Als ich sieben war, habe ich für mein Leben gern Gänseblümchen gegessen. Ich beeindruckte meine Freunde, indem ich sie samt Blüte und Stängel kaute. Irgendwann kam der Tag, an dem meine Mutter mir sagte, ab jetzt dürfte ich keine Gänseblümchen mehr essen. Sie sprach von einem Unfall in der Sowjetunion und von einer Wolke, die Richtung Deutschland zog. Für ein paar Tage durfte ich nicht mehr draußen spielen. Die Aufregung um den explodierten Reaktor legte sich bald wieder, aber an diesem Tag veränderte sich etwas Wesentliches für mich. Wenn mit den Gänseblümchen etwas nicht stimmte, dann musste doch auch mit dem Rest der Welt etwas im Argen liegen. Ich las Die letzten Kinder von Schewenborn und Die Wolke von Gudrun Pausewang und das Gefühl, dass etwas Grundsätzliches in Unordnung sei, bestimmte seither mein Lebensgefühl.
20 Jahre später sitze ich auf dem Fensterbrett im 18. Stock eines Hochhauses am Stadtrand von Kiew. Raketen schießen in die Luft, ihre Explosionen reflektieren in den Scheiben der Plattenbauten. In der Küche sitzen drei Ukrainer, mein Freund Igor, Andrej und Taras. Sie trinken Wodka mit Honig und Pfefferschoten, und ich frage mich für einen Moment, was ich hier verloren habe. Wir haben eine Wohnung gemietet, um Menschen in unserem Alter zu suchen, die damals in der Zone lebten. Dort, woher die Wolke kam. Wie sind die Kinder von Tschernobyl erwachsen geworden?
Schließlich ist Olga Wolodschenko zu einem Treffen bereit. Sie empfängt uns in einem anderen Außenbezirk, in einem „Tschernobylhaus“. Ein „Tschernobylhaus“ sieht von außen nicht anders aus als jeder andere Kiewer Plattenbau. Aber es ist anders. „Die Leute hatten Angst vor uns“, erinnert sich Olgas Mutter Valentina, damals, als nach der Katastrophe hier ausschließlich „Umsiedler“ aus der Zone eingewiesen wurden. Dann gab es eine Zeit, da wurden regelmäßig Särge aus dem Haus getragen. Im Jahr 1993 war der Sarg ihres Vaters Wassilij Wolodschenko dabei.
Eine Badewanne voller Pilze
Nun waren die drei Frauen aus Olgas Familie auf sich allein gestellt. Olga, ihre Mutter Valentina, ihre Schwester Natascha. Olgas Mutter lebt von einer Invalidenrente, auch Olgas Gesundheit hat Schaden genommen, sie hat ein Schilddrüsenleiden. Tschernobyl ist täglich präsent, dennoch – oder gerade deshalb – sprechen sie nicht davon. „Man lebt damit“, sagt Olga, „aber nicht jeden Tag öffnet man seine Seele“. Sie meidet das Thema. Auch im Tschernobylmuseum war sie noch nie.
Olga holt ein angegilbtes Familienalbum aus einem Schrank. Wir blättern. Prypjat als Schwarzweißaufnahme ersteht vor unseren Augen. Olga als Kind mit ihren jungen Eltern grillen Schaschlik am Fluss. „Neben unserem Haus war ein Fluss und ein kleiner Wald“, sagt Olga, ihr Vater habe dort eimerweise Pilze gesammelt, die ihre Mutter in der Badewanne wusch und dann einlegte. Die Erinnerung kommt über Olga. „Eine Badewanne voll mit Pilzen! Ist das nicht das Paradies?“ Sie zeigt ihr Lieblingsbild: Sie als lachendes Kind auf dem Arm ihres Vaters. Er sieht aus wie ein Filmstar aus einem alten, sowjetischen Film. „Es ist wohl immer so“, seufzt Olga, „man sucht nach jemandem, der so ist wie man seinen Vater gern sah.“ Olga findet ihn im Internet. Er heißt Ivan und kommt aus Brasilien. Olga und Ivan sind Pink-Floyd-Fans und lernen sich auf einer Fanseite kennen. Zwei Jahre lang tauschen sie E-Mails aus. Anfangs hat Olga Angst, von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Sie kennt die übliche Reaktion: ‚Du kommst aus Tschernobyl! Darf man dich berühren? Hast du eine Krankheit?‘ Aber Ivan schreibt ihr weiter, manchmal mehrmals am Tag. Eines Tages kommt er nach Kiew, sie fahren Hände haltend mit dem Bus durch die Stadt. Und dann beschließt Ivan, für immer zu Olga in die Siedlung mit den Tschernobylhäusern zu ziehen. Sie heiraten. Bei der Hochzeit kann er gerade mal ein Wort Russisch: Da – Ja.
