An diesem Vormittag spannt sich der Himmel wolkenlos über den Kapellplatz, das Zentrum Altöttings, dem Herzen Bayerns. Die beiden Spitzen der Stiftskirche, dem größten Bau am Orte, recken sich Gott entgegen. An einer Fassade steht die Bronzefigur von Johannes Paul II. und schaut milde auf den Platz, in dessen Mitte die kleine Gnadenkappelle im Schatten der zwei Kirchtürme steht. In der Kapelle werden 26 Herzen bayerischer Herrscher aufbewahrt, beigesetzt in Wandnischen, auch das Herz Ludwigs II., des Märchenkönigs. Deshalb trägt dieser Ort auch den Namen "Herz Bayerns".
Altötting ist eine der bedeutendsten, vor allem aber die älteste Wallfahrtsstätte der katholischen Kirche. Älter als Fatima oder Lourde. Jährlich pilgern über eine Million Gläubige hierher und bewundern das oberbayerische Örtchen mit seinen 12.000 Einwohnern, in dem es am Kapellplatz ruhig und bedächtig zugeht, selbst wenn Besuchergruppen wie Bataillone in die Stadt marschieren. Sie beten zur heiligen Jungfrau Maria und denken nach. Manche schultern eines dieser Holzkreuze, die unter dem tiefen Vordach der Kapelle ausliegen, und drehen dann um das Kirchlein - den Rosenkranz betend - ihre Runden, versunken im Gedenken an die Leiden Jesu. Die Holzkreuze sind verschieden groß, für Schwache und Alte gibt es leichte, kleine Kruzifixe - für Menschen, die sich schwer beladen wollen, liegt ein fast mannslanges Kreuz bereit.
Bürger guten Willens, wehrt Euch
Vor der Stiftskirche verkaufen Devotionalienhändler Marienstatuen, Heiligenbildchen, Halsketten mit religiösen Symbolen und Altötting in Glaskugeln. In unmittelbarer Nachbarschaft leben 160 Ordensbrüder und 40 Priester. Soviel geistliches Personal braucht es bei den Massen, die hier Gottesnähe suchen.
Nichts scheint den Frieden dieses Ortes stören zu können. Doch dann kommt ein Mann in die Stadt, die das erste Mal 748 nach Christi Geburt urkundlich erwähnt wird, und meldet eine politische Demonstration an: eine Demonstration von Homosexuellen für Homosexuelle - und nichts ist mehr, wie es seit mehr als 500 Jahren Wallfahrtstradition war. In Altötting herrscht ein stiller, aber erbitterter Krieg.
Der Mann, mit dem alles anfing, heißt Thomas Grahammer (30), der in einer eingetragenen Partnerschaft mit Andreas (23) lebt. Erst seit einigen Jahren wohnt er in Altötting und gilt somit als "Zugereister". Grahammer hatte die Idee, hier den "Christopher Street Day" (CSD) zu veranstalten. Natürlich auch als "Provokation", wie er sagt. Die katholische Kirche, der Papst, sind ja nicht gerade offen für Homosexualität. Grahammer ist ein großer, breiter Mann, mit tiefer Stimme und dichtem, dunklen Bart - er ginge auch als Urbayer durch, wüssten die Einwohner nicht, dass er aus dem Ruhrpott kommt und damit für viele "a Preiß", ein Preuße, ist und dazu Kreisvorsitzender der Grünen.
"Mit dem CSD wollte ich für Toleranz werben", sagt er. Doch seit bekannt ist, dass die Schwulenparade im "Herzen Bayerns" stattfinden soll, änderte sich das Klima in dem sonst so sanftmütigen Christenort. Grahammer bekam Drohanrufe und e-mails, in denen gewalttätige Gegenaktionen angekündigt wurden. Am Telefon beschimpften ihn anonyme Stimmen als "Satan, den Durcheinanderbringer". Ein andermal droht jemand auf dem Anrufbeantworter: "Typen wie ihr gehören ausgeräuchert". In den Lokalzeitungen gingen wahre Hassbriefe ein. So schrieb eine Hildegard Porst an den Alt-Neuöttinger Anzeiger: "Große Hochachtung für Herrn Bürgermeister Hofauer, Herrn Pfarrer Mandl und Herrn Pfarrer Dr. Theissen, weil sie nicht erfreut sind über den Aufmarsch der Homosexuellen. Sie wollen sicherlich unsere Jugend schützen, und das ist gut. Sollten diese Leute doch nach Altötting kommen, dann aber leise und um andächtig zu beten. Es wäre aber besser, sie würden wegbleiben, und ich glaube, dass viele Leute so denken wie ich." Und Therese Küster schreibt: "Du sollst Gott Deinen Herrn nicht mehr beleidigen! ... Bürger guten Willens, wehrt euch gegen die Schwulenparade oder will man den Fluch Gottes herabziehen?"
