigt die Uhr halb zwölf. Durch die große Glasscheibe blicken die Leute auf das Messegebäude und den stählernen Funkturm, der still mit seiner Spitze in den Nachthimmel sticht.

Eine alte putzmuntere Dame, die vor der Scheibe sitzt, schraubt den Deckel ihrer Thermoskanne ab. Hinter ihrem Rücken brausen von Zeit zu Zeit Taxis die Masurenallee entlang. Sie schenkt Tee in einen schwarzen Becher. Dampf steigt auf. Vor der Frau steht ein brauner, schwerer Koffer, daneben eine helle Leinentasche. Darin verstaut sie ihren Proviant. Butterkekse in einer Tupperdose, Wurstbrote ordentlich eingewickelt in Alufolie, zwei Birnen und ein paar Wallnüsse in einem durchsichtigen Tütchen, bereits von ihrer Schale befreit. Obenauf liegt ein Päckchen Taschentücher. Die Dame heißt Agnjeska. "Mechten Sie", fragt Agnjeska mit leiser, aber fester Stimme und bietet eine Birne an. Haarfeine Fältchen ziehen sich um ihren Mund und die Augen, als sie lächelt. Die zarten Hände sind mit dünner, weißer Haut überzogen, wie ihr Gesicht, wirken sie pergamenten. Sie trägt einen dunkelbraunen Zobel und auf dem Kopf eine Filzhaube, an deren Rand vereinzelte weiße Löckchen hervorschauen.

Agnjeska wartet auf den Bus nach Prag. Nur eine Woche sei sie in Berlin gewesen, um ihre Tochter zu besuchen. Nein, Weihnachten werden sie nicht zusammen sein, ihr "Mädchen" muss am 26. schon wieder arbeiten. "In eine teure Restaurant als Bedienung", sagt Agnjeska. Und da lohnt es sich nicht, nach Prag zu fahren und gleich am nächsten Tag wieder zurück. Jetzt blickt sie suchend in die Halle, ihre Katja ist gerade verschwunden, weil sie telefonieren muss. Die Durchsage erschallt und kündigt die Abfahrt des Busses nach Prag an. Da eilt Katja heran. Blondiertes, schulterlanges Haar, das Gesicht ihrer Mutter um 30 Jahre verjüngt. Fein geschwungene, geschminkte Lippen, hohe Wangenknochen, eine zierliche Figur. Sie nimmt den Koffer, die alte Dame nippt noch schnell an ihrem Becher, dann packt sie mit flotten Griffen alles in die Leinentasche, hakt sich bei Katja unter. Als sie an einem Mann vorbei kommen, der zusammengekauert auf zwei Plastikstühlen liegt, stubst ihn Agnjeska an. "Missen Sie nicht nach Prag?" Der Mann zuckt, schaut auf: "Ja, danke." Auf der Seitenfront des Busses ist Deutsche Touring zu lesen. Das Gepäck wandert in den Bauch des brummenden Gefährts. Abgase steigen in die Nase. Agnjeska drückt ihre Katja fest und spricht ihr zu. Die nickt, streichelt ihrer Mutter, die einen halben Kopf kleiner ist, über den Rücken. Gleich sind alle an Bord. Dann fährt das Schiff auf Rädern los und biegt in den Messedamm ein. In gut sieben Stunden werden sie Prag erreichen. Katja hat Tränen in den Augen und keine Zeit für Worte. Sie hastet zum Taxistand. Dort wartet ein Typ auf sie in einem silbernen 600er Mercedes. Sie hüpft rein, schlägt die schwere Tür zu. Schon sind sie weg.

