Der Hollywood-Plot

Film Genrefilme und Verschwörungstheorien haben sich nicht nur gegenseitig befruchtet, sondern ähneln sich auch strukturell frappierend. Ein Überblick von Watergate bis heute

New York, 2017. Kriegsveteran Joe (Joaquin Phoenix) dringt in A Beautiful Day mit einem Hammer in der Hand in ein Bordell ein. Er will die halbwüchsige Tochter eines Senators befreien, die von einem hochkarätig besetzten Menschenhändlerring entführte wurde.

Washington, D.C., 4. Dezember 2016. Der 28-Jährige Edgar Maddison Welch stürmt in die Pizzeria Comet Ping Pong und schießt mit einer halbautomatischen Waffe um sich. Das Restaurant soll laut der im US-Wahlkampf entstandenen Verschwörungstheorie „Pizzagate“ das Hauptquartier eines Kinderschänderrings sein. Der kommuniziere in Pizza-Metaphern und niemand geringeres als Hillary Clinton soll ihm vorstehen. Verletzt wird niemand.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass A Beautiful Day direkt vom Zwischenfall in der Pizzeria beeinflusst wurde. Doch die Ähnlichkeit der Ereignisse zeigt einmal mehr, wie sich Film und Realität überschneiden, wenn es um Verschwörungstheorien geht. Wenn aktuelle Konspirationsfantasien wie QAnon und Pizzagate nicht so zerstörerisch in die reale Welt übergreifen würden, wären sie die perfekte Vorlage für einen spannenden Thriller.

Ein Zufall, dass im Englischen das Wort „plot“ nicht nur eine Verschwörung, sondern auch die logische Verknüpfung einer Filmhandlung bezeichnet? Es gibt keine Zufälle, würden Verschwörungsgläubige jetzt entgegnen …

Plot im Plot

In den vergangenen Monaten, in denen im Zeichen von Corona Konspirationsvorwürfe eine neue Sumpfblüte erlebten, wurde die Funktion von Verschwörungstheorien in Forschung und Medien ausgiebig durchexerziert. Es gilt mittlerweile als Gemeinplatz, dass ihre Anhänger mit ihnen die Komplexität einer undurchschaubaren und gleichzeitig entzauberten Welt reduzieren. Durch die Erkenntnis, dass nicht der blinde Zufall, sondern eine kleine Gruppe von Menschen regiert, bekommen Komplottgläubige (die religiöse Metapher passt hier tatsächlich) bei aller hilflosen Wut das Gefühl, die Welt verstehen zu können.

Diese Einsicht liefert einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Frage, was Verschwörungstheorien für Drehbuchautoren so beliebt macht. Denn Filmerzählungen, gerade im Genrekino, funktionieren auf eine ganz ähnliche Weise. Um komplexe gesellschaftliche Prozesse sichtbar zu machen, werden sie in Figuren verdichtet. Eine anonyme Macht lässt sich schlechter darstellen und greifen als ein finsterer Schurke – vom Auftraggeber des Protagonisten, der sich plötzlich als Drahtzieher der Konspiration herausstellt, über den anonymen Nachbarn, der sich als Terrorist entpuppt (Arlington Road) bis zum Comicsuperschurken, der souverän das Chaos beherrscht. Im Kino deckt der Held stellvertretend für den machtlosen Zuschauer die Konspiration auf und vernichtet die Spinne im Netz.

Nixon und Satan: die 70er-Jahre

Nachdem das Paranoia-Kino der 1950er-Jahre noch vor roten Invasionen zitterte – mal mehr mal weniger verklausuliert vom Mars oder aus dem Sowjetreich kommend –, wandte in den 70er-Jahren die kollektive Ängste verarbeitende Maschine namens Hollywood ihren Blick ins Innere. In den USA gärte es gewaltig in einer Gemengelage aus Watergate-Verunsicherung, Vietnamkriegs-Überdruss, Kennedy-Trauma und Auswüchsen der typisch amerikanischen politischen Kultur, die der US-Historiker Richard J. Hofstadter 1964 in einem einflussreichen Essay als „Paranoid Style“ bezeichnete: „Eigenschaften hitziger Übertreibung, Verdächtigungen und Verschwörungsfantasien.“

1976 beleuchtete Alan J. Pakula in Die Unbestechlichen den Watergate-Skandal, die Mutter aller Verschwörungen, die bekanntlich alles andere als eine Theorie war. Alan J. Pakula zeichnete minutiös und seriös die Recherchearbeit des Reporterduos Woodstein nach. Die Washington Post-Journalisten Bob Woodward (Robert Redford) und Carl Bernstein (Dustin Hoffman) deckten auf, dass Vertraute von Präsident Richard Nixon von dem Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei im Gebäudekomplex Watergate wussten.

Doch Die Unbestechlichen bildet nur den Schlussstein von Pakulas sogenannter Paranoia-Trilogie der 70er-Jahre. Steckte 1971 in Klute noch eine simple Erpressung hinter einem Fall, den Privatschnüffler John Klute (Donald Sutherland) aufklären muss, wird 1974 Journalist Warren Beatty im gleichnamigen Film Zeuge einer Verschwörung und deckt auf, dass nicht ein Einzeltäter, sondern eine geheime Organisation einen Senator ermordete. Ein klassisches Motiv des Paranoia-Thrillers wie auch der Spekulationen rund um den Kennedy-Mord. Schon vor Watergate war in den USA den Autoritäten nicht mehr zu trauen.