Thomas Grahammer zuckt mit den Schultern. Was soll man dazu sagen? So kennt er die strengen Christen und die Kirche, mit der er, als Kind katholischer Eltern, keine guten Erfahrungen gemacht hat. "Mit 18 bin ich ausgetreten, weil mir die Veranstaltung so scheinheilig erschien." Hier in Altötting, das zum Erzbistum Passau gehört, habe die Kirche noch großen Einfluss. Es sei an der Zeit, auch hier ein Zeichen zu setzen. "So ein bisschen fühle ich mich als Missionar." Nun gilt der Missionar als Unruhestifter. Dabei engagiert er sich in der Theatergruppe der Stadt, hat viele Freunde, arbeitet als Informatiker. Ursprünglich sollte die Parade vom Dultplatz aus durch Alt- nach Neuötting rüberführen. Aber der Widerstand der Kirche ließ ihn und die Grünen umdenken - jetzt soll es die Demo nur noch draußen auf dem Festplatz geben, fernab des Ortskerns. Enttäuschend sei das schon, sagt Grahammer, dass die das verhindert haben. Doch nun wird es wahrscheinlich erst richtig abgehen. Schwule aus der ganzen Republik werden nach Altötting pilgern, sofern man den Internetforen Glauben schenken kann. Sie wissen, hier treffen sie die Kirche an einer besonders empfindlichen Stelle. Und wollen sie möglicherweise von nun an jedes Jahr treffen. Als Sprecherin erwartet der Organisator Claudia Roth. Ein großes Event!
An diesem Gnadenort
Genau davor graut dem Stadtpfarrer und Stiftsprobst Günther Mandl (58). Freundlich lächelnd sitzt er an einem Tisch in seiner Pfarrei. Er spricht ruhig und fixiert mit den dunklen Augen hinter der goldumrandeten Brille sein Gegenüber. Mandl unterrichtete 25 Jahre lang an einem Gymnasium und war Studiendirektor an der Universität Passau. "Immer arbeitete ich mit Studenten und Schülern, immer stellte ich mich den Auseinandersetzungen und den modernen Problemen", sagt Mandl. Draußen läuten die Glocken. Seit erst einem Jahr ist er in Altötting der Stadtpfarrer. Ein besonderes Amt, wie er sagt. Hier sind die Kirchen immer voll, auch dank der Pilger.
"Ich bin sehr froh, dass es ein solch religiöses Zentrum mitten im säkularisierten Deutschland gibt." Und hier "an einem Gnadenort, in der guten Stube der Mutter Gottes" könne doch keine Schwulenparade stattfinden, in München, Köln, Paris, Berlin, ja, schon, aber doch nicht in diesem Wallfahrtsort. "Hier wohnt Maria. Ihre Nähe spürt man fast physisch". Dann erzählt er von der großen Geschichte dieser Stadt, und dass Papst Johannes Paul II. im Jahre 1980 schon hier war und auch ein "großer Marienverehrer" ist.
Es war im Jahre 1489, als durch zwei Berichte aufsehenerregender Heilungswunder der Ort zum Ziel für Pilger wurde. Seither beten sie zu der 70 Zentimeter großen, aus Holz geschnitzten Marienstatue in der kleinen Gnadenkapelle mit den Herzen der Bayernherrscher.
Mandl blickt über den Platz, auf dem der letzte Schnee in einem zitternden Nachmittagslicht schmilzt. Und viele, viele Menschen würden hierher kommen, um zu beichten, sagt er sichtlich stolz. Dann posiert er für die Kamera und deutet auf die Stiftskirche, seine Kirche, wo er zuweilen mit der Gitarre vor dem Altar spielt beim Kinder- und Jugendgottesdienst. "Wir sind hier nicht rechts und nicht erzkonservativ oder sonst was." Nur eines ist klar: In Altötting haben es "Schwule mit Sicherheit schwerer, als beispielsweise in Köln", sagt Mandl, und sein Lächeln ist immer noch ehrlich und freundlich.
