Sie stehen und stampfen, laufen und drängen ineinander, formieren sich zu Halbkreis, Reihe und Karree oder verteilen sich im Raum. Und dabei sprechen sie, zerhacken Texte, setzen ungewohnte Zäsuren, brüllen einzelne Sätze, andere flüstern sie - alles im Chor. Ob in Dresden, in Stuttgart, bei der Wiener Aufführung von Elfriede Jelineks Werk oder zuletzt in Weimar, der Sprechchor scheint auf die Bühne zurückgekehrt. Zur Zeit dürfte man jedenfalls im deutschsprachigen Theater so viele Chöre zu sehen bekommen wie seit Einar Schleefs Tod im Jahr 2001 nicht mehr.
Oftmals ist die Irritation groß, wenn plötzlich eine wildgewordene Figur auf den Zuschauer losstürmt, eine Figur, deren Ort man eigentlich in der antiken Polis vermuten würde, oder vielleicht auch im Fußballstadion. Obwohl er untrennbar mit dem Beginn des europäischen Theaters verbunden ist, wirkt der Chor dort heute wie ein Fremdkörper, eingedrungen aus einer anderen Zeit oder einem anderen Raum. Und anscheinend greift dieser Eindringling den Kern der Darstellungskonventionen, mittels derer wir eine Handlung zu verstehen glauben - einzelne Protagonisten sprechen miteinander - in einer Weise an, die nur schwer erträglich ist.
Tatsächlich ist reflexartige Ablehnung häufig die erste Reaktion auf den Chor und auch auf die Gewalt, mit der er sich auf der Bühne seinen Platz schafft. Zumal er vor dem Hintergrund deutscher Geschichte auch gerne misstrauisch beäugt wird: Der Chor, so hört man es in den Theaterpausen und liest es in aktuellen Kritiken immer wieder, lösche das Individuum zugunsten der Masse aus oder verkörpere gar ein problematisches kollektives Bewusstsein.
Diese Schwierigkeiten sind nicht neu. Schleefs Theaterarbeit wurde oft genug leichtfertig mit dem Reizwort der "faschistoiden Ästhetik" belegt. Mehr dem Gerücht entsprungen als dem Erlebnis, sind solche Vorwürfe nicht nur sehr simpel, sondern auch schlichtweg falsch. Doch wie das simple Gerüchte so an sich haben: Sie halten sich hartnäckig, gerade weil eine differenzierte Widerlegung ihnen kaum beikommen kann. Und sie verstellen den Blick; in diesem Fall für die Tatsache, dass der Chor die Möglichkeit eines politischen Theaters überhaupt erst eröffnet. Eines Theaters, das die Bedingungen des Politischen anders erfahrbar macht als es die üblichen medialen Rituale können.
Ein Theater, das sich mit der Frage des Gemeinwesens befasst, kommt um den Chor nicht herum. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Stücke wie Die Räuber oder Die Weber den Chor schon im Titel aufrufen. Insofern war es direkt zwingend, dass Volker Lösch seine Dresdner Weber-Inszenierung mit einem Chor ausstattete, dessen Text, zusammengesetzt aus politischen (Gewalt-)Phantasien von Passanten, Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern, den (Alp-)Traum der guten Gemeinschaft beschwor. Was prompt einen bundesweiten Theaterskandal auslöste. Man kann sogar spekulieren, ob diese Aufmerksamkeit nicht selbst mit dem Chor zusammenhängt, der das Gesagte so seltsam verstärkt. Ob ein einzelner Schauspieler, der den Wunsch eines Dresdner Bürgers, Sabine Christiansen zu erschießen, vorgelesen hätte, ein vergleichbares Medienecho hervorgerufen hätte, scheint jedenfalls mehr als fraglich. Derlei wird in jeder RTL-Comedy täglich vom Stapel gelassen, ohne dass es ähnliche Reaktionen gäbe.
Wo geht der Chor hin, wenn er im Namen des bürgerlichen Individuums aus dem Theater vertrieben wird? Solche Fragen hat Schleef gestellt - und die Asyle des Chores in den Verwerfungen der deutschen Geschichte aufgesucht. Tatsächlich wimmelt es da von heimatsuchenden, missbrauchten und degenerierten Chören, egal ob sie nun beim sonntäglichen Kirchenbesuch auftauchen, während der Arbeiterdemonstrationen der zwanziger Jahre, auf Familienfeiern, in den Proklamationen nationaler Vereine, im sportlichen und militärischen Kontext oder in nationalsozialistischen oder kommunistischen Massenspektakeln.
Dabei taucht der Chor in Deutschland in ungleich größerem Maß auf als etwa in Frankreich - was vor dem Hintergrund der besonders komplizierten deutschen Identitätssuche nur folgerichtig ist. Was aber all diesen Chören gemeinsam bleibt, wie fatal ihr Auftreten auch immer ist, das sind solche elementaren wie sehnsüchtigen Fragen: Wie ist Gemeinschaft möglich? Und was bedeutet es, Sprache zu teilen? Neben Richard Wagner scheint in Deutschland insbesondere ein Name mit der Geschichte des Chores verbunden: Friedrich Schiller. Und das nicht nur, weil Schiller spätestens mit der Braut von Messina versucht hat, den Chor als Figur ins Theater zurückzubringen. Die Geschichte deutscher Schiller-Rezeption ist auch eine Geschichte des Chores. Keine der großen Schiller-Feiern, in denen der Weimarer Klassiker zum Nationaldichter erkoren wurde, kam ohne deklamierende oder singende Chöre aus.