1975 gerät Robert Redford in Die drei Tage des Condors als kleiner Fußsoldat der CIA ins Visier seiner eigenen Firma genommen, die hier als Staat im Staat agiert. Für die USA wohl noch ein zu heißes Eisen, bringt der Franzose Henri Verneuil 1979 mit I wie Ikarus die rund um die Ermordung von John F. Kennedy aufkeimenden Verschwörungsgerüchte auf die Leinwand, als Politallegorie in einem fiktiven Staat. Der filmische Verfolgungswahn trieb in den 70er-Jahren jenseits der Politthriller auch kuriose Blüten: In dem Horror-Reißer Vier im rasenden Sarg schrecken vier harmlose Späthippies (u.a. Easy Rider Peter Fonda) beim Campingurlaub Satanisten auf. Sämtliche Personen, die den Vieren in der Folge begegnen, entpuppen sich im Laufe der wilden Jagd als Teufelsanbeter.

In den 70er-Jahren bildete sich das bis heute gültige Strickmuster für Paranoiafilme heraus: Nichts ist, wie es scheint, niemandem ist zu trauen. Das Individuum ist verloren in Strukturen, die unpersönlich und undurchsichtig scheinen. Doch durch die Entdeckung einer Konspiration im Zentrum wird die Welt wieder sinnhaft und bei aller Hilflosigkeit (be)greifbar. Gut gehen allerdings die wenigsten Thriller aus. Der Held fällt meist den Verschwörern zum Opfer.

Milleniumspanik und „Men in Black“: die 90er

In den 80er-Jahren wird der Kalte Krieg durch die Nachrüstung wieder wärmer. Der Feind kommt im Kino wieder von außen. Die rote Flut heißt ein reaktionäres Guerilla-Spektakel aus dem Jahr 1984 von John Milius (Conan der Barbar). Doch nach der Erosion des Eisernen Vorhangs verlagerte sich die Suche nach einem Feind wieder nach innen. Oliver Stone, der heute vor allem mit wenig distanzierten Dokus über US-kritische Politiker (Castro, Putin, Morales) auffällt, aktualisiert 1991 mit JFK den Verschwörungsthriller der 70er-Jahre. JFK ist eine Art Dokufiktion-Version von I wie Ikarus, inszeniert mit aufklärerischem Furor. Kevin Costner beweist als Staatsanwalt, dass hinter dem Mord an John F. Kennedy nicht der Einzeltäter Lee Harvey Oswald stecken kann, sondern eine Verschwörung aus Mafia, Exil-Kubanern und tiefem Staat.

Im Laufe der 90er-Jahren verkommt die Verschwörung dann zu einem Handlungselement unter vielen anderen, das jedem simplen Thriller erzählerische Raffinesse und historische Tiefe verleihen kann. Am Ende der Dekade kommt es zu einem Boom von Konspirationsfilmen, befeuert von Millenniumsangst und „New World Order“-Paranoia, die bis heute bei Rechten nicht nur in den USA kursiert: Die globalisierte „Elite“ des Westens will das „Volk“ austauschen, mit Flüchtlingen oder Außerirdischen, also mit Fremden (Englisch: aliens) aller Art.

Die Sci-Fi-Schnurre Men in Black greift 1997 schon im Titel spielerisch eine populäre Verschwörungstheorie auf. In der US-Folklore tauchen nach jeder UFO-Sichtung Männer in schwarzen Anzügen auf, um Beweise einer geheimen Kooperation von Regierung und Außerirdischen zu vernichten. Auch Fox Mulder (David Duchovny) aus Akte X ist einer dieser schwarzen Männer – obwohl er gleichzeitig versucht, eine Verschwörung aus Aliens und US-Politik aufzudecken, die den großen Bevölkerungstausch planen. 1998 bekam die Kultserie einen Kinoableger spendiert, der die in der Serie als horizontaler Handlungsstrang angedeutete Zusammenarbeit der Regierung mit außerirdischen Kolonisatoren ausbuchstabiert.

Fletcher’s Visionen (Originaltitel: Conspiracy Theory!) ist 1998 der Höhepunkt postmodern-sorgloser Verschwörungsseligkeit. Jerry Fletcher (Mel Gibson) ist ein New Yorker Taxifahrer und Aluhutträger, der heute wohl auf die Hygiene-Demo gehen würde. Doch frei nach dem berühmten Motto „Nur weil ich paranoid bin, bedeutet das noch lange nicht, dass niemand hinter mir her ist“ wird Jerry von Männern in Schwarz gejagt. Denn natürlich ist er nicht (nur) verrückt, sondern ein von der CIA hirngewaschener Profikiller. Was zunächst als Parodie des Paranoia-Thrillers daherkommt, mit dem Wissen um die Geschichte und Ikonografie des Genres im Hinterkopf, wird zu einer Bestätigung des Konspirationsdenken ohne politische Substanz. Jerry ist der schmutzige kleine Genre-Bruder all der kritischen Journalisten, Beamten und Whistleblower der Filmgeschichte, die zuerst verlacht und dann verfolgt werden. Will Smith ist als Der Staatsfeind Nr. 1 in dem Hochglanzthriller von Tony Scott sein etwas ernsthafterer Vetter.

