Hakija Meholjic sitzt auf einem Barhocker vor einem Café des Tuzlaer Supermarkts Mercator und blickt auf drei Zeitungsartikel, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Zwei davon stammen aus der linken Tageszeitung junge welt und tragen die Titel Retter, Propheten, Sehide (vom 22. 9. 2003) und Srebrenica - kein Völkermord (vom 11. 7. 2003), der dritte stammt aus dem Freitag (vom 18. 7. 2003), Titel: Srebrenica und Karthago. Der Autor Jürgen Elsässer bezweifelt in diesen Texten, dass bei dem Massaker in Srebrenica mindestens 8.000 bosnische Muslime getötet wurden. Er schreibt: "Schätzungsweise 1.500 Muslime dürften außerhalb jeder Kampfhandlung erschossen worden sein."
Die Zeugen
Hakija Meholjic ist ein 1,72 Meter großer, untersetzter Mann mit dunklen Augen, er lebte während des Bosnienkrieges (1992 - 1995) in Srebrenica. Dort töteten Soldaten der bosnisch-serbischen Armee nach dem Fall der UNO-Schutzzone am 11. Juli 1995 seinen Vater. "Ich vermute, dass in den Tagen nach dem Fall Srebrenicas etwa 10.000 Männer und Jungen von Mladic´s Truppen ermordet worden sind", sagt er. Meholjic ist Mitglied der Bosnischen Sozialdemokratischen Partei (SDP) und ein scharfer Kritiker des verstorbenen bosnischen Präsidenten Izetbegovic´. In zahlreichen Interviews beschuldigte er ihn, Srebrenica aufgegeben und den Serben ausgeliefert zu haben, um eine Militärintervention des Westens zu erreichen. Doch nie bestritt er, dass es ein Massaker in Srebrenica gegeben habe. "Ich wäre verrückt so etwas zu behaupten. Ich habe doch gesehen, was geschehen ist."
In einer schmalen Seitenstraße von Tuzla, nahe des Dom za penzionere, dem Altenheim, befindet sich das spärlich eingerichtete Büro der hinterbliebenen Frauen von Srebrenica. Drei von ihnen sind heute hier. An den Wänden hängen Bilder von Männern und Kindern, auf dem Tisch liegt der Bilten Srebrenica, eine Zeitung, die die Frauen herausbringen. In jeder Ausgabe schreiben sie über die Tage vom Juli 1995 und fragen, wo ihre Männer und Söhne sind. Zu der Frage nach den Opferzahlen sagt Ruvejda Buhic (63): "Wissen Sie, in Srebrenica sind ganze Familien ausgelöscht worden. Nur Angehörige aber durften Familienmitglieder als vermisst melden. Erst langsam erkennen wir, wie viele wirklich in den Tagen nach dem Fall am 11. Juli ermordet worden sind". Listen haben sie erstellt und mit anderen Listen verglichen, abgeglichen. Monate dauerte diese Arbeit.
Dann führen die Frauen den Besucher in einen Nebenraum, in dem Tausende Fotos auf große Plakate geklebt sind. Hajra deutet auf ihren Mann und ihren Sohn, beide wurden von den serbischen Soldaten an jenem Julitag von ihr getrennt. Sie sah sie nie wieder. In einer Ecke des Raumes stapeln sich Tausende Deckchen, in denen die Namen der Vermissten gestickt sind. "Wir arbeiten so lange, bis wir alle eingestickt haben", sagt Hajra. Sie alle wollen nicht, dass Srebrenica vergessen wird, dass die Opfer vergessen werden - ihre Männer und Söhne.
In einem anderen Stadtteil in der Safvet bega Basagica Straße 9 fährt ein Transporter vor das Gebäude der International Commission on Missing Persons (icmp). Zwei Männer öffnen die Ladeluken. Sie packen weiße Säcke aus und übergeben sie dem Personal des icmp. 278 Säcke, darin Knochen aus einem Massengrab. Bosnischer Alltag. Seit 1999 arbeiten hier Spezialisten aus aller Welt, um die Überreste von Menschen zu identifizieren, die in Srebrenica ermordet worden sind. Zlatan Sabanovic´ (28), der Projektmanager, führt in die Halle, in der die Knochen gelagert werden. "Es dauert etwa drei Jahre vom Fund bis zur Identifikation", sagt er. Oben auf den Regalen liegen Pappkartons, darin werden Kleidungsstücke, Ausweise, Brillen aufbewahrt. Auch sie dienen der Identifizierung.
Derzeit lagern etwa 3.500 Body-Packs im icmp, mehr als 7.500 sind bereits analysiert worden, bevor sie zu einem anderen Institut gebracht werden, wo Experten die Todesursache ermitteln. Die bisherigen Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen zum Massenmord in Srebrenica wurden auch im Prozess gegen den bosnisch-serbischen General Radislav Krstic verwandt. Krstic wurde zu 35 Jahren Haft wegen Völkermordes verurteilt.
"Es wird noch Jahre dauern, bis wir alle Leichenreste gefunden haben. Vor allem ist die Suche nach den Massengräbern schwierig, weil viele Sekundärgräber existieren. Um die Spuren zu verwischen, haben die Serben nach dem Krieg die primären Gräber geöffnet und in mehrere Sekundärgräber umgebettet. Das führt natürlich dazu, dass wir oft in verschiedenen Gräbern die Teile eines Skeletts finden", sagt Sabanovic´.
