Frau Merkel in der Go-Area

Bürgerdialog Die Kanzlerin besucht den „Problembezirk“ Duisburg-Marxloh. Wie klappt’s dort mit der Integration?
Ausgabe 35/2015

Vor dem Duisburger Hotel Montan stehen mehr als 100 Menschen. Viele von ihnen haben Botschaften an die Bundeskanzlerin dabei – wenn Angela Merkel schon mal hier ist. Bernd zum Beispiel ist Rentner. „Ich stehe hier, um gegen Atomwaffen zu protestieren.“ In der Hand hält er eine Rede aus dem Jahr 1985. „Als Friedensaktivist bin ich seit über 30 Jahren auf der Straße.“ Einige Jugendliche schwenken eine Palästina-Fahne. Warum, das können sie nicht erklären. Sie sind von der Politik-AG ihrer Schule, sagen sie. Eine linke türkische Gruppe trägt Schilder mit der Aufschrift „Gegen die Kriminalisierung von Migranten“.

Angela Merkel besucht Duisburg, auch den als „Problembezirk” verschrienen Teil Marxloh. Die Stadt steht für die sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen im Ruhrgebiet. Stichworte: Zuwanderung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität. Die Kanzlerin kommt her, um mit den Bürgerinnen und Bürgern zu reden, eine weitere Folge in der Reihe „Gut leben in Deutschland“. Bei einer der vorherigen Veranstaltungen hatte die Kanzlerin einem Flüchtlingsmädchen in Rostock trocken erklärt, dass nicht jeder in Deutschland bleiben könne. Die 14-Jährige war daraufhin in Tränen ausgebrochen. Für Merkel war es eine PR-Katastrophe.

Nun ist die Bundeskanzlerin also in Duisburg zu Gast, und damit sitzt sie auf einem Pulverfass. In den vergangenen Tagen wurden in ganz Deutschland immer wieder Flüchtlingsunterkünfte angegriffen, und im Duisburger Stadtteil Marxloh sieht man deutlich die Probleme im Zusammenleben. Was soll sie sagen?

Die Kanzlerin tritt launig und bürgernah im Salon des Hotels auf. Als einem Diskussionsteilnehmer eine Flasche Wasser herunterfällt, eilt die Kanzlerin herbei und hebt die Flasche auf. Zur Begrüßung sagt sie, bei der Auswahl Marxlohs für die Veranstaltung habe man „nicht unbedingt einen Fehler gemacht“. Der Stadtteil habe dadurch Aufmerksamkeit bekommen. Darüber freut sich auch Halil Özet. Der Filmemacher und entschlossene Werber für ein anderes, besseres Marxloh fungiert während des Besuchs der Kanzlerin als Gastgeber. In seinem Haus, dem „Medienbunker“, findet ein Workshop für die Bürger statt, die zum Dialog mit Angela Merkel geladen sind. Worüber er sich nicht freut, ist der Stempel: Marxloh als „No-Go-Area“ für die Polizei. Der Medienrummel trage dazu bei, den Stadtteil in eine Abwärtsspirale zu ziehen. „Es ist jetzt viel schwieriger, für Marxloh zu werben. Die Berichterstattung war extrem negativ.“

Rund 500.000 Menschen leben in Duisburg, davon knapp 20.000 in Marxloh. Beinahe die Hälfte von ihnen hat einen Migrationshintergrund, die Einwanderer aus der Türkei bilden die größte Gruppe. Die „Hochzeitsmeile“ an der Weseler Straße ist unter türkischen Migranten in ganz Deutschland bekannt. Hier reihen sich ungezählte Geschäfte aneinander, für Hochzeitskleider, Schmuck und Accessoires.

Auch das religiöse Leben wird von den Migranten geprägt. Mit der Merkez-Moschee steht in Marxloh eines der größten und prachtvollsten islamischen Gotteshäuser in Deutschland. Die Moscheegemeinde ist offen, Besucher sind gern gesehen. In der integrierten Begegnungsstätte gibt es Vorträge zum Islam, Sprachförderung und Hausaufgabenbetreuung. In Kooperation mit der katholischen Familienbildungsstätte organisiert die Gemeinde ein internationales Frauenfrühstück, das abwechselnd in der Moschee und in der Familienbildungsstätte stattfindet.

Mehmet Özay ist in der Moschee aktiv. Er wünscht sich von Merkel einen Spaziergang durch den Stadtteil, damit diese ein „ehrliches Bild“ von Marxloh erhalte. Doch dafür hat die Kanzlerin keine Zeit, sie bleibt mit 60 Bürgerinnen und Bürgern im Saal des Hotel Montan.

Ordnung und Sauberkeit

Beim Bürgerdialog geht es um alles Mögliche. Bildung, Zuwanderung, Infrastruktur. Der Besitzer eines Brautmodengeschäfts erzählt der Kanzlerin: „Wir fühlen uns von den Zuwanderern belästigt.“ Menschen aus Bulgarien und Rumänien lungerten auf der Straße herum und machten Müll und Lärm. „Die kennen die Gepflogenheiten hier nicht“, beschwert er sich. Die Kanzlerin antwortet, 2.000 Einwanderer seien eine große Herausforderung für den Stadtteil. Es ist das Thema, das den Menschen auf den Nägeln brennt.

