Zu Sowjetzeiten wurde der Fernseher auch bei uns "Kiste" genannt. "Was gibt´s heute in der Kiste", fragte man sich allabendlich in der Familie. Obwohl das leicht zu erraten war. Wie fast alle Lebensbereiche in der Sowjetunion war auch das Fernsehen streng reglementiert. Im Russischen hat das Wort dafür, Televidenie, übrigens einen seltsamen Klang: Die erste Hälfte, Tele kommt aus dem griechischen, die zweite, videnie ist von einem russischen Verb abgeleitet; es ist so, als würde man auf deutsch vom Telesehen sprechen - ein ziemlich grobes Verschweißen zweier Sprachen.
Dabei gäbe es allen Grund, die Fernübertragung von bewegten Bildern und Tönen mit einem genuin russischen Wort zu benennen, waren doch russische Forscher wesentlich an dieser Erfindung beteiligt. Porfirij Bachmetjew (1860-1913) zum Beispiel, besonders aber Wladimir Zworykin (1889-1982), der Erfinder des "Ikonoskops" - der ersten übertragenden Fernsehröhre.
Tatsächlich ist das Schicksal des russischen Fernsehens nicht weniger schräg als das russische Wort dafür. Und in mancherlei Hinsicht ebenso bitter wie das Schicksal ihres Erfinders: Als Offizier der zaristischen Armee sah sich Zworykin nach 1917 gezwungen, ins Exil zu gehen. Er emigrierte in die USA, wo er mit seinen Erfindungen Weltruhm erlangte. In der UdSSR, wo die Ausstrahlung 1939 begann, blieb das Fernsehen lange Jahre ein exotisches Vergnügen für den engen Kreis der Parteifunktionäre. Erst nach dem Tode Stalins entwickelte es sich zum einflussreichen Massenmedium.
Trotzdem kannte das sowjetische Fernsehen, das immerhin das flächenmäßig größte Land der Erde versorgte, nur drei überregionale Kanäle, von denen einer ausschließlich Bildungsprogramme übertrug. Zwar gab es dazu noch in den meisten Gegenden einen Regionalsender, aber dessen Bedeutung war sehr eingeschränkt: Lediglich abends, für drei bis vier Stunden, gab es hier Nachrichten, ein paar Interviews und eine kurze Kinder-Sendung, die traditionell überall Gute Nacht, ihr Kleinen hieß. Für die kommunistische Denkweise, die nur schwer mit Vielfalt umgehen konnte, hätte eine Ausweitung nur einen Verlust an Überblick bedeutet. Außerdem empfahl es sich, analog zum Märchen, nicht mehr als drei Mal das Gleiche zu erzählen: zwei Mal auf den überregionalen Kanälen, ein Mal im regionalen Senders.
Die berühmte Nachrichtensendung Vremja (Die Zeit) kam täglich um 21 Uhr Moskauer Zeit im Ersten und Zweiten. So war man gezwungen, sie zu sehen: es gab einfach nichts anderes. In den langen Jahren der Breschnew-Regierung - nicht zufällig als Stagnationsperiode bezeichnet - konnte man Wetten abschließen darüber, mit welchen Worten die Nachrichten begannen. Entweder: "Heute hat Leonid Iljitsch Breschnew ..." oder: "Heute hat Generalsekretär Leonid Iljitsch Breschnew ..." Eine dritte Variante existierte nicht.
Natürlich gab es auch schon zu Chrustschows Tauwetter "unpolitische" Sendungen, prompt dazu verurteilt, bei den Zuschauern beliebt zu sein. Das war zum Beispiel der Klub der Kinoreisenden, der den sowjetischen Bürgern Länder und Städte zeigte, in die sie nie gelangen konnten. Oder Kinopanorama, eine Sendung, in der auch über das internationale Filmschaffen gesprochen wurde, für Sowjetbürger in der Regel ebenso Terra incognita. Ganz besonders populär aber war die Spielshow KVN, der Klub der Fröhlichen und Einfallsreichen, in der Studenten sich im Kabarett gegenseitig Konkurrenz machten. Am Anfang noch live übertragen, wurde die Sendung, sobald die Technik es erlaubte, vorher aufgezeichnet, damit verdächtige Scherze rechtzeitig rausgeschnitten werden konnten.
Manchmal ertönte anstelle des vorgesehenen Programms sinfonische Musik, in der Regel in Moll. Das war das sichere Anzeichen dafür, dass ein hoher Parteifunktionär das Zeitliche gesegnet hatte. Die Beerdigung auf dem Roten Platz wurde dann im Fernsehen übertragen. Genauso ausführlich wie Parteitage, Komsomol-Kongresse und Ähnliches. Diese beharrlichen Versuche, dem Volk Liebe und Verehrung zur Partei einzuflößen, konnten es dennoch nie an Beliebtheit mit Fußball- oder Hockeyübertragungen aufnehmen.
