Unter dem Präsidenten Néstor Kirchner hat Argentinien während des vergangenen Jahres unverkennbar einen Schwenk nach links vollzogen. Bis auf weiteres gilt der Neoliberalismus der Ära von Carlos Menem, des Ex-Staatschefs, als obsolet. Auch wird die Verantwortung des Internationalen Währungsfonds (IWF) für die Überschuldung des Landes klar benannt.
In Argentinien geschieht Unglaubliches: Korrupte Funktionäre werden vor Gericht gestellt und nicht nur das - sie werden tatsächlich verurteilt! Zum Beispiel María Julia Alsogaray: Die elegant gekleidete Dame aus den höchsten Kreisen der Oligarchie muss nun ihren Pelzmantel ablegen und Sträflingskluft anziehen. Ex-Ministerin Alsogaray - die "Multi-Funktionärin", wie sie genannt wurde, betrieb Anfang der neunziger Jahre die Privatisierung etlicher argentinischer Staatsfirmen - ist zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Außerdem muss sie zwei Millionen Pesos aus ihrem Vermögen zurückgeben, für deren Herkunft überzeugende Erklärungen fehlen. Und das ist erst der Anfang - 27 Anklagen warten noch auf sie.
María Julia Alsogaray mit ihren Pelzen und Designertaschen personifiziert wie kaum eine andere Figur des ancien régime die Gier und Dreistigkeit der Regierungszeit des Peronisten Carlos Menem, der zwischen 1989 und 1998 über die Geschicke Argentiniens herrschte. Nun darf Alsogaray das Privileg auskosten, als Erste aus Menems illustrem Kabinett hinter Gitter zu müssen. Der Ex-Staatschef selbst lebt derzeit in Chile, und ein Auslieferungsgesuch aus Buenos Aires könnte für einen schnellen Rückflug sorgen. In einem CNN-Interview hatte er unvorsichtigerweise sein Konto in der Schweiz mit über einer halben Milliarde Dollar erwähnt. Dazu würden ihn argentinische Staatsanwälte gern befragen. Menem ist indigniert; er sei "Opfer einer politischen Hetzjagd", und die Regierung Kirchner repräsentiere "ein autoritäres Regime". Was Menem nicht begreift: Die Zeiten haben sich ganz offenkundig geändert. Korruption ist nicht nur laut Gesetz strafbar, sondern wird tatsächlich verfolgt: Ex-Minister stehen vor Gericht und werden verurteilt. Schmiergelder müssen zurückgezahlt werden. Das ist bahnbrechend.
Vor einem Jahr ist der amtierende Präsident Néstor Kirchner angetreten, als Hoffnungsträger des progressiven Flügels der Peronistischen Partei (PJ), als das Land am Rande eines Kollaps stand. Beim Aufstand der Straße Ende 2001 hatten die Argentinier den damaligen Präsidenten De La Rua aus dem Amt gejagt. In der chaotischen Zeit danach gab es innerhalb von wenigen Monaten vier Nachfolger, die an- und postwendend wieder abtraten - bis schließlich Néstor Kirchner im Mai 2003 gewählt wurde, mit lächerlichen 24 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Aber der Gouverneur aus dem kalten Patagonien sorgte für einige Überraschungen, nicht zuletzt mit seinen Auffassungen in Sachen Menschenrechte. Kaum im Amt, begann er die notorisch brutale Polizei der Provinz Buenos Aires zu reformieren. Per internationalem Haftbefehl gesuchte Ex-Diktatoren der zwischen 1976 und 1983 regierenden Militärjunta sollen künftig an andere Länder ausgeliefert werden, sofern entsprechende Anträge und Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen. Im März kündigte Kirchner ein Projekt mit einem besonders hohen Symbolwert an: Die ESMA, die berüchtigte Ingenieursschule der Marine, die zu Zeiten der Obristen als Folterzentrum diente, soll in ein Museum umgewandelt werden. Menschenrechtsgruppen waren die ersten, die dem Präsidenten Beifall klatschten.
