Virulentes Wechselfieber

Energiegipfel Nächste Woche wird erneut über zukünftige Energiepolitik verhandelt. Um die Interessen der Verbraucher geht es wieder nur am Rande

Die große Mehrheit der Bundesbürger ist für die Beibehaltung des Atomausstiegs oder sogar dessen Beschleunigung. Dennoch bezieht ein beträchtlicher Teil von ihnen Strom von einem der vier Atomstromproduzenten E.on, Vattenfall, RWE oder EnBW. Diese atomkritischen Verbraucher haben spätestens seit vergangener Woche ein Problem. Konnten sie bis dahin noch glauben, die Großkonzerne würden, wenn auch gezwungener Maßen, den Atomausstieg verfolgen, hat sich nun die Lage geändert. Denn RWE hat den Atomkonsens vergangene Woche aufgekündigt, indem der Konzern den Weiterbetrieb des Altreaktors Biblis A beim Bundesumweltministerium beantragt hat - so sehen es jedenfalls die Umweltverbände. RWE aber auch die anderen drei Branchenriesen werden verdächtigt, dasselbe noch für andere Reaktoren zu beabsichtigen, die in dieser Legislaturperiode abgeschaltet werden müssten - das sind die AKW Brunsbüttel (Vattenfall, E.on), Neckarwestheim (EnBW) und Biblis B (RWE). Die Atomkonzerne scheinen darauf zu spekulieren, die Abschaltung ihrer alten Reaktoren bis zu einem Regierungswechsel 2009 hinauszögern zu können, der dann einen "Ausstieg aus dem Ausstieg" bringen könnte. Bundesumweltminister Gabriel (SPD) will zunächst den RWE-Antrag prüfen. Gerade erst hat der schwere Störfall im schwedischen Forsmark gezeigt, dass Notfallpläne auch in vermeintlich sicheren Anlagen versagen können. Doch Biblis A wirft derzeit etwa ein bis zwei Millionen Euro Gewinn ab - pro Tag. Die will RWE sich nicht entgehen lassen, und spielt daher die Gefährdung herunter, die der 32 Jahre alte Pannenreaktor darstellt.

RWE hat den Versuchsballon pünktlich zur Vorbereitung des zweiten Energiegipfels am 9. Oktober steigen lassen. Stoff für einen erneuten Streit der Kontrahenten um Wirtschaftsminister Glos (CSU) und Bundesumweltminister Gabriel ist vorprogrammiert. Bereits im April fand ein erster Energiegipfel statt, mit - zumindest für die Verbraucher - dürftigen Ergebnissen: Man drückte sich um eine Vereinbarung herum, die für mehr Wettbewerb auf dem Strom- und Gasmarkt gesorgt und die Preise gesenkt hätte. Der Blick auf andere EU-Staaten zeigt: deutscher Strom ist überdurchschnittlich teuer. Die Wirtschaft schiebt dem Staat die Schuld an den hohen Strompreisen zu. Tatsächlich machen Steuern und Abgaben circa 40 Prozent, die Netzentgelte ein Drittel und die eigentliche Erzeugung nur ein Viertel des Endpreises aus.

Nun senkte erst kürzlich die Bundesnetzagentur (BNetzA) die Netzentgelte um bis zu 18 Prozent und kündigte auch eine Überprüfung der Stadtwerke an. Ob sich dies jedoch in Zukunft positiv auf die Preise niederschlägt, wird von den Verbraucherverbänden bezweifelt, schließlich haben viele Stromanbieter bei den Regulierungsbehörden der Länder eine Erhöhung der Stromtarife zum 1. Januar 2007 beantragt. Die Länder, die derzeit noch die Stromentgelte beaufsichtigen, fordern deswegen die Verlängerung der Genehmigungspflicht für Strompreise, die nach dem Energiewirtschaftgesetz (EnWG) zum 1. Juli 2007 entfallen soll. Die Großkonzerne sehnen diesen Termin herbei, ab dem sie freie Hand bei der Preisgestaltung haben. Eine mögliche Verlängerung der Preisaufsicht beantworten sie mit allerlei Drohungen: EnBW-Chef Claassen rechnet mit erhöhten Kosten für die Stromerzeugung um 20 bis 50 Prozent und einem damit einhergehenden Anstieg der Strompreise für die Endverbraucher. Auch die Zusage vom April-Gipfel, bis 2012 rund 71 Milliarden Euro in Kraftwerke, Netze und erneuerbare Energien zu investieren, knüpfen die Energieunternehmen nun an den Fall der Preisaufsicht.

Die marktbeherrschende Stellung der vier großen Netzbetreiber RWE, E.on, EnBW und Vattenfall, die laut Kartellamt zusammen über 90 Prozent der Kraftwerkskapazitäten verfügen, ist der Politik ein Dorn im Auge. Deshalb kündigte Wirtschaftminister Glos im Vorfeld des anstehenden Energiegipfels an, das Kartellrecht zu verschärfen. Umweltminister Gabriel drohte sogar mit der eigentumsrechtlichen Trennung von Leitungsnetz und Energieerzeugung. Die vier großen Netzbetreiber stehen in Verdacht, ihre marktbeherrschende Stellung auszunutzen und Konkurrenten den gleichen Zugang zu den Netzen zu erschweren. Die Regulierung der Netzentgelte durch die BNetzA soll allen Stromerzeugern den gleichen Marktzugang garantieren. In mehr als der Hälfte der EU-Staaten sind Netz und Energiegeschäft bereits entflochten, auch die Verbraucherverbände und die Ökostrom-Anbieter plädieren dafür, denn ein selbstständiges Netz ist die Voraussetzung für fairen Wettbewerb.

Dass die Großkonzerne trotz Atomausstieg nicht von ihren Altreaktoren ablassen wollen und dabei auf offene Ohren bei CDU und CSU stoßen, sorgt in der SPD für Ärger. Das Energiethema stellt die große Koalition, die durch die Gesundheitsreform bereits angekratzt ist, zusätzlich auf eine Belastungsprobe. Daher wird die Kanzlerin versuchen, auf dem Energiegipfel keinen Streit über Laufzeitverlängerung und Atomausstieg aufkommen zu lassen.

Derweil liegt es in der Hand der atomkritischen Verbraucher, den Atomstrom selbst abzuschalten. Die Umweltverbände sind so empört über die Frechheit von RWE, Schrottreaktoren weiter betreiben zu wollen, dass sie nun an die Verbrauchermacht appellieren. Ein breites Bündnis aus BUND, Greenpeace, Robin Wood, IPPNW und X-tausend-mal-quer hat sich zusammengeschlossen und ein Internetportal eingerichtet, das es Stromkunden in fünf Klicks ermöglicht, auf Ökostrom umzusteigen. Die Umweltverbände möchten ein Wechselfieber anregen und mit diesem Quasi-Boykott Druck auf die Großkonzerne ausüben. Die Angst vieler Verbraucher, Ökostrom sei wesentlich teurer, wissen die Umweltverbände zu zerstreuen: In manchen Regionen fährt man mit der grünen Energie sogar billiger, durchschnittlich ist dieser Strom circa zwei Euro im Monat teurer. Das könnte es einem wert sein.

Weitere Infos: www.atomausstieg-selber-machen.de oder Tel: 0800-7 62 68 52

Am 7. 10. 2006 findet in Berlin eine Anti-Atom-Konferenz der Linkspartei statt. Weitere Informationen: www.oekologische-plattform.de


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