Ivan meint, es sei nichts dabei, dass Olga aus Tschernobyl stammt. Olga widerspricht. Ihre Vergangenheit lässt sie nicht los, immer wieder hat sie diesen Traum: Sie läuft durch eine menschenleere Stadt und verfolgt eine schwarze Katze. Prypjat ist so nah und zugleich unendlich fern. Nur anderthalb Stunden liegt die Zone von Kiew entfernt. Es gibt Busse, touristische Exkursionen in die Geisterstadt. Sie hat oft darüber nachgedacht, aber hingefahren ist sie nie. „Behalt‘ dein Paradies lieber in deiner Erinnerung“, rät Ivan. „Und lass uns in die Zukunft schauen.“ „Geht nicht hin!“, sagt die Mutter. „Es ist eine tote Stadt.“
Aber Olga findet keine Ruhe mehr. Nach einigen Wochen buchen wir eine Tschernobyl-Tagestour. Ivan begleitet uns, Olga zuliebe. Pro Person bezahlen wir umgerechnet 200 Euro und finden uns mit einer Gruppe englischer Touristen in einem Kleinbus wieder. Die Engländer lassen aufgekratzt ein Fläschchen Wodka kreisen, Olga sieht starr zum Fenster hinaus. Für die Briten ist es ein bizarrer Programmpunkt auf ihrer Tour, für Olga eine Reise in ihre Vergangenheit. Doch je tiefer wir in die menschenleere Landschaft fahren, desto stiller werden auch die Touristen. Zwischen vorbeiziehenden Bäumen lassen sich die Schemen verfallener Häuser ausmachen. Wo heute Wälder wuchern, standen früher Dörfer. Unser Guide – mit Geigerzähler, Sonnenbrille und Alkoholfahne – erklärt uns die Zone in gebrochenem Englisch. Es gibt drei Zonen im Umkreis des Reaktors, nach Stärke der Strahlung gegliedert.
Schutzanzüge in den schwedischen Nationalfarben
Wir dringen in die innerste, die Zehn-Kilometer-Zone, fahren Richtung Prypjat und halten am Fluss, der den selben Namen trägt. Von hier aus kann man den Reaktor sehen. Ein zweiter Bus bremst neben unserem, schwedische Touristen steigen aus, von Kopf bis Fuß in Schutzanzüge gehüllt – in den schwedischen Nationalfarben blau und gelb. Während wir umhertappen und die Schweden sich gegenseitig in ihrer Montur vor dem Hintergrund des Reaktors ablichten, sondert sich Olga von der Gruppe ab. Mit verschränkten Armen steht sie im Frühlingswind und legt schützend die Arme um sich. Ivan fotografiert etwas hilflos die gigantischen Starkstrommasten, die in regelmäßigen Abständen die rissige Straße säumen. Er steht genau zwischen den Touristen und seiner Frau.
Der nächste Stopp auf der Tour ist der Reaktor von Tschernobyl. Der Geigerzähler schlägt aus, der einzige Hinweis auf die Gefahr in der Luft. Olga zeigt auf den berühmten Schornstein und sagt: „Mein Vater war Schweißer, er hat diese Röhre mit aufgebaut.“ Wassilij Wolodschenko wird später einer von den vielen sein, die nach der Katastrophe aufräumen. Die mit Autos, Lastwagen und Helikoptern einen Friedhof der Fahrzeuge errichten.
Olga steigt zurück in den Bus. Einer der Engländer fragt, ob ihre Familie etwas mit Tschernobyl zu tun habe. Olga nickt und lässt ihn stehen.
