Man wolle doch auch mal Sonntags in die Schweiz fahren und in einem Hotel mit rosa Blümchentapete Kakao trinken. So erklärte Matthias Hartmann, damals noch Intendant in Bochum einmal seinen Theaterbegriff. Das war Ende 2001, zu einem Zeitpunkt, als der junge Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss langsam von sich reden machte. Gerade war seine Reise von Klaus und Edith an Hartmanns Theater uraufgeführt worden. Inzwischen ist der Kakaotrinker Hartmann tatsächlich nach Zürich gewechselt, Bärfuss von Theater heute zum "Nachwuchsautor 2003" gewählt und bei den Mülheimer Theatertagen zum "Dramatiker des Jahres 2004" ernannt worden. Drei seiner Stücke liegen nun in einem Sammelband vor. Die Stücke sind sehr unterschiedlich. Aber eines haben sie leider gemeinsam: den Kakaogeschmack.
Schon das erste, Meienbergs Tod, bleibt erstaunlich brav, wie sehr es auch Büchners Revolutionsdrama aufzurufen versucht. Man fragt sich, wie bieder die Schweizer Theaterlandschaft ist, wenn die Basler Uraufführung 2001 tatsächlich eine Generationendebatte hervorrufen konnte. Im Zentrum steht Niklaus Meienberg, jener helvetische Günter Wallraff, der 1993 Selbstmord beging. Sicher, Bärfuss, Jahrgang 1971, geht nicht gerade zimperlich um mit dem verblassenden 68er-Monument des Enthüllungsjournalisten. Wenige kurze Szenen skizzieren die Karikatur eines egomanischen, selbstzerstörerischen Linksintellektuellen, dessen Tod am Ende einer ganzen Epoche steht. Zugleich versucht Bärfuss zu beleuchten, welche Art des politischen Schreibens (und auch Theatermachens) mit dem Typus Meienberg untergegangen ist: eine zu selbstgewisse Aufklärung, die zu sehr an die eigenen Darstellungsmittel glaubt und dabei ausblendet, dass jede Darstellung immer auch schon eine Verfälschung einschließt. Wobei man andererseits fragen müsste, ob guter Journalismus nicht gerade von Figuren wie Meienberg lebt.
So schwer macht Bärfuss es sich aber leider nicht. Ihm genügt eine ranzige Parallelhandlung um die Schauspieler, die das Meienberg-Stück aufführen wollen, aber immer wieder aus ihren Rollen fallen. Jeder Englischleistungskurs, der Thornton-Wilder aufführen will, dürfte vor den Mitteln zurückschrecken, die Bärfuss auftischt. Über Seiten liest sich das so: "Es wird gespielt, nicht diskutiert!" - "Unser Spiel ist wirkungslos." - "Unsere Arbeit zeigt sehr wohl Wirkung." ... "Entweder spielen wir jetzt den Selbstmordversuch, oder ihr müsst euch einen anderen Meienberg suchen."
Die Konstellation des Schauspiels Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (2003) ist eigentlich interessant: Es geht um eine Figur, die nicht nein sagen kann und an der gerade deswegen die liberalen und scheintoleranten Diskurse scheitern, von denen sie umgeben ist. Grenzenlosigkeit trifft auf Grenzenlosigkeit, bis irgendwann eine Grenzziehung nötig wird. Am Ende steht die Tyrannei des "Du darfst". Doch wo Meienbergs Tod zumindest suggerierte, sich mit dem Problem der Darstellung zu befassen, da lässt Bärfuss solche Fragen diesmal ganz beiseite und kleidet seine Figuren in die Lumpen aus der Muffkiste des naturalistischen Familiendramas. Das Resultat ist eine Sozialschmonzette: Dora ist ein geistig zurückgebliebenes Mädchen. Mutter und Arzt setzen wohlmeinend ihre Psychopharmaka ab. Mit dem Ergebnis, dass Dora nur noch "ficken" will, und zwar mit einem pädophilen "feinen Herrn". Sie wird schwanger, zur Abtreibung und zur Sterilisierung überredet.
