Die Stärke des ersten Blicks

Stratege Ein dokumentarischer Band versammelt die Kritiken über Ostberliner Theater, die Heinz Kersten in den Jahren 1973-1990 für den RIAS schrieb

Als Brecht 1951 gefragt wurde, warum er in der DDR bleibe, trotz der staatlichen Gängeleien und zermürbenden Querelen um seine Lukullus-Oper, erklärte er, die DDR sei der einzige Staat der Welt, dessen Regierung Sondersitzungen einberufe, um an seinen Stücken mitzuarbeiten. Brechts Haltung notorischer Querulanz zielte auf ungeschönten Konflikt in derjenigen Gesellschaftsordnung, die ihn interessierte, sie ist nicht zu verwechseln mit jener billigen Romantik, die den Schrecken der Diktatur zum Lebenselixier der Kunst verklärt. Eine von Brechts Buckower Elegien über Ulbricht, den "Eisernen", spottete 1953: "Wenn der Eiserne sie prügelt / Singen die Musen lauter. / Aus gebläuten Augen / Himmeln sie ihn hündisch an. / Der Hintern zuckt vor Schmerz / Die Scham vor Begierde".

Bis heute ist der Blick auf die Theaterlandschaft der DDR allerdings oft von eben dieser romantisierenden Verzerrung getrübt, deren Fundament die Tatsache ist, dass die Theater dort als Publikationsorgane eine völlig andere, ungleich größere und schwierigere Bedeutung hatten als im Westen. Begünstigt wird dies sicher auch durch das Ungenügen daran, heute in einer medialen Landschaft zu leben, die den Konflikt, wie Brecht ihn erhoffte, ununterbrochen simuliert und dabei immer wieder erfolgreich verhindert, dass auch nur eine einzige Grundfrage des politischen Lebens ernsthaft öffentlich diskutiert würde. Daraus aber einen besonderen künstlerischen Vorzug oder gar Vorrang der DDR-Theaterszene abzuleiten, bedeutet, den Reiz der Diktatur zu überschätzen.

Das Vorwort, mit dem der Kritiker Heinz Kersten die chronologische Sammlung seiner Theaterkritiken über Ostberliner Bühnen, die er von 1973-1990 regelmäßig für den RIAS produzierte, einleitet, ist von dieser falschen Romantik leider nicht ganz frei. Wenn Kersten die Qualitäten des DDR-Theaters, "das sich nicht in Originalitätssucht erschöpfte" gegen vermeintliche oder tatsächliche "heutige Beliebigkeit" auszuspielen versucht, ist das als Verdikt gegen die zeitgenössische Bühnenlandschaft viel zu einfach und wirft schwierige ästhetische Ansätze in einen Topf mit den zugegebenermaßen zahlreichen indifferenten Modeerscheinungen. Und umgekehrt spricht die Tatsache, dass die Mittel eines politisch wirksamen Theaters in der DDR in viel stärkerem Maß journalistisch und thesenhaft sein konnten oder mussten als in der heutigen Medienlandschaft, weniger für die dortige Bühnenkunst, als Kersten glauben machen will. Es ist zunächst einmal nichts als der Ausweis ihrer künstlich erzeugten Ersatzfunktion. Mehr als Theater, so der Titel von Kerstens Sammlung seiner Kritiken kann so sehr schnell auch weniger als Theater sein.

Trotzdem - ein dokumentarisch interessantes Nachschlagewerk bildet der über 450 Seiten starke Band allemal. Teil daran haben allein schon die spannenden Umstände, unter denen die Kritiken entstanden sind: Kersten, übrigens auch im Bereich des DEFA-Films einer der frühesten und ausdauerndsten Westkritiker, war nicht nur einer der wenigen westdeutschen Journalisten, die regelmäßig die Ostberliner Theaterpremieren sahen, sondern unter diesen auch der erste, dessen Kommentar zu hören war: Punkt halb neun am Morgen nach der Premiere wurden seine "Frühkritiken" im RIAS gesendet. Dem frühen Sendetermin war dann nicht nur die schnelle Nachtarbeit an der jeweiligen Kritik vorangegangen, sondern auch der Druck, spätestens um 24 Uhr die Grenze Richtung Westberlin passiert haben zu müssen. Zu dieser mühevollen Arbeitssituation kam die politische Gratwanderung, die Kersten mit seinen sichtlich immerzu um Differenzierung bemühten Texten in den Kämpfen des Kalten Krieges zu vollziehen hatte. Der Kritiker als Stratege im Theaterkampf, auf diese Formel lässt sich Kerstens Position wohl bringen.