Mit solch fragwürdigen Veranstaltungen hat die aktuelle Inszenierung der Maria Stuart am Nationaltheater Weimar nichts, aber auch gar nichts zu tun, wiewohl in ihrem Zentrum die Figur des Chores steht. Diese Aufführung, die der Intendant Stephan Märki und die Dramaturgin Susanne Winnacker mit Gotthard Lange, einem ehemaligem Chorführer Schleefs, erarbeitet haben, war (und ist) eine der aufregendsten des Schiller-Jahres 2005.
Um 1800 entstanden, ist Maria Stuart deutlich von der Erfahrung der französischen Revolution geprägt. Vor allem die Einkerkerung und Hinrichtung Ludwigs XVI. finden bis in Details ihr Echo in der Figur der Maria. Schiller, nicht weniger besessen von Geschichtsprozessen als später Brecht oder Müller, arbeitete hier an einem Theater, in dem das Räderwerk des Politischen selbst zur Hauptfigur werden sollte. Dabei stieß der Dramatiker freilich auf ein gewaltiges Problem: Das bürgerliche Theater mit seinen klaren Rollen, Protagonisten und Dialogen besteht auf dem vermeintlich autonomen Individuum. Um in diesem Rahmen überindividuelle, gesellschaftliche Mechanismen erzählbar zu machen, erfand Schiller die tragischen Liebesintrigen um Mortimer und Leicester. Das ergab zwar eine brauchbare Bühnenhandlung im aristotelischen Sinn. Doch verlagerte Schiller damit den Blick von den politischen Strukturen, deren Ort jenseits individueller Liebesgeschichten liegt, auf die Handlungen der Subjekte, die in diesen Strukturen stehen. Diese idealistische Strategie der Abbildung scheint in der heutigen Medienlandschaft perfektioniert - etwa wenn die Kriege der letzten Jahre als Zweikämpfe zwischen Figuren wie Bush und Bin Laden präsentiert werden oder der Alkoholismus des amerikanischen Präsidenten zum Bestandteil ihrer Geschichte wird. Es ist der große Verdienst der Weimarer Inszenierung, eine solch mythisierende Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, indem sie jene Figuren, die Schiller als individuelle Handlungsträger konstruierte, wieder als Angehörige des großen Chores zeigt, dem der Dramatiker sie entrissen hatte.
Nach hinten sich verjüngende, riesige Streben stellen das Bühnenbild, ansonsten ist der Bühnenraum ausgeräumt. Zwei schwarz gekleidete Chöre, ein Männer- und ein Frauenchor, bilden den Widerpart zu Elisabeth (Petra Hartung) und Maria (Claudia Meyer), die, in prächtige blaue beziehungsweise rote Kostüme gehüllt, besonders exponiert und zugleich ausgestoßen erscheinen. Mal kesseln die Chöre, drängend und bedrohlich, eine der beiden Frauen ein; mal geben sie sich unterwürfig und tragen sie auf Händen über die Bühne. Tatsächlich springt einem schon bei der Lektüre des Stückes ins Auge, dass die beiden Königinnen keinen Individuen gegenüberstehen, sondern einem vielstimmigen Chor, der von sich behauptet, England zu sein. "Ihr habt Euch dem Gericht der Zweiundvierzig unterworfen" beginnt Lord Burleigh seine Rede vor der gefangenen Maria, Gesandter eines Gerichtes, das seinerseits das englische Volk repräsentieren soll. Umso gewaltsamer wirkt es, wenn in Weimar gleich 12 Burleighs diesen Satz vor einer einzelnen Frau stampfen. Und wenn Elisabeth den Burleigh-Chor mit den Worten befragt: "Was wünscht mein Volk noch? Sprecht, Mylord?", erweist sich die chorische Inszenierung geradezu als Eins-zu-eins-Umsetzung des Dramas.
Auf Einfühlung, Psychologie, individuelles Gefühl und ähnliche Standardforderungen der bürgerlichen Ästhetik verzichtet diese Aufführung. Gerade deswegen macht sie etwas anderes spürbar: die Gewalt, die jede Gemeinschaft auch jenseits von Volk, Familie, Partei und Religion hervorbringt, wenn sie verspricht, den Einzelnen in sich aufzuheben. Eine solche Gemeinschaft braucht Kitt, um den Riss zwischen ihren Mitgliedern abzudichten. Darum klagt sie zwei Positionen ein: ein Opfer, über dem sich die Mitglieder zusammenschließen, und eine Entscheidungsinstanz. Das sind genau die zwei Rollen, die Elisabeth und Maria, die beiden Ausgestoßenen des Chores, erfüllen. In diesen Rollen sind sie nackt - und einander ähnlicher, als es auf den ersten Blick ausschauen mag. Elisabeth, die scheinbar freie Königin, erscheint als Gefangene ihrer souveränen Position: Der Chor, der einen verantwortlichen Anführer braucht, zwingt sie regelrecht dazu, ihre Unterschrift unter das Todesurteil Marias zu setzen. Maria hingegen ist zwar gefangen im Kerker, doch zugleich frei von jeder Gemeinschaftsbindung - was freilich nur bedeutet, dass sie von vornherein schutzlos der Willkür ihrer Wärter ausgesetzt ist. Über diese rechtlose, zur Terroristin gestempelte Gefangene fallen jene Worte, die Condoleezza Rice in Prosa über die Folteropfer des CIA geäußert hat: "Kein Eisengitter schützt vor ihrer List / Weiß ich, ob diese Stäbe nicht durchfeilt / Nicht dieses Zimmers Boden, diese Wände / Von außen fest, nicht hohl von innen sind / Und den Verrat einlassen, wenn ich schlafe?" Was durch die chorische Inszenierung in Weimar zum Vorschein kommt, ist ein Schiller, der zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters ungeheuer präzise jene Fragen nach Gemeinschaft, Recht und Souveränität verhandelt hat, die seitdem von Tag zu Tag drängender geworden sind.
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