Nein, er habe noch nie mit Herrn Grahammer gesprochen - ja, er habe auch mit dieser "Bevölkerungsgruppe" zu tun. "Ich würde nie einen Menschen ablehnen." Nur eben die Schwulenparade lehne er ab. Nein, gewalttätige Christen gäbe es nicht in seiner Gemeinde. Hat er schon mal eine Schwulenparade gesehen? "Ja, kurz, im Fernsehen, diese halbnackten Männer, aber ich habe dann gleich weitergeschaltet." Der Stadtpfarrer ist froh, dass der Zug der Homosexuellen nicht stattfinden wird. "Das ist ein Sieg der Toleranz", sagt er und meint das ernst. "Ein Sieg nämlich einer übergroßen Mehrheit von Gläubigen gegenüber einer Minderheit, die die religiösen Gefühle der Gemeinde nicht akzeptieren wollte."
Zum Abschied schenkt Pfarrer Mandl dem Besucher ein Marienbildnis und ein Foto von sich. Er sieht aus wie ein Bischof, denn der Geistliche an diesem Ort ist infoliert. Das bedeutet, dass er als einziger katholischer Pfarrer weltweit die Insignien eines Bischofs tragen darf. Eine große Ehre. "Gott segne Sie", verabschiedet Mandl dann den Gast. Halleluja.
Wir handeln hier nach Recht und Gesetz
Nahe der Pfarrei, direkt am Kapellplatz, steht das Rathaus. Bürgermeister Herbert Hofauer (40) residiert in einem großen Büro mit vielen Fotos an der Wand. Auf einem schüttelt er dem Dalai Lama die Hand. Hinter dem Schreibtisch steht eine Marienstatue auf einem Sockel. Als Hofauer fotografiert wird sagt er: "Sie wollen doch im Hintergrund die Marienstatue drauf haben. Stimmts? Damit Sie dann schreiben können von der Verquickung von Politik und Religion."
Der Bürgermeister ist genervt von den vielen Journalisten, die anrufen und ihn interviewen. Er glaubt, sie wollen ihm am Zeug flicken und einen Konflikt herbeischreiben, "den es so nicht gibt". Er zündet eine Zigarette an und inhaliert tief, den massigen Oberkörper stützt er mit den Ellbogen auf den Tisch. "Hören Sie, ich will keinen Zirkus", sagt er und wirkt dabei wie ein zum Sprung bereiter Stier, der einen niedertrampeln könnte. "Ich bin nicht CSU." Er wolle nicht in eine Schublade gesteckt werden von der Presse. Hofauer ist Mitglied des "Freien Wählerverbandes". Natürlich ist in Altötting - wie sonst auch in Deutschland - eine Demonstration geschützt und kann stattfinden. Auch eine Schwulenparade. Auch wenn sie nicht so ganz passt in diesem Wallfahrtsort, sagt das Stadtoberhaupt und pustet den Rauch ins Zimmer. Von seinem Fenster aus kann er auf die Kapelle und die Kirche blicken. Diesen beschaulichen, idyllischen Ort, der einst ungestört war. Er fährt sich mit der Hand kurz über seinen ergrauten Schnurrbart. "Schon aus rein rechtlichen Gründen könnten wir ja eine solche Demo nicht verbieten."
Lieber würde er Kindergärten einweihen und sich mit seinen Wählern treffen, statt hier über den CSD-Tag zu sprechen. Immerhin gelang es Hofauer, die Parade abzuwenden. Am 3. Juli soll nur noch eine politische Kundgebung mit kulturellem Rahmenprogramm stattfinden. In einem Gespräch mit dem "Herrn Grahammer" hat er das geschafft. Aber was macht er in den kommenden Jahren? Schon jetzt planen Veranstalter aus Hannover den CSD 2005 in Altötting. Soviel Presse und Aufsehen bekommen sie sonst nirgends in der Republik - da braucht man keine Werbung. Das Motto könnte bald sein: "In Altötting hauen wir richtig auf die Pauke." Hofauer spürt, auf seine Stadt kommen schwere Zeiten zu.
Auf keinen Fall will er aber, dass der Eindruck entsteht, die Kirche hätte hier Druck ausgeübt oder so was. "Wir handeln hier nach Recht und Gesetz." Stimmt es, dass eine Gruppe gewaltbereiter Christen den CSD mit einer massiven Gegendemo verhindern wollte? "Nein", sagt der Mann und schnaubt den Rauch durch die Nase. "Es gibt hier keine Gewalt."
Später, als das Aufnahmegerät ausgeschaltet ist, fragt Hofauer, was denn der Reporter von der Schwulenparade halte. So, unter uns. Die Antwort gefällt ihm nicht gerade. Dennoch bleibt er freundlich und wünscht einen "schönen Tag". Hier muss man freundlich bleiben. Immer. Gegenüber beten Pilger zur heiligen Jungfrau. Und bitten um die Vergebung ihrer Sünden.
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