Es geht weiter nach Prypjat. Am Eingang der Stadt hält ein einzelner Soldat Wache. Er lässt uns passieren. Wieder halten wir an. Und schweigen. Die Stille überwältigt uns. Fast 50.000 Menschen haben hier einmal gelebt, für das Kraftwerk wurde eine ganze Stadt aus dem Boden gestampft. Olgas Familie hat die Sowjetpropaganda von Kirgistan in die Ukraine gelockt. Kurzfilme werben mit Arbeit, Technik, Neuanfang, Neubauten und dem Leben in einer jungen Stadt. Jetzt wird die Stille nur unterbrochen vom digitalen Klicken der Kameras. Vor uns liegt der verfallene Palast der Kultur. Olga kann sich nicht mehr wehren, wischt Tränen beiseite und versucht mir ihr zerrissenes Gefühl zu erklären. „Diese Stadt ist meine Heimat und zugleich auch nicht. Sie gehört jetzt den Touristen.“ Endlich gelingt es uns, uns von der Gruppe zu lösen. Wir durchstreifen die leeren Straßen auf der Suche nach Olgas Wohnung. Prypjat ist eine grüne Stadt, denke ich. Die Natur erobert sich ihr Gebiet zurück. Was mag Olga denken? Zwischen den Bäumen steht hier und da ein verwitterter Briefkasten, ein verrostetes Straßenschild. Graffitimaler haben Schattenrisse an die Hauswände gesprüht. Gelbe Blumen wachsen am Straßenrand. Olga nennt sie Studentenblumen. Sie hat sie mit ihrem Vater auf dem Weg zum Kindergarten gepflückt. Ob man sie wie Gänseblümchen essen kann? Dass ganze Straßen überwuchert sind, erschwert die Orientierung, dennoch steuert Olga so eilig voran, dass wir kaum folgen können. Und plötzlich biegt sie ab vom markierten Weg. „Auf der Tour durch die Zone nimmt man so viel Strahlung auf wie auf einem Langstreckenflug nach New York“, haben die Veranstalter gesagt. Das gilt für die erlaubten Wege. Wir aber schlagen uns durchs Gestrüpp.
Eine gelbe Thermoskanne auf dem Sims
Diese Stadt ist ein seltsamer Ort. Die Zeit scheint stehen geblieben. Rostige Hämmer und Sicheln auf den Straßenlaternen erzählen davon. Wie ein Museum konserviert die Stadt Olgas verschüttete Heimat. Ihre Kindheit, in der es eine „Straße der Helden von Stalingrad“ gab.
Vor der Hausnummer 17 bleibt sie abrupt stehen. Vor dem Hauseingang rostet eine Rutsche. „Hier hat Natascha im Sandkasten gespielt, wenn ich von der Schule kam“, sagt Olga. Ivan soll ein Foto schießen, für Mutter. „Komm“, winkt Olga plötzlich. „Wir gehen nach Hause!“
„Zu Hause“ ist eine Wohnung im Erdgeschoss. Die Wohnungstür ist herausgerissen. Vorsichtig, als ob dort etwas Unbekanntes lauern könnte, betritt Olga den Flur. Tapetenbahnen hängen von den Wänden, Plünderer haben Heizkörper und Möbel mitgenommen. Für einen Moment ist Olga nicht sicher, ob dies wirklich die Räume ihrer Kindheit sind. Aber – kein Zweifel. Auf einem Fenstersims steht eine gelbe Thermoskanne. Es ist dieselbe Kanne, mit der sie mit Papa und Mama am Fluss picknicken war. Im Wintergarten hängt eine graue Kinderstrumpfhose – Olgas Strumpfhose. Ein Einmachglas mit verschimmelten Pilzen steht auf dem Boden. „Ich weiß nicht, ob das wirklich nötig war“, sagt sie zu niemand Bestimmtem. Wir tapsen durch leere Zimmer. Im Wohnzimmer hat jemand mit schwarzem Filzstift eine Botschaft hinterlassen: „Olga, wenn du hierher kommst, ruf mich an! Wanja aus der fünften Wohnung.“ Hinter der Nachricht steht eine Telefonnummer mit Kiewer Vorwahl. Olga stutzt. Sie kann sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wer Wanja war.
Wir finden zurück zur Gruppe, ignorieren die Nachfragen, wo wir gewesen seien und steigen zurück in den Touristenbus. Bevor wir die verbotene Welt verlassen, müssen wir einen giftgrün gestrichenen Raum passieren. Jeder muss einzeln einen Apparat betreten, der aussieht, als wäre er einem alten Science-Fiction-Film entnommen. Dann wird die Strahlung unter den Schuhen, an den Handinnenflächen und am Körper gemessen. Wenn die Radioaktivität einen bestimmten Wert nicht überschreitet, blinkt eine grüne Lampe. Olga ist die Einzige von uns, bei der es rot aufleuchtet. Es dröhnt ein Alarmsignal. Ein weißhaariger Mann im Tarnanzug betritt den Raum, misst die Strahlung an Olgas Schuhen mit einem großen Geigerzähler, lacht und schickt sie vor die Tür. Sie soll sich im Gras die Schuhe abwischen. Warum nur sie strahlende Partikel an den Schuhen hat? Der Mann mit dem Geigerzähler hat eine Erklärung für Olga: „Die Maschine hat dich erkannt. Sie hat erkannt, dass du aus Prypjat kommst.
Sebastian Heinzel, 29, ist Autor und Filmemacher. Über Olga Wolodschenko hat er einen Dokumentarfilm mit dem Titel Lost Paradise gedreht. Sie ist als DVD erhältlich unterlostparadise-themovie.com
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