Das Land befindet sich schon mitten in der Depression und schuld daran sind hohe Lohnkosten und üppige Sozialpolitik. Helfen können dagegen nur Lohn-, Preis- und Budgetkürzungen. Was sich liest wie eine Mainstream-Diagnose des heutigen Europas, ist tatsächlich der Inhalt eines Artikels aus dem März 1929. Er erschien im Deutschen Volkswirt, einem damaligen Fachblatt der liberalen Ökonomie. Der Autor war kein Geringerer als Joseph Schumpeter. Was er vorschlug, ist später als die berüchtigte Deflationspolitik des bis Mai 1932 amtierenden Reichskanzlers Heinrich Brüning bekannt geworden. Brünings Politik ist jüngst des Öfteren mit dem heutigen Agieren von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in Europa verglichen worden, etwa von Werner Vontobel im Freitag vom 18. Juni. Wie stichhaltig ist dieser Vergleich?
Als der konservative Katholik Brüning im März 1930 sein Amt als zwölfter Kanzler der Weimarer Republik antrat, war die Lage desolat. Seine Amtszeit sollte mit dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosenzahlen zusammenfallen, die historische Rekorde setzten. Zudem musste ein Staatshaushalt mit einem Defizit von 330 Millionen Reichsmark verabschiedet werden. Und die Schuldenkrise sollte sich bis zum Höhepunkt der Banken- und Währungskrise im Juli 1931 noch weiter verschärfen. Umso bedrohlicher war die Lage des Reiches, als diesem aufgrund des Wahlerfolgs der Nationalsozialisten am 14. September 1930 ausländische Kredite abgezogen wurden. Nun waren Reichsbank und Reichsfinanzministerium auf einen 125-Millionen-Dollar-Überbrückungskredit von einem ausländischen Bankenkonsortium unter Führung des US-Bankhauses Lee, Higginson & Co. angewiesen. Doch das Darlehen wurde dem Reich nur unter hochpolitischen Bedingungen gewährt: unter anderem die Einbringung und Verabschiedung eines Schuldentilgungsgesetzes im Reichstag sowie die Auflage eines drastischen Haushaltssanierungsplanes.
Die Auflagen des Konsortiums kamen Brüning nicht ungelegen. Sein Ziel war es ohnehin, die Defizite durch die Aufnahme eines Kredits und eine rigorose Sparpolitik zu beseitigen. So mussten Länder und Gemeindeverbände mit gekürzten Reichsüberweisungen und die Kommunen mit den Belastungen der Wohlfahrtsfürsorge rechnen, die Beiträge der Arbeitslosenversicherung sollten erhöht und diese vom Reichshaushalt abgekoppelt, zudem der öffentliche Wohnungsbau eingeschränkt sowie Löhne und Gehälter gekürzt werden.
Neoklassische Agenda
Solch eine neoklassische Agenda genießt gegenwärtig wieder die Deutungshoheit: Demnach krankten die Volkswirtschaften Südeuropas an einem Lohnniveau, das über der gesamtwirtschaftlichen Produktivität liege, und besäßen deshalb eine zu geringe Wettbewerbsfähigkeit. Erhöht werden könne diese nur durch eine Absenkung des Lohn- und Preisniveaus. Das entspricht der wirtschaftstheoretischen Grundannahme der Industrieverbände in der Weimarer Zeit: überhöhte Produktionskosten als Hauptursache der Wirtschaftskrise.
Da für die Regierung Brüning die höchste Priorität auf dem Finanzausgleich lag, kombinierte sie Steuererhöhungen mit Ausgaben- und Gehaltssenkungen. Im Zuge von insgesamt vier „Notverordnungen zur Sicherung der Steuern und Finanzen“ erhöhte sie unter anderem die Umsatz-, Lohn- und Einkommensteuer. Dagegen wurden im öffentlichen Dienst mehrfach Gehaltssenkungen und die Herabsetzung der Pensionen und Renten, der Kriegsopfer-, Kranken- und Arbeitslosenunterstützung angeordnet. Unschwer ist zu erkennen, wie all dies den seit 2010 Griechenland auferlegten Maßnahmen gleicht.
Ähnlich wie die Bundesbank heute lehnte die Reichsbank damals die Alternative einer expansiven Geldpolitik ab. Die Interessen der entscheidenden Akteure um Brüning hatten ähnliche Hintergründe wie die Schäubles und seiner Gefolgschaft: Internationales Schuldenkarussell, Bankenkrisen, Inflationsfurcht. Damals wie heute herrschte ein deflationärer Konsens in Regierung, Zentralbank und Industrie. Brüning wollte die Krise nutzen, um den Weimarer „Reformstau“ aufzulösen, sprich die von den Industrieverbänden als Hemmnis empfundene sozialstaatlich-korporatistische Struktur zu beseitigen. Die Industrie nutzte die Gunst der Stunde, um Brünings Preissenkungspolitik an die Bedingung einer Senkung der Löhne zu koppeln und diese somit zur Entmachtung der Gewerkschaften zu instrumentalisieren.