Die Form des Familienstücks verbirgt, dass die Schwierigkeiten der Grenzziehung viel größere gesellschaftliche Dimensionen haben. Indem Bärfuss eine äußere Struktur in das angebliche Innen seiner Figuren verlegt, macht er unsichtbar, dass sie den Einzelnen übersteigt. Damit folgt er allerdings der marktwirtschaftlichen Ideologie des Individuums und seiner angeblich privaten Probleme und Traumata. Eine Figur, die an dieser Struktur radikal scheitert, muss in diesem Kontext von vornherein als andersartig gezeichnet werden - im Notfall muss als Erklärung eben geistiges Zurückgebliebensein herhalten. Wenn so etwas dann noch an Schauspieler gerät, die einem vorspielen, sie seien behindert, kann man das Theater nur noch verlassen.
Das jüngste Stück der Sammlung, Der Bus. Das Zeug einer Heiligen, erhielt den Mülheimer Stückepreis 2004. Die Handlung wirkt geheimnisvoll: Erika, gläubige Christin, die eigentlich nach Tschenstochau pilgern will, findet sich im falschen Bus wieder. Als Schwarzfahrerin gebrandmarkt, ist sie schutzlos den immer brutaleren Launen und Handlungen der Insassen und des Fahrers Hermann ausgeliefert. Am Schluss dann der Theatercoup: Die Figuren kippen in ihr Gegenteil. Erika, ausgesetzt an der Tankstelle des heruntergekommenen Alkoholikers Anton, verliert ihren Glauben. Sie endet als zynische Drogenabhängige. Hermann, plötzlich bekehrt, hat eine Vision und fährt seinen Bus samt Insassen in den Abgrund.
Der Bus greift aktuelle Debatten etwa um Giorgio Agambens Figur des "homo sacer" auf. Andererseits erscheint das Stück auch wie eine ausgedünnte Version von Dogville, Lars von Triers komplexem Theaterfilm. Ausgedünnt deshalb, weil Bärfuss, anders als von Trier, sich auch hier wieder nicht oder nur scheinbar um jene unausgesprochenen Regeln schert, die jeder Darstellung vorangehen. Dogville machte spürbar, wie man als Zuschauer durch die Mittel der Darstellung so weit gebracht werden kann, am Ende gefühlsmäßig zumindest kurzzeitig auf die Seite derer zu wechseln, die gerade ein Massaker anrichten. Jenseits der vordergründigen Fragen nach Handlung und Stoff solche Erfahrungen erzeugen zu können, darin liegt die eigentlich politische Dimension von Film und Theater. Bärfuss lässt sie außer acht zugunsten relativ blind erzählter Geschichten.
"Ich will Geschichten erzählen, weil ich an den Mythos glaube", hat Bärfuss 2003 in einem Interview gesagt. Genau das ist das Problem. Es ist zwar entscheidend, das Bedürfnis nach Mythen ernst zu nehmen, weil es sich auf die oder die Weise in jedem Einzelnen findet. Und vielleicht ist ein Leben ohne Mythos gar nicht lebbar. Doch so zu tun, als könne man sich dem Glauben an einen Mythos einfach hingeben und dann unbesorgt drauflos erzählen, das ist nicht nur zu einfach, zu gemütlich, zu bequem. Es ist schlicht reaktionär. Hier liegt das Manko dieser Stücke. Sie drücken sich um die Frage, was es heute bedeuten könnte, für den schwierigen Ort Theater zu schreiben, ohne einfach seinen Mythos zu bedienen. Diese Auseinandersetzung wäre aber Bedingung für Texte, die mehr sind als marktgerechtes Fast Food für einen alles fressenden Apparat, und damit auch für ein Theater, das politisch ist und nicht einfach nur "politisches Theater".
Lukas Bärfuss: Meienbergs Tod. Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Der Bus. Stücke. Wallstein, Göttingen 2005, 218 S., 19 EUR
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