Santiago ist im September eine graue Stadt, in sich gekehrt, in Smogschwaden und die Nebelschleier des vergehenden Winters getaucht. Die Gipfel der Kordillerenkette rings um den Talkessel lassen sich am Morgen nur schemenhaft erkennen. Erst gegen Mittag bricht die Sonne durch, in den Parks strahlen dann die Mimosenbäume hellgelb, beinahe schon wie im Frühling, der mit dem September beginnt auf der Südhalbkugel.
An diesem 11. September denkt in Chile kaum jemand an die Twin Towers und Osama bin Laden - der 11. September ist hier der Tag, an dem vor 30 Jahren die Militärs einer demokratisch gewählten Regierung ein gewaltsames Ende setzten. Mónica Gonzáles, eine der bekanntesten Journalistinnen Chiles, hat das in Santiago miterlebt, sie wurde verhaftet, ist später emigriert und recherchierte all die Jahre unermüdlich die Verbrechen und das innere Gefüge der Diktatur. Heute leitet sie die Zeitschrift Siete más siete. "Damals übernahmen die Streitkräfte zwar die totale Kontrolle, bildeten aber keine reine Militärregierung, sondern zogen auch zivile Politiker heran. Die kamen aus zwei Lagern - dem nationalistischen und dem neoliberalen. Anfangs hatten die Nationalisten noch das Sagen, bald jedoch gewannen die Neoliberalen viele hohe Ränge in der Armee für ihre Pläne und bereiteten so das Terrain für jene Umwälzungen, die sie dank Pinochet auslösen wollten."
Als es während des permanenten Ausnahmezustandes ein Leichtes war, die Gewerkschaften zu zerschlagen, wurde damit eine der stärksten Traditionen Chiles zerstört: die Arbeiter verloren ihre Organisationen und die Bürgergesellschaft eine ihrer wichtigsten Ressourcen. Dieser Bruch wirkt bis heute in drakonischer Weise nach. Noch 1973 achteten die Arbeiter genau darauf, dass ihre gewerkschaftlichen Rechte geachtet wurden und waren sich zugleich ihrer Pflichten im Unternehmen bewusst. In Chile stürzten nie Brücken oder Häuser ein, weil es Baumängel gab. Brauchte ein Bauunternehmer Arbeiter, stellte er nicht - wie inzwischen üblich - ein Schild vor seinen Betrieb, dass er Leute suche, sondern rief bei der Baugewerkschaft an, die ihm die besten Maurer, Schreiner oder Stuckateure schickte - diese Tradition des gegenseitigen Respekts ist zerbrochen.
Ein brachialer Umbau der Wirtschaft ließ sich am besten mit einer Diktatur durchsetzen, die jede Opposition, Gewerkschaft und freie Presse erstickte. Dabei offenbarten die chilenischen Obristen eine Besonderheit, die sie von den sonstigen Autokraten der bleiernen Jahre Südamerikas unterschied. Mónica Gonzáles: "Sie setzten eine bürgerliche Konterrevolution in Gang, um die ökonomische Krise des bürgerlichen Staates zu überwinden. Die Militärs entschieden sich dafür, nicht zum Industrialisierungsmodell zurückzukehren, sondern schon 1975 - lange vor Thatcher und Reagan - alles und jedes in Richtung einer neoliberalen Ökonomie zu wenden, wie es sie in Chile bis dahin nie gab und deren Leitmotiv die totale Merkantilisierung war. Zuvor hatte es Steuern auf Importe gegeben, um die lokale Wirtschaft zu schützen; zuvor hatte es Arbeitsschutzgesetze gegeben, eine bis hin zu den Hochschulen kostenfreie Ausbildung, ein Gesundheits- und Rentensystem, das auf dem Solidarprinzip beruhte und vom Staat unterhalten wurde ..." Nichts davon blieb übrig. Die provozierte Umverteilung hat dazu geführt, dass heute in Chile ein Fünftel aller Haushalte 57 Prozent des Nationaleinkommens besitzt, während sich das unterste Fünftel mit gerade einmal vier Prozent begnügen muss.
Verdorbener Sonntag
Sonntags zu Besuch bei Licha und ihrer Familie in der Banlieue Santiagos. Licha ist Anfang 50, hager, dunkelhaarig, mit dem verbrauchten Gesicht einer Kettenraucherin. Sie arbeitet als Fahrerin einer Textilfirma für den Mindestlohn von umgerechnet 150 US-Dollar. Davon lässt sich keine eigene Wohnung bezahlen, also wohnt Licha zusammen mit ihrem alten Vater und einer Kusine in einem niedrigen Häuschen des Arbeitervorortes San Joaquín, wo Fabriken, Autowerkstätten und Schutthalden das Bild beherrschen. Auf einer Mauer leuchtet eine rote Schrift: "30 Jahre! Allende lebt!"