Häufig ist es das Manko der Tageskritik gerade zum Theater, nicht mit der Tatsache umgehen zu wollen, dass ihre Gegenstände ihr naturgemäß eher be- als erkannt sind. Interessanterweise erwächst Kerstens Texten, die unter doppeltem, wenn nicht dreifachem Druck produziert wurden, genau an dieser Stelle ihre Stärke. Die Qualität seiner Kritiken ist die des ersten Blicks, dessen vorläufiger Charakter nirgends geleugnet wird. Das schlägt sich einerseits in der Atemlosigkeit des Stils nieder: Als ob er sich gerade noch rechtzeitig zur Stelle melden wolle, beginnt Kersten seine Kritiken häufig mit einem knappen: "Gestern abend auf der Probebühne des Berliner Ensembles Premiere zweier Einakter" oder "Gestern abend in der Ostberliner Volksbühne ein Festtagsgastspiel aus Magdeburg". Oder auch, anlässlich einer Uraufführung von Ulrich Plenzdorf im Jahr 1988: "Wer in der DDR nach Glasnost sucht, sollte ins Theater gehen." Kersten scheut auch nicht davor zurück, seine Beobachtungen in der ersten Person Singular mitzuteilen: "Ich fand" oder "Mir gefiel". Andererseits bemühen sich seine Texte sehr sorgfältig darum, über das konkrete Bühnengeschehen hinaus die Bedingungen der jeweiligen Produktionen und auch die kulturpolitischen Strömungen und Zwänge in der DDR zu beschreiben. Dabei ist es gerade vom heutigen, späteren Standpunkt aus wohltuend und interessant zu lesen, wie Kersten etwa Heiner Müllers Macbeth 1983 noch einmal gegen die Attacken Wolfgang Harichs verteidigt.

Ohnehin gilt Kerstens Augenmerk in besonderem Maß den Stücken Heiner Müllers, deren zum Teil in Eigenregie Müllers entstandenen Ostberliner Inszenierungen er allesamt beschreibt. Seit Beginn seiner Kritikertätigkeit hat Kersten auch die immer größere Erstarrung im Umgang mit Brecht und die fatale Politik der Erben registriert: Gleich die zweite abgedruckte Kritik aus dem Jahr 1973 problematisiert eine der unzähligen DDR-Brecht-Wochen.

Häufig schreibt Kersten über Gastspiele und heute völlig vergessene osteuropäische oder russische Theatertruppen. Tatsächlich geht es ihm mit seiner Sammlung laut Vorwort darum, "vieles, was schon damals kaum wahrgenommen wurde, der Vergessenheit zu entreißen". Diesem Anspruch wird der durch Archivmaterial bebilderte Band sicher gerecht. Ob aber dabei wirklich jenes "komplexe Bild der manchmal widersprüchlichen DDR-Theaterszene" entsteht, wie es Kersten sich wünscht, bleibt zumindest fraglich.

Einerseits ist der Blick eben doch auf die staatlichen Bühnen beschränkt. Es fehlen so wichtige Positionen wie das legendäre "Theater Zinnober" und spätere "Theater o.N.", die erste freie Gruppe der DDR und deren subversive Aufführungen in von Stasi-Leuten umstellten Spielorten am Prenzlauer Berg der Achtziger Jahre. Und es fehlt andererseits ein neuralgischer Punkt wie die Fräulein Julie-Inszenierung von B.K. Tragelehn und Einar Schleef, deren Schlussbild Schleef später als Vorwegnahme seiner Republikflucht deutete, jenes kulturpolitische Erdbeben des Jahres 1975, das nach acht Aufführungen beendet werden musste.

Dafür erfährt man allerhand Belustigendes über staatstragende Abstrusitäten wie beispielsweise einen Soloabend mit Ekkehard Schall, in dem das Ein-Mann-Stück Krapps letztes Band der DDR-Unperson Beckett mit dem Vershymnus "Die Erziehung der Hirse", der größten Peinlichkeit, die Brecht je gedichtet haben dürfte, kontrastiert und, nachdem seine Stalin-Strophen vorher säuberlich entfernt worden waren, Brecht auch noch zum sozialistischen Sieger des Abends gekürt wurde. Angesichts solcher theatralen Strafveranstaltungen entfährt dann selbst dem sonst in seinen Urteilen sehr bedächtigen Kersten der ein oder andere polemische Ton. Letzten Endes bestätigt sich an solchen Stellen der Eindruck, dass man es bei Kerstens Sammelband eher mit einer Dokumentation nicht so sehr des DDR-Theaters, sondern der DDR-Theaterpolitik zu tun hat. Auch das ist sehr interessant. Aber als Argument gegen heutige Beliebigkeit taugt es wenig.

Christel Drawer (Hrsg.): Mehr als Theater. Kritikerblicke auf Ostberliner Bühnen 1973-1990 von Heinz Kersten. Vistas, Berlin 2006, 478 S., 24 EUR


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