Ein halbes Jahr lang hat sich Tobias Ginsburg unter Reichsbürger, Souveränisten und Rechtsextremisten gemischt. Alias Tobias Patera, „Journalist der alternativen Szene“ und Betreiber der Website „Der-Widerstand.com“, lernte er die Akteure der Bewegung aus nächster Nähe kennen. Sein Einstieg in die Szene gelang ihm dabei erschreckend schnell. Nach Erstellung eines Facebook-Accounts dauerte es nur wenige Tage, bis er Teil eines mehr als tausend User umfassenden Netzwerks war: „Ein, zwei E-Mails und ein Telefonat reichen (...), schon sitze ich (...) bei alternativen Stammtischen und Reichsbürgergrüppchen.“
Seine Reise ins Reich besteht aus drei Etappen. In der Reise an den Rand des Wahnsinns trifft Ginsburg auf die Anhänger des mittlerweile zwangsgeräumten „Königreichs Deutschland“ bei Wittenberg, dessen Begründer Peter Fitzek zurzeit unter anderem wegen Untreue im Gefängnis sitzt. Die Reise an die Querfront hingegen führt ihn nach Kassel zu der Kleinpartei „Die deutsche Mitte“, der Verschwörungstheoretiker wie der ehemalige „ARD-Sonderkorrespondent“ Christoph Hörstel angehören. Zuletzt begegnet der Autor in Die Reise ins gute, alte Deutschland dem Rechtspopulisten Jürgen Elsässer.
Gekonnt bündelt Ginsburg Interviews, schlägt Brücken zu tagespolitischen Ereignissen und zieht politikwissenschaftliche Quellen heran. Seine Herangehensweise lässt sich mit der soziologischen Methode der teilnehmenden Beobachtung vergleichen. Sie erinnert ebenso an die Reportagen Günter Wallraffs.
Ginsburgs Buch ist aber zugleich ein autofiktionales Selbstexperiment. Er setzt seine Identität aufs Spiel, wenn er seine Vergangenheit zu der seines Alter Egos macht: „Mein Gesicht, meine Biografie, zehn Jahre in der Kulturszene, dann der Absturz.“ Bei der Undercover-Recherche setzt sich Ginsburg, der selbst Jude ist, der ständigen Gefahr aus, enttarnt zu werden, etwa wenn er die Nähe von Holocaust-Leugnern ertragen muss: „Ich weiß schon, es ist total populär, wenn Juden meiner Generation Witze über den Holocaust machen (...). Mit Verlaub, fickt euch. Ich find’s immer noch nicht lustig (...). Wenn ein zerknautschter Thomas Patzlaff (...) mir erklärt, dass es in den KZs logistisch gar nicht möglich gewesen sei, ‚die alle zu verheizen‘, dann fallen mir keine Witze ein.“
Angst davor, genauso zu sein
Dennoch sind es gerade Mittel wie Spott, Ironie oder Provokation, die den Ton des Buches tragen. So entlarvt der Autor seine Gesprächspartner. Einem serbischen Rechtsextremisten macht er Mut, sich doch endlich frei heraus zu bekennen: „Ich bin ein Nazi“, nur um ihn dann zu der Einsicht zu führen, dass er ja eigentlich nicht nach Deutschland gehöre, was der dann auch folgsam einsieht. Von Elsässer dagegen fordert er bei einer Kundgebung, nun endlich einmal den politischen „Gegner“ klar zu benennen. Aber man raunt ihm nur etwas von „Ostküstenglobalisten“ entgegen.
Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis Ginsburg vom Rollenspiel selbst in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Recherche gerät zur Obsession. Einmal fragt ihn eine Freundin, warum er sich „sehr viel länger im Reich“ herumtreibe, als er ursprünglich gewollt habe. „Vielleicht“, überlegt er, „will ich verstehen, wo die Grenze zwischen uns und ihnen verläuft. Womöglich habe ich Angst, dass es eine solche Grenze nicht gibt.“ Allmählich färbt die Ideologie der Reichsbürger ab. Bei einer Begegnung mit einem ihrer Anhänger überkommen ihn Gewaltfantasien: „Vielleicht sollte ich ihm in den Nacken greifen, ihm meine Finger so richtig schön ins Fleisch treiben und ihm sagen, dass er mich zu respektieren hat (...). Darauf hätte ich auch Lust.“
Das Narrativ der „Reise“, das Ginsburg für seine Reportage verwendet, stammt ebenso wie sein Pseudonym aus dem 1909 erschienenen „phantastischen Roman“ Die andere Seite von Alfred Kubin. Kubins namenloser Ich-Erzähler wird von seinem Jugendfreund Claus Patera in ein Traumreich eingeladen. Dieser „Zukunftsstaat“ wird von einem „außerordentlich tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche“ zusammengehalten. Fasziniert zieht der Erzähler mit seiner Frau nach „Perle“, der im ewigen Zwielicht liegenden Hauptstadt. Schon bald aber stellt sich die Übersiedlung als Fehler heraus. Das gelobte Land ist ein Polizeistaat. Und ein vom Boden ausgehender „Geruch“ versetzt seine hypersensitiven Bewohner allmählich in eine kollektive Psychose. Die Frau des Erzählers verfällt dem Wahnsinn und stirbt. Als dann Herkules Bell, ein diabolischer Amerikaner mit „Hakennase“ – Kubins Buch ist voll von antisemitischen Klischees – auftaucht, ist der Untergang des Traumreichs besiegelt. Es kommt zu Plagen, Aufständen, Vergewaltigungen und Massentötungen. Am Ende versinkt „Perle“ im Erdboden und Patera, wohl nur die Marionette geheimnisvoller blauäugiger Wesen, stirbt.
Aus heutiger Sicht ist es leicht, den Untergang des Traumreichs als Vorwegnahme des Zusammenbruchs der europäischen Monarchien am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu deuten. Eine beunruhigende Parallele zwischen den Reichsbürgern und Kubins Traumstädtern besteht in ihrer Hinwendung zum Mythischen als Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierungen. Die Idee eines Reichs macht die Frage nach „politischer Zugehörigkeit“ zu einer Frage der Ästhetik. Sie reduziert die Komplexität der Welt auf eine basale Unterscheidung: „die Mächtigen und die Untertanen“. In ihrem kollektiven Solipsismus glauben viele Reichsbürger ähnlich wie Kubins Traumstädter: „Die Welt ist doch nur ein Traum.“
Von diesem eher „albtraumfarbenen Mist“ hat Ginsburg irgendwann genug. Als er einen Rechtsextremisten trifft, der ihm nach zwei Radlern und einer halben Grillplatte den Plan offenbart, eine deutsch-völkische Enklave im russischen Kaliningrad gründen zu wollen, lässt er sein Alter Ego Patera sterben. Mit einer trotzigen Geste der Banalisierung wendet er sich vom Reich des Wahns ab, um sich später in seinem Hotelzimmer Matrix Revolutions anzuschauen.
Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern Tobias Ginsburg Das neue Berlin 2018, 266 S., 17,99 €
Die andere Seite. Ein phantastischer Roman Alfred Kubin Rowohlt 2010, 249 S., 9,99 €
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