Im Haus ist es kalt, der kleine Gasofen schafft es nicht, alle Räume zu heizen. Lichas Vater - er ist über 80 - hat sich einen wollenen Poncho über die Schultern gehängt. Heute ist Sonntag, und die ganze Familie trifft sich zum Mittagessen, Lichas Schwester, die beiden Brüder mit ihren Frauen und ein Neffe. Im Patio, dem kleinen Innenhof, liegt ein Stück Fleisch auf dem Grill. Man deckt den Tisch, entkorkt den Rotwein, stochert in der Holzkohle. Beim Essen kommt die Rede unwillkürlich auf den 11. 9. und die Jahrzehnte nach dem Putsch - und im gleichen Augenblick ist es mit der Sonntagsstimmung vorbei. Der Riss, der noch immer durch Chiles Gesellschaft geht, scheidet auch in dieser Familie die Geister, denn die Geschwister haben die Ära Pinochet höchst unterschiedlich durchlebt. Licha und ihre Schwester mussten sich für Jahre im mexikanischen Exil durchschlagen. Víctor, der jüngere Bruder - ebenfalls Allende-Anhänger - blieb im Land. Eduardo, dem Älteren, einem Unternehmer in der Metallbranche, bescherte die Diktatur ein reges Geschäftsleben, er sieht die Militärs noch heute als Wohltäter und viel konzilianter als der Rest der Familie. "Damals konnte man in Ruhe seinen Betrieb hochbringen", schwärmt er. "Weil störende Elemente wie Gewerkschafter einfach umgelegt wurden", brüllt Lichas Schwester, reißt die Jacke vom Haken und stürmt aus dem Haus.
Die Feiertagslaune ist vollends dahin, als Víctor auch noch erzählt, wie es ihn gefreut habe, dass Pinochet vor vier Jahren in London verhaftet wurde. Was sie vom 30. Jahrestag halte, fragt Licha Eduardos junge Frau. "Ach, ich bin schon älter als 30" kichert sie. Víctor verdreht die Augen. Licha versucht zu erklären, dass sie den 30. Jahrestag des Putsches gemeint habe, aber der ist der jungen Frau egal. Außerdem will Eduardo jetzt gehen, der Sonntag ist restlos verdorben.
Der Fernsehkanal Chilevisión wagt sich seit August an ein brisantes Thema: Jeden Sonntag präsentiert er einen Dokumentarfilm über den Putsch. Die Reihe heißt schlicht September und zeigt erstmals bis dato unbekanntes Bildmaterial über die entscheidenden Stunden vor 30 Jahren - Schwarzweiß-Aufnahmen von der Bombardierung des Präsidentenpalastes; man hört die Funksprüche der Putschisten, die knarrende Stimme Pinochets und sieht Fotos des toten Allende. "Die Bilder jagen mir eine Gänsehaut über den Rücken", meint Licha und vergisst sogar das Rauchen.
Oder einfach "der Präsident"
Besuch bei der Tochter des legendären Präsidenten, bei Isabel Allende, nicht der Schriftstellerin, sondern der Politikerin, der Abgeordneten der Sozialisten und Parlamentspräsidentin. Sie bewohnt ein geräumiges Haus in einer Mittelklassegegend Santiagos - eine große und elegante Frau mit kurzen Haaren, mit ruhiger Stimme, sehr bestimmt, aber auch sehr freundlich. Wenn sie ihren Vater erwähnt, sagt sie stets "Allende" oder einfach "der Präsident". Über den Tag seines Todes möchte sie nicht reden. Im Parlament sitzt sie neben den einstigen Paladinen des Ex-Diktators. Was für ein Gefühl ist das? - "Pinochet ist heute eine Figur der Vergangenheit", meint Isabel, "niemand reißt sich mehr darum, mit ihm fotografiert zu werden, nicht einmal mehr seine Parteifreunde von der Unión Democrática Independiente, das hängt wohl mit dem Bewusstseinswandel zusammen, der vor allem die Armee erfasst hat."
Tatsächlich entsteht inzwischen der Eindruck, die Generäle könnten mehr aus diesen 30 Jahren gelernt haben als manch rechtskonservativer Politiker. Vor einigen Monaten verkündete der Oberkommandierende des Heeres, General Juan Emilio Cheyre, ein öffentliches Nunca Más ("Nie wieder") und bezog sich ausdrücklich auf Staatsterrorismus und Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur. Ein wichtiges Zeichen für Chile, denn zum ersten Mal hat sich ein General so klar von der Putsch-Vergangenheit in der Armee distanziert. General Cheyre kooperiert auch mit der Justiz. Mehr als 300 Prozesse gegen Militärs sind im Gange, sogar Augusto Pinochet muss damit rechnen, doch noch vor Gericht gestellt zu werden.
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