Mehmet Özay von der Merkez-Moschee wünscht sich, dass Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien „an die Hand genommen werden“, um ihnen den Start in das Leben in Deutschland zu erleichtern. Doch das sehen nicht alle Marxloher Türken so, viele von ihnen schimpfen auf die neuen Zuwanderer, einige sprechen schon von einem „Zigeunerproblem“. Hinter vorgehaltener Hand erzählt ein junger Mann, die Türken im Stadtteil seien mittlerweile deutscher als die Deutschen. Er sagt: „Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit sind denen in Fleisch und Blut übergegangen.“

Und dann gibt es da noch die Clanstrukturen libanesischer Familien und die verschiedenen Rockerclubs, die um Duisburg als Revier kämpfen. In Marxloh sollen sich die Hells Angels mit einem libanesischen Clan verbündet haben. Gerüchte machen im Stadtteil die Runde, es soll Erpressungen und Bedrohungen gegeben haben. Reden will darüber niemand.

Die Polizei mahnt zu einem nüchternen Blick. Ramon van der Maat ist ihr Sprecher in Duisburg, er berichtet von nächtlichen Einsätzen, bei denen über 100 Einwanderer aus Südosteuropa auf Wiesen säßen, grillten und die Nachtruhe störten. Solche Einsätze seien für die Polizei zwar unangenehm, aber zu stemmen. Auch sei die Kriminalität in Duisburg laut Statistik nicht nennenswert in die Höhe gegangen. Medienberichte, in denen behauptet werde, die Polizei traue sich nur noch in Mannschaftsstärke nach Marxloh und warne vor einer „No-Go-Area“ für Polizisten, weist er als „Schwachsinn“ zurück. Ja, in Marxloh gebe es problematische Einsätze, die Polizei fahre aber noch immer in „normaler Einsatzstärke“ raus.

Die eigentlichen Probleme

Die Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien stellen für Duisburg-Marxloh auf lange Sicht kein Problem dar. Im Moment fehlt es jedoch an Beratungsangeboten und Hilfestellungen für die Neubürger. Duisburg ist, wie fast alle Städte im Ruhrgebiet, so gut wie pleite. Auch um die medizinische Betreuung der Einwanderer steht es schlecht, viele von ihnen sind nicht krankenversichert.

Der Vorsitzende der Bürgerstiftung Duisburg, Manfred Berns, möchte die Probleme von Marxloh daher auch nicht nur im Kontext von Migration diskutieren: „Nach meiner Auffassung gibt es in Marxloh keine isolierte Migrationsfrage. Das wird uns angedichtet. Unsere Herausforderungen sind in Wahrheit Armut, fehlende Bildung und Erziehung, auch die mangelhafte Teilhabe an Kultur und Erwerbstätigkeit. Für so komplexe Fragen gibt es nun einmal keine einfache Antwort. Unserer Bürgerstiftung geht es also nicht um einzelne Aspekte wie Asyl oder etwa eine bestimmte Ethnie. Uns interessieren Zusammenhänge und Lösungswege.“

Sebastian Weiermann arbeitet als freier Journalist im Ruhrgebiet und schreibt unter anderem für das Blog ruhrbarone.de

Auch Halil Özet vom „Medienbunker“ interessiert sich mehr für Lösungen als für Probleme. Im Frühjahr beteiligten sich die Menschen aus dem Medienbunker an der Organisationen eines Kongresses, zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung, Thema: Ungleichheiten in der Demokratie. Ein Ziel des Kongresses war der Dialog zwischen Menschen, die in der politischen Bildung tätig sind, und den Bürgern aus Marxloh. Özet zeigte einen Film mit Jugendlichen aus dem Stadtteil. Ein Junge aus Bulgarien äußert darin seinen Traum, Bauarbeiter zu werden. Ein Traum, den wohl die wenigsten Kongressteilnehmer nachvollziehen konnten – fast alle sind Akademiker. Wenn es darum geht, Lösungen für Marxloh zu entwickeln, sind kaum Arbeiter dabei.

Aber auch Ausländer sind unterrepräsentiert, das ist auch Thema beim Bürgerdialog mit Angela Merkel. „In der Bezirksvertretung sitzt kein einziger Migrant“, sagt ein Diskussionsteilnehmer. Die Bundeskanzlerin wirkt überrascht. „Das ist nicht repräsentativ und muss sich ändern“, erklärt sie. Die CDU habe lange versäumt, Migranten aufzunehmen. Jetzt verspricht die Kanzlerin, mit dem Ortsverein darüber zu reden. Dann reist sie ab.

Lesen Sie zum Thema auch das Interview mit dem Vorsitzenden der Bürgerstiftung Duisburg, Manfred Berns unter freitag.de/marxloh

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