Als Kultfilm gilt seit 1999 bei rechten Verschwörungstheoretikern Matrix. Die Matrix, aus der nur eingeweihte Erlösergestalten wie Neo (Keanu Reeves) ausbrechen können, ist die Supermetapher für eine Welt, in der die Menschen von Politik und Medien im Tiefschlaf gehalten werden und nur am Leben bleiben dürfen, um die Maschine zu füttern. Nur wer die Rote Pille schluckt, erkennt die Wahrheit. Auch das ist eine Metapher, die sich unter Verschwörungsanhängern verselbstständigt hat.

Post-9/11

Spätestens nach den Anschlägen am 11. September 2001 war Schluss mit postmoderner Spielerei. Während Verschwörungen erst einmal aus dem Kino verschwanden, erlebten sie in der Realität eine Hochkonjunktur. Da es nicht sein konnte, dass eine Handvoll Terroristen mit Teppichmessern der einzig verbliebenen Supermacht eine solch monströse Wunde beizubringen vermochten, wucherten bald nach den Terrorakten Verschwörungstheorien: Der tiefe Staat habe die Türme gesprengt, um einen Vorwand für Interventionen im Nahen Osten zu haben.

Hollywood widerstand der Versuchung, Kapital aus den Konspirationsvorwürfen zu schlagen. Auch nach der NSA-Affäre, die tatsächlich so eine Art Verschwörung des Staates gegen die Bürger aufdeckte, kam es komischerweise zu keinem neuen Boom simpler Verschwörungsthriller. Haben uns die inflationär genutzten Bilder all der Überwachungskameras abgestumpft, die in jedem Tatort ohne großen Verwaltungsaufwand von der Polizei angezapft werden können? Nur der unverwüstliche Oliver Stone reagierte und baute dem Whistleblower Edward Snowden ein filmisches Denkmal.

Im neuen Jahrtausend gaben sich Kriegs- und Actionfilme Mühe, stilistisch die Unübersichtlichkeit der neuen, multipolaren Welt abzubilden; mit flirrenden, keine räumliche Orientierung ermöglichenden Handkameras und Epileptikerschnitt. Aber auch hier überlebte unterschwellig das komplexitätsreduzierende Verschwörungsdenken. In Syriana etwa will die CIA einen reformfreudigen Prinzen in einem namenlosen Nahoststaat loswerden, da durch ihn die Ölinteressen der USA in Gefahr sind. In der Bourne-Trilogie, dem Goldstandard der neuen Desorientierungsthriller, entpuppt sich der amnestische Titelheld als Musterschüler einer geheimen CIA-Einheit, die ihn nun ausschalten will.

Nachfolger der klassischen Paranoia-Thriller gibt es im 21. Jahrhundert vereinzelt, zum Beispiel Die Dolmetscherin des Die drei Tage des Condor-Regisseurs Sydney Pollack. Selbst im Marvel-Universum fand die Paranoia-Ästhetik Eingang, etwa in Captain Americas zweitem Abenteuer Winter Soldier mit Condor-Star Robert Redford als Gast. Ein reifer Nachfolger der 70er-Politthriller ist The International von Tom Tykwer, entstanden 2009, kurz nach der Finanzkrise. Eine Bank lässt Whistleblower umbringen, die über die Verwicklungen des Instituts in Waffengeschäfte auspacken wollen. Am Ende wird der korrupte Vorstandsvorsitzende zwar ermordet, die Geschäfte gehen aber weiter. Die Lektion: Das ganze System ist verrottet, nicht nur einzelne Akteure, die diabolisch lachend im Hinterzimmer hocken.

Die Superschurken, die Verschwörungstheoretiker heute hinter jeder Ecke vermuten, haben ihre filmischen Doubles eher im Blockbusterkino. Altgediente Franchises wie Batman oder James Bond orientieren sich zwar bei ihren jüngsten Häutungen – die Dark Knight-Trilogie von Christopher Nolan und Daniel Craigs Amtszeit als 007 – an der neuen Ernsthaftigkeit von Bourne und Co. Doch im Herzen der Story steuern weiter die hyperintelligenten, larger-than-life-Schurken die Ereignisse, vom Dark Knight-Joker bis zum Bond-Widersacher Silva in Skyfall. Sie lenken ihre Operationen mit chaos- und spieltheoretischen Tricks. Wer die hyperkomplexe Welt beherrschen will, muss das Chaos beherrschen, in dem er sich dessen Regeln anpasst und mit ihnen spielt.

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Geschrieben von

Sebastian Milpetz

Journalist und Filmexperte, aktuell Online-Redakteur bei TV Spielfilm. Interessen: Gute Filme und schlechtes Fernsehen, Politik, Kultur, Medien

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