Doch Brünings Deflationspolitik, von allen staatstragenden Parteien der Weimarer Republik mehr oder weniger gestützt, ist nicht losgelöst von den Reparationsverpflichtungen des Deutschen Reiches zu sehen. Seit 1979, nicht zufällig also gegen Ende der keynesianischen Ära in der Wirtschaftspolitik, schwelt ein wirtschaftshistorischer Streit darüber, ob und wie weit Brüning zum Sparkurs mit seinen fatalen Auswirkungen gezwungen gewesen sei. Damals wurde die Weimarer Regierung – so die These der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt und Albrecht Ritschl – von den Siegermächten gehindert, die Schuldenkrise mit einer expansiven Geldpolitik und einer Währungsabwertung zu bekämpfen. So musste das Reich gezwungenermaßen versuchen, seine Wettbewerbsfähigkeit durch Preissenkungen und Lohnkürzungen zu erhöhen.
Diese Debatte könnte aktueller nicht sein – nur dass es heute der Schuldner von damals ist, der unter Schäubles Ägide im Stile einer „ökonomischen Siegermacht“ dem Süden jene Deflationspolitik verordnet. Die Abkommen heißen diesmal nicht Dawes- oder Young-Plan, mit denen einst die Zahlungsmodalitäten der Reparationen geregelt wurden, sondern Fiskalvertrag, Euro-Rettungsfonds und Währungsunion.
Die Reparationsgläubiger stellten zeitweise Forderungen an das Reich, die 700 Milliarden Euro in 66 Jahresraten entsprechen. Die heutigen Schuldnerländer befinden sich in einer ähnlichen postdemokratischen Zwangslage wie die Weimarer Republik unter den Auflagen des Dawes- und des Young-Plans: keine kreditfinanzierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, hohe Zinsen für Staatschulden, keine Möglichkeit der Währungsabwertung. Stattdessen eine Sparpolitik, die auch deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil das stärkste Euroland trotz einer beneidenswerten konjunkturellen Lage ebenso spart und damit der Eurozone die Nachfrage entzieht.
Mit der Rückkehr der Troika nach Athen, durch Aufnahme des Euro-Rettungsfonds zur Quadriga mutiert, setzt sich die Entwicklung hin zu einem autoritären Kapitalismus fort. Auch die Regierung Brüning verkam zu einem bürokratischen Verordnungsregime. Deren insgesamt 109 Notverordnungen gegenüber lediglich 29 vom Reichstag ordentlich verabschiedeten Gesetzen leiteten das Ende des Parlamentarismus und den Beginn der Präsidialkabinette ein, die letztendlich den Weg zu Hitlers Machtergreifung ebnen sollten. Brüning gelang es damals zwar, die Ausgaben des Reiches zu reduzieren. Doch statt dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts näher zu kommen, stiegen Reichsschuld und Haushaltsdefizit rapide an, vor allem weil das Bruttoinlandsprodukt zwischen 1929 und 1932 um 20 Prozent einbrach. Die Folge war eine Verdopplung der Arbeitslosigkeit binnen zwei Jahren von 2,8 auf 5,7 Millionen Menschen. Inklusive einer plausiblen Dunkelziffer dürften auf dem Höhepunkt 44 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos gewesen sein.
Wie heute waren es damals politische Interessen, welche die Gläubiger viel zu lange nicht auf die katastrophale wirtschaftliche Situation Deutschlands reagieren ließen. Stattdessen beharrten sie auf der strikten Einhaltung der Reparationsverpflichtungen. Erst im Juni 1931 wagte US-Präsident Herbert Hoover einen Politikwechsel, indem er ein Schuldenmoratorium vorschlug. Doch weil sich Frankreich, das in seiner damaligen Unerbittlichkeit dem heutigen Deutschland glich, zwei Wochen lang sperrte, war der positive psychologische Effekt bereits verpufft, als das Moratorium Anfang Juli doch abgesegnet wurde. Das globale Finanz- und Währungssystem sollte eine Woche später durch das Ausbrechen der deutschen Bankenkrise in seinen Grundfesten erschüttert werden.
Keynes’ Prophezeiung
Was John Maynard Keynes 1919 in seiner Schrift üder den Versailler Vertrag prophezeite, ist in der gegenwärtigen Konstellation wieder brandaktuell: Vor dem Hintergrund der immensen Reparationsforderungen stellte er die „Demokratien Westeuropas“ vor die Alternative, Deutschland zu helfen, „einen Teil seines früheren wirtschaftlichen Wohlstandes wiederzugewinnen“, oder den „Ruin Mitteleuropas“ zu verantworten.
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