Die Fahrt von Tuzla nach Srebrenica dauert fast drei Stunden. Über teilweise enge Schotterstraßen gelangt man in eine Schlucht. Potocari steht auf einem Schild bei der Ortseinfahrt. Das kleine Dorf kurz vor Srebrenica gelangte 1995 zu trauriger Berühmtheit. Hier trennte die serbische Armee Männer und Jungen ab dem Alter von 16 Jahren von den Frauen. Hier stand die niederländische Blauhelmtruppe und griff nicht ein. Jetzt steht hier ein Mahnmal mit Friedhof, angelegt für 10.000 Gräber. Mehr als 900 Menschen sind bisher hier bestattet. Einige Frauen beten an den aufgeworfenen Erdhaufen.
Nur einige Kilometer weiter siecht das Stadtzentrum Srebrenicas vor sich hin. Zerfallene, zerschossene Fassaden erinnern an den Krieg. Nur ein Gebäude erstrahlt in hellen Farben und ist fein herausgeputzt: das Rathaus. Ein Schild hängt neben dem Eingang. Darauf steht: "Republika Srpska". Schräg gegenüber, malträtiert vom Beschuss während der Belagerungszeit, steht das "Heim der Kultur". Drinnen, in einem kleinen Büro, residiert Marinko Sekulic, ein serbischer Journalist, der seit Jahren von hier berichtet und zum Fall Srebrenicas recherchiert hat. "Es wäre absurd zu behaupten, hier habe es kein Massaker an mindestens 8.000 Muslimen gegeben. Nicht mal die serbischen Medien behaupten das mehr", sagt er. "Sie sind doch durch Potocari gefahren? Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite hat die serbische Armee allein 1.000 Muslime in einer Lagerhalle umgebracht. Dann schafften sie die Leichen weg und vergruben sie. Die Halle legten sie mit Stroh aus und trieben Kühe rein. Die sollten durch das Fressen des Strohs das Blut weglecken". Was ist mit den Soldaten der 28. bosnisch-moslemischen Division, in der mindestens 2.628 Mann gedient haben? "Ach", ruft Sekulic und winkt ab. "Hätten die nicht wenigstens einige serbische Soldaten im Kampf töten müssen? Fakt ist: Mladic´s Armee hatte nach dem 11. Juli keine Verluste, Fakt ist: viele der bosnischen Soldaten wollten durch die Wälder fliehen, ergaben sich aber angesichts der Übermacht. Sie wurden gefangen genommen und exekutiert. Oder glauben Sie, dass die Armee der Serbischen Republik auf Suche nach Leichen durch die Wälder gegangen ist und alle eingesammelt hat, um sie dann in Massengräbern zu verscharren?"
Chefermittler Jean-René Ruez
Jürgen Elsässer bezieht sich in seinen Berichten auf Jean-René Ruez, den ehemaligen Chefermittler des Haager Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien. In einem Interview mit Julija Bogoeva (zitiert aus: Julija Bogoeva/Caroline Fetscher (Hrsg.): Srebrenica - Ein Prozess. Suhrkamp 2002) sagte Ruez, man müsse davon ausgehen, dass 2.628 Männer der 28. bosnisch-moslemischen Division im Kampf ums Leben gekommen seien. Das Interview fand im Jahr 2001 statt, im gleichen Interview erklärte Ruez, dass er von einer "Mindestzahl systematisch exekutierter bosnischer Muslime" von "5.000" ausgeht.
Mittlerweile arbeitet Ruez im französischen Innenministerium in der Abteilung für Internationale Beziehungen. Angesprochen auf die Opferzahlen sagt er: "Es ist schon des öfteren vorgekommen, dass Journalisten Zitate internationaler Ermittler missbrauchen oder in völlig andere Zusammenhänge stellen. Und es ist empörend, dass ich in der Geschichte von Herrn Elsässer missbraucht werde. Meine Ermittlungen in Srebrenica bezogen sich ausschließlich auf die systematisch exekutierten bosnischen Muslime durch die serbischen Truppen. Meine Ermittlungen haben unter anderem zur Verurteilung von Radislav Krstic, dem serbischen General in Srebrenica, geführt. Nach dem heutigen Wissensstand gehe ich von etwa 8.000 systematisch exekutierten bosnischen Muslimen durch die bosnisch-serbische Armee aus."
Auch Emir Suljagic, Journalist bei dem renommierten Sarajevoer Magazin dani, erzählt von dem Grauen, das Mladic´s und Karadz?ic´s Truppen in Srebrenica angerichtet hatten. Suljagic lebte während des gesamten Krieges in Srebrenica. "13 Familienmitglieder sind umgebracht worden", sagt er. Seit einigen Jahren arbeitet Suljagic für dani und berichtete zwei Jahre lang aus Den Haag über die Kriegsverbrecherprozesse. "Lesen Sie doch die Protokolle des Verfahrens gegen Radislav Krstic. Die Verteidigung hat nie abgestritten, dass etwa 8.000 Männer und Kinder exekutiert worden sind. Krstic stritt nur ab, hauptverantwortlich zu sein. Wobei ich den Frauen von Srebrenica glaube, die 10.000 Menschen vermissen." Suljagic war 20 Jahre alt, als Srebrenica überrannt wurde.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.