Im Warteraum des Zentralen Busbahnhofs (ZOB) treffen weitere Nachtgestalten ein, mit Rucksäcken beladen, Tüten schleppend, Trolleys hinter sich herziehend, in Richtung der 133 Schalensitze, von denen aus man die Namen der Städte an der Wand lesen kann, die von hier aus angesteuert werden: Moskau, London, Bratislava, Budapest, Madrid, Paris, Bukarest ... Über 400 Orte verbinden die Linienbusse des ZOB mit Berlin. 2,5 Millionen Menschen steigen hier bei 55.000 An- und Abfahren jährlich ein oder aus. So wie Dimitri, der jetzt mit der Zigarette im Mundwinkel vor der Glasfront zu den überdachten Parkbuchten steht. Er atmet aus, der blaue Rauch wölbt sich für einen Moment an der Scheibe und fliegt davon. Dimitri, dieser junge Kerl, Dreitagebart auf dunklem Gesicht, lange Augenbrauen und Wimpern, unter denen große, braune Augen glänzen. Kurzgeschnittene, schwarze Haare. Er schickt seinem schwachen Spiegelbild ein Lächeln entgegen. "So, so, eine Geschichte für die Zeitung." Pause. Ein Lungenzug. Pause. "Über Menschen, die zu Weihnachten wegfahren?" Zwischen den Parkbuchten steht ein Weihnachtsbaum mit goldenen Kugeln und roten Schleifen. Mondlicht und Neonröhren bleichen das Grün der Nadeln. Dimitri will nach Gizycko in den Masuren. Dort, erzählt er, habe er seine Freundin Kasja, deren Eltern er nun zum ersten Mal besuchen wolle. Kein einfacher Besuch, Dimitri ist Weißrusse, und die sind bei den Polen nicht unbedingt beliebt. Seine Freundin lernte er vor einem Jahr in Madrid kennen. Beide waren als Austauschstudenten dort. "Sie ist auch ein Luder", sagt er und schüttelt den Kopf. "Schreib das nicht." Er holt das Portmonee hervor und zeigt ihr Foto. Ein hübsches Mädchen lacht. "Ich will sie heiraten und nach Deutschland holen." Kasja hat ihn während des Sommers in Berlin besucht. Zwei Wochen war sie hier. Schöne Tage waren das, erzählt Dimitri.

Seit sieben Jahren lebt er in Deutschland, arbeitet seit kurzem für eine Entrümpelungsfirma. Beim Erzählen öffnet er eine Hand, darauf sind dicke Schwielen zu sehen. Sein BWL-Studium hat er abgebrochen, weil er schuften muss. Dimitri wohnt noch in einer WG, spart aber für eine eigene Wohnung und will dann, klar, Kasja. Nun ist er ganz ernst. In der Seitentasche seines Koffers steckt ein Deo. Wenn er nach 16-stündiger Fahrt aussteigt, will er gleich einen guten Eindruck und vergessen machen, dass er nicht katholisch und auch kein Pole ist. Zum ersten Mal in seinem Leben wird er Weihnachten an einem 24. Dezember feiern und nicht wie sonst bei den orthodoxen Christen üblich am 7. Januar. Im Rucksack, der prall gefüllt auf einem Plastikstuhl ruht, stecken auch zwei Pralinenschachteln und ein Rasierset. Kasja riet ihm am Telefon zu diesen Geschenken. Als er sich verabschiedet, lächelt er wieder selbstsicher. "Wird alles gut gehen." Dann verschluckt ihn der Bus, schließt die Türen und entführt Dimitri zu seinem Abenteuer.