Die strenge Dosierung der Unterhaltungsprogramme hatte manchmal etwas geradezu Diabolisches: So konnte es geschehen, dass ausgerechnet in der Osternacht, wenn viele zur Mitternachtsmesse in die Kirchen strömten, das Fernsehen vollkommen überraschend ein Konzert mit der ungeheuer populären, aber sonst nur selten in den Medien vertretenen Alla Pugatschowa ausstrahlte.
Im heutigen Russland sieht alles ganz anders aus als noch vor 15 Jahren - in mancherlei Hinsicht aber auch nicht. Nach wie vor gibt es nur eine kleine Anzahl überregionaler Kanäle - heute sind es sechs, drei davon sind Staatssender: RTR, RTR-Kultura, RTR-Sport. Reklame, in der UdSSR nicht existent, läuft nun ständig und ohne jede Beschränkung - so wird kurz vor dem morgendlichen Zeichentrickfilm für Kinder noch für Zigaretten, Bier oder Kondome geworben. Nur auf Kultura, wo Konzerte, Filmklassiker, Theaterinszenierungen und Kulturmeldungen gesendet werden, gibt es keine Werbung; es ist der einzige Kanal, den man ohne Befürchtungen vor Kindern einschalten kann.
Auf den übrigen Sendern herrschen nordamerikanische Filme und südamerikanische Seifenopern vor. Letztere werden allerdings zunehmend von einheimischer Serien-Produktion verdrängt. Der Plot ist dabei stets derselbe: Ein Mann, durch halb- oder ganzkriminelle Methoden zu Reichtum und Macht gekommen, bekommt entsprechende Probleme. Viel Blut fließt und viel wird gemunkelt über das undurchschaubare Geflecht von Verbrechen, Kapital und Macht. Außer den üblichen Verdächtigen werden auf jeden Fall auch zwei bis drei sehr schöne Frauen umgebracht. Und das Ende - bleibt in der Regel offen.
Eine eigenartige Ergänzung zu diesen Milieu-Soaps bilden Sendungen wie Nachrichten von der Wache, Straßenkontrolle, Kriminelles Russland, Der ehrliche Detektiv, in denen ausführlich von realen Verbrechen erzählt wird. Die skandalträchtigste dieser Sendungen heißt zwar Moment der Wahrheit, entgegen solchen Versprechungen im Titel dienen all diese Sendungen aber eher ganz bestimmten kommerziellen oder politischen Interessen als der "Wahrheit".
Längst machen sich einflussreiche Persönlichkeiten die Medien zu Nutze, was auf deren Seite wahre Virtuosen der Telejournalistik hervorgebracht hat: Moderatoren, die ständig Kanäle, Auftraggeber und damit ihre politische Richtung wechseln. Wie zum Beispiel Sergej Dorenko, der gerade erst im Vorfeld der Wahlen wieder verstärkt auftaucht. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Wahlkampf ist im heutigen Russland vor allem ein "Krieg der Kompromate", das heißt der strategischen Veröffentlichung von kompromittierendem Material. Deshalb ist leicht zu erraten, was in nächster Zeit in der "Kiste" kommt: Skandale, wie sie Dorenko als Tradition begründet hat. Vor ein paar Jahren nämlich zeigte er in seiner Sendung ein Videoband, auf dem ein Mann beim munteren Treiben mit Prostituierten zu sehen war. Der Mann sah dem damaligen Generalstaatsanwalt sehr ähnlich. Der seinerzeit verantwortliche Intendant ist übrigens heute selbst Moderator und vereint diese Rolle mit dem Posten des Kulturministers.
In weniger als zehn Jahren hat sich das russische Fernsehen also vom sterilen, totalitären Massenmedium zum grotesken Schaubuden-Theater entwickelt, das in seiner Ausrichtung eher mit einem Rotlichtviertel wie der Reeperbahn zu vergleichen wäre. Man kann nur hoffen, dass trotz alledem weiter an einer Fernsehsprache gearbeitet wird, die nicht nur unterhält oder in Angst und Schrecken versetzt, sondern etwas für die Zivilgesellschaft in Russland leistet.
Das deutsche Wort Fernsehen klingt für mich manchmal wie "Fernsee". Erinnert nicht tatsächlich der dunkle Bildschirm mit seiner gewölbten Oberfläche an einen geheimnisvollen See? Und ist nicht die Informationsflut zu einem der wichtigsten Weltmeere geworden, ohne die die Menschheit nicht mehr leben kann? Man weiß nie, was die Wellen bringen werden: Klarsichtige Reinheit wie am Baikalsee, friedvolles Miteinander wie am Bodensee, gewaltiges Schauspiel vom Kampf zwischen Mensch und Natur wie an den Great Lakes - oder droht unterschwellig ein Ungeheuer wie in Loch Ness?
Übersetzung aus dem Russischen von Barbara Schweizerhof
Sergej Dmitrenko ist stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Literatura in Moskau, arbeitet als Literturwissenschaftler und Schriftsteller.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.