Ohne Zweifel ist die offizielle Aufarbeitung der Diktatur überfällig, und dazu gehört die Säuberung einer käuflichen Polizei, die es von jeher mit Menschenrechten nicht so genau nahm. Kirchners Polizeireformen korrespondieren dabei auch mit dem Verlangen der urbanen Mittelschicht nach härterem Durchgreifen bei Verbrechen. Deutlich wurde dies beim Fall Axel Blumberg. Der junge Mann, Sohn einer wohlhabenden Familie, war vor kurzem bei seiner Entführung erschossen worden. Auf drei Massendemonstrationen forderten alarmierte Bürger mehr Sicherheit. Es folgte ein Sicherheitspaket des Innenministers, mit dem unter anderem das Strafmündigkeitsalter auf 14 Jahre gesenkt wurde.
Viele Städter, die morgens zu ihren Büros wollen, sehen sich weiterhin Aktionen der Arbeitslosen gegenüber, wenn die als Zeichen ihres Protestes die Straßen sperren. Aber lange vorbei sind die Zeiten, in denen sich die Mittelschicht mit den piqueteros aus den Vorstädten solidarisierte und man bei gemeinsamen Protestmärschen auf Kochtöpfe trommelte. Die Teile des Bürgertums, die Jobs und Dollars durch die Krise gebracht haben, sehen Straßenblockaden nur noch als Störfaktor. Die Justiz gibt ihnen Recht, seit März gelten die Sperren als Nötigung.
Die Arbeitslosenverbände selbst sind gespalten - einige arbeiten mit der Regierung zusammen, andere wollen davon nichts wissen. Mit einer Taktik des "Teile und Herrsche" hat Néstor Kirchner die Lunte entfernt, die an der sozialen Bombe hing. Vor anderthalb Jahren noch waren die Armenviertel einer Explosion nahe, die Reaktionen der verarmten und zugleich politisierten Menschen schwer kalkulierbar. Inzwischen hat der Präsident diese Brandherde eingedämmt, was in nicht geringem Maße der Tatsache zu danken ist, dass die Erwerbslosenquote auf 14,5 Prozent sank und dadurch mehr Geld im Umlauf ist. Auch den Tagelöhnern in den Vororten kommt das zugute.
Ohnehin ist eine gewisse ökonomische Erholung spürbar, immerhin stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal 2004 um 11,3 Prozent. In dieser Periode konnte gleichfalls der öffentliche Sektor einen Primärüberschuss - ohne Privatisierungserlöse - von fast vier Milliarden Pesos verbuchen, das heißt: 22,7 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Damit deutet sich an, dass jene Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) klar erfüllt werden könnte, wonach im ersten Halbjahr 2004 ein Überschuss der öffentlichen Kassen von 5,5 Milliarden Pesos zu erbringen ist - ein Marke, die erreichbar scheint. Im April lagen die Steuereinnahmen 29 Prozent über denen des Vorjahres. Vielleicht ist der sich in diesen Fakten manifestierende Trend ein Indiz dafür, dass der jahrelange Konflikt mit dem IWF, nicht zuletzt über den Abbau der Auslandsschulden, endlich beigelegt wird.
Allerdings bahnt sich eine Krise auf dem Energiesektor an. Der Grund liegt in einer gesteigerten Nachfrage bei eingefrorenen Preisen. Die Regierung versucht, mittels Rationierung der Energieimporte - Heizöl aus Venezuela, Erdgas aus Bolivien, Elektrizität aus Brasilien - den derzeitigen Konjunkturaufschwung abzusichern. Aber auf der Südhalbkugel steht der Winter bevor; das bedeuet, in den nächsten Monaten steigt der Gasverbrauch für die Heizungen, so dass letzten Endes doch Preiserhöhungen unvermeidbar sein könnten. Wie die Bevölkerung das aufnimmt, lässt sich kaum vorher sagen. Auch wenn es vielen wieder besser geht, heißt das noch lange nicht, dass sie höhere Heizungskosten bezahlen können. Dann besinnen sich die Armen vielleicht wieder darauf, dass man mit massiven Straßenprotesten weit kommen kann.
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