Am ZOB herrscht selten Ruhe, nie vollkommene Stille. Als der Bahnhof im Jahre 1966 den Betrieb aufnahm, nutzten viele Touristen den Linienverkehr, um deutsche Ferienorte zu erreichen, in Bayern, an der Nord- und Ostsee. Busreisen hatten ihren Chic. Doch bald schon änderten sich die Gewohnheiten, man flog lieber oder fuhr mit der Bahn. Vor allem Ausländer sind es, die heute die langen Fahrten auf sich nehmen. Eine billigere Variante, um in die Heimat zu kommen, gibt es nicht. Touring, die Tochterfirma der Deutschen Bahn, erzielt ihren Hauptumsatz mit den Balkan- und Osteuropa-Routen. Eine davon führt von Berlin nach Livno in Bosnien. An der Bucht Nummer 34 hat sich am frühen Morgen eine Insel aus weiß-rot gestreiften Beuteln gebildet, aus gelben Aldi-Tüten, Lederkoffern mit Gürteln, darüber liegenden Mänteln, Jacken, gestopften Rucksäcken, die bald zu platzen drohen. Männer und Frauen stehen herum. Eine hält ein Kind auf ihrem Arm. Handys klingeln, breites Gelächter brandet auf, als sich zwei Freunde begrüßen. Toncek, ein breiter Mann mit grauem Schnurrbart und zerfurchtem Gesicht, schaut skeptisch auf das Archipel aus Gepäck. Sein Atem zeichnet Geister in die kalte Morgenluft. Toncek ist 58 Jahre alt, das Haar weiß und schütter, die Augen nur schmale Schlitze unter geschwollenen Lidern. Er sei "Architekt", sagt er, habe den Potsdamer Platz entworfen und den Reichstag dazu, seinerzeit. Die umstehenden Leute lachen und Wolken steigen auf. "Was soll ich schon sein? Ich arbeite am Bau, bin Polier", erzählt Toncek weiter. Seit 34 Jahren und fast immer in Berlin. Mit 24 kam er nach Deutschland, seither reist er hin und her. Während des Krieges verlor Toncek sein Haus, und sein ältester Bruder kam ums Leben. Seit der Krieg vorbei ist, baut er sein Haus wieder auf. "Es ist so, wie damals, als Gastarbeiter, wieder sparen, wieder Zeug runterbringen", fasst er zusammen, was ihn im Laufrad des Lebens hält. Einige Männer nicken zustimmend. Seine Frau und die beiden Söhne sind bereits vor Tagen nach Livno gefahren. Er bekam erst später Urlaub. Jetzt könnten sie daheim alles für die Festtage vorbereiten, ein Ferkel kaufen, das es zu Weihnachten geben wird. In diesem Augenblick parkt der Bus, hinter der Frontscheibe das Schild mit dem Ziel. Es wird unruhig. Gleich wird eingepackt. Der Fahrer dirigiert die Männer zu den geöffneten Ladeluken, dorthin sollen sie ihre Sachen stellen, langsam tragen kalte Hände ein kleines Gebirge ab - eine Menschentraube bildet sich, die den Vorgang inspiziert, Toncek schiebt mit dem Fuß seine zwei Taschen vor sich her, den Henkel des schwarzen Hartschalenkoffers hält er mit seiner Pranke fest. Plötzlich bückt er sich ächzend und zieht am Reißverschluss der einen Tüte. Etliche Tafeln Schokolade türmen sich, Multivitamintabletten, Päckchen verschiedener Teesorten, Kaffee, Spaghetti. "Alles für Familie", sagt er. Eine Tafel verschwindet in der Innentasche seiner Weste. Proviant für 26 Stunden im Bus. Ob das nicht alles ein bisschen zu anstrengend ist?

Toncek streicht sich über den Schnauzer. "Noch ein paar Jahre, dann habe ich Rente, gehe wieder nach Livno und lebe nur noch da." Einer, der neben ihm steht, kommentiert: "Wer es glaubt ..." Anita, eine Frau, die ihre Sachen gut verstaut weiß, löst sich aus der Menge, zupft an ihren kastanienbraunen Haaren. Ach, die Frisur. Sie besuche ihre Mutter in Bosnien, sie schleppt soviel Zeug mit, wie sie eben kann. Süßigkeiten, Mehl, Öl, Zucker. "Das ist sehr teuer unten, wussten Sie das?" Ihr Mann fiel während des Krieges 1995. Sie flüchtete und heiratete vor einigen Jahren einen Deutschen. Doch der mag nicht so gern nach Bosnien. "Der will mit seinen Eltern Weihnachten feiern und ich mit meiner Mutter." Zu Neujahr aber, seien sie wieder zusammen. "Dobro", "gut", ruft der Fahrer und schließt die Klappen, die letzten Zigaretten werden geraucht. Toncek findet einen mittleren Sitzplatz, winkt freundlich. Dann nimmt der morgendliche Verkehrsstrom des Messedamms den Bus auf - und vor der Wartehalle spuckt ein anderer gerade seine Fahrgäste aus. Hastig plündern sie den Bauch des Schiffes und gehen ihrer Wege. Die Uhr in der Wartehalle zeigt gleich halb neun. Durch das Panoramafenster zur Masurenallee hin blicken die Wartenden auf den stählernen Funkturm, der seinen Kopf in die grauen Winterwolken eines trüben Morgens steckt.


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