Lily verließ am Morgen ihre Wohnung, eine kleine Tasche in der Hand. Das Gepäck enthielt ihre Dokumente, ein paar wenige Kleider zum Wechseln, den Badeanzug, einen Regenschutz, Toilettensachen, ein Paar zusätzliche Schuhe, den Fotoapparat, Schreibzeug, Kreditkarten und etwas Bargeld in verschiedenen Währungen. Den Wohnungsschlüssel ließ sie in den Briefkasten fallen.
Am Bahnhof löste Lily eine Fahrkarte und setzte sich in den nächsten Zug, der Richtung Süden fuhr. In Mailand stieg sie in den Regionalzug nach Venedig um. Es war heiß und stickig. Lily ließ das Fenster ihres Abteils offen stehen. Eine Mitreisende, eine dicke alte Frau, zeterte und stöhnte wegen des Luftzugs. Lily schaute aus dem Fenster und tat so, als würde sie nichts verstehen. Sie zog die Ansichtskarte mit dem Mailänder Dom, die sie am Bahnhof gekauft hatte, aus dem Außenfach der Tasche und schrieb: Liebe Mama, ich besuche einen Freund im Veneto. Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde.
Lily setzte eine Telefonnummer neben ihre Unterschrift. Bislang waren die Telefonnummern, die sie ihrer Mutter jeweils hinterließ, nie benutzt worden. Dennoch bestand ihre Mutter darauf, über eine Nummer zu verfügen. Falls ihr etwas passieren sollte. Sie würde anrufen. Bei einem Kreislaufzusammenbruch noch rasch nach der Karte suchen, die Nummer eingeben, und sie, Lily, würde am andern Ende der Leitung den Hörer abheben und Mama anflehen: Mama, ruf einen Arzt! Ich komme, so schnell ich kann. Die Rückreise würde einen Tag dauern, und die Mutter würde bestimmt kurz vor Lilys Ankunft sterben. Tut mir Leid, würde der Arzt sagen, es war nichts mehr zu machen. Das Herz. Lily stünde da, den Kopf gesenkt, und würde schweigen. Oder Mama würde sich in ihrer Todesangst verwählen. Pronto, würde eine fremde Stimme sagen. Dov´è Lily? würde Mama in den Hörer rufen. Lily? Non c´è. Und es würde aufgehängt. Und Mama würde vom Schlag getroffen, den Hörer in der Hand.
Mama wird ohnehin alleine sterben, dachte Lily. Sie machte sich da keine Illusionen. Lily malte aus der letzten Ziffer der Telefonnummer eine 8 statt eine 6. Ein Fehler, ein absichtlicher Fehler. Lily legte den Kugelschreiber zurück in ihre Tasche und blickte aus dem Fenster. Der Zug hielt gerade an einem Regionalbahnhof am Gardasee. Sie sah zwei rote Briefkästen auf dem Bahnsteig. Rasch verließ Lily den Wagen und warf die Karte in den Briefkasten mit der Aufschrift "altri regioni". Dann stieg sie wieder ein.
Der Zug fuhr durch die Nachmittagshitze. Die Alte zeterte noch immer von Zeit zu Zeit. Nach Verona stand Lily auf und ging an ihr vorbei, drehte sich um und sagte ihr auf Italienisch, dass sie eine fette alte Schwuchtel sei. Es wurde still im Abteil. Lily zog die Tür des Abteils hinter sich zu. Das Letzte, was sie von der Alten hörte, war ein lautes Nach-Luft-Schnappen. Dann begann die Frau zu fluchen.
Lily ging durch den Zug, bis ganz nach vorn. Sie hatte keine Angst, die Alte könnte ihr folgen. Dennoch beruhigte sie das Gehen und die sich vergrößernde Distanz zu der Frau. Lily erreichte die Lokomotive und stellte sich an das kleine Fenster an der Tür zum Führerstand. Lily schaute durch das Glas. Unter ihr, auf der linken Seite, sah sie den Kopf des Lokomotivführers und seine rechte Schulter. Sie blickte auf die Schienen, zwei gleißende Linien, die exakt im Fluchtpunkt vor ihnen zusammentrafen und einen hellen Fleck bildeten. Parallele Linien schneiden sich im unendlichen Raum, dachte Lily. Die Bahntrasse war ein unendlicher Raum. Der Fleck bewegte sich vor Lily und dem Lokomotivführer nach vorn, immer weiter nach vorn.
Auf einmal drehte der Lokomotivführer seinen Kopf in Lilys Richtung. Er ließ nicht erkennen, ob er sie dabei bemerkt hatte. Schließlich griff seine Hand nach der Türfalle unter dem Fenster. Er öffnete die Tür zum Führerstand, die Hand wies auf den freien Sitzplatz rechts auf der Bank. Lily trat in die Kabine, in der es noch heißer und stickiger war als im übrigen Zug, und setzte sich neben ihn. Die Tasche schob sie unter den Sitz. Der Mann war etwa fünfzig Jahre alt, er hatte dunkle Haare und eine sonnengebräunte Haut. Grazie, sagte Lily. Dann sprachen sie die ganze Zeit nichts mehr, sie schauten nach vorn auf den hellen Fleck auf der Trasse.
So saßen sie während der restlichen Fahrstrecke. Es gab keine Berührung zwischen ihnen. Nur wenn der Zug in eine Kurve fuhr, konnte Lily sehen, wie sich ihre Oberkörper aufeinander zu bewegten. Die Hügel des Veneto flogen an ihnen vorbei. Dörfer, Städte, Brücken, Bahnhöfe. Kurz nach Padua nahm der Mann ihre linke Hand und legte sie sich in den Schoss. Der Stoff der Hose spannte über seinem harten Penis. Sachte rieb er mit Lilys Hand über das Tuch. Sie sagte kein Wort, doch sie zog die Hand nicht weg, sondern starrte unbeweglich auf die helle Stelle am Horizont der Trasse. Plötzlich wurde alles schwarz. Ein kurzer Tunnel vor Mestre. Der Mann neben Lily atmete schwer. Lily spürte die Nässe. So fuhren sie in Mestre ein.
Der Mann ließ ihre Hand los und griff nach der Bremse. Der Zug hielt. Lily nahm die Tasche und verließ den Führerstand. Sie ging zur Toilette, wo sie lauwarmes Wasser über die Hände laufen ließ. Sie zog sich die Lippen nach. Der Zug fuhr wieder an und glitt über den Damm auf Venedig zu. Lily trat aus dem engen Raum hinaus und stellte sich in den Gang. In Venezia Santa Lucia stieg sie aus dem Zug. Als sie auf dem Bahnsteig Richtung Bahnhofshalle schritt, hielt sie bei der Lokomotive kurz an und öffnete die eine Außentasche ihres Gepäcks. Ciao amore, schrieb sie mit dem Lippenstift an die Wagenwand unter dem Führerstand. Dazu setzte sie einen Pfeil, der auf das Fenster wies. Der Lokomotivführer blickte aus dem Fenster zu ihr hin. Lily lächelte kurz, drehte sich um und ging auf Eingangshalle von Santa Lucia zu.
Sibylle Omlin lebt in Zürich, war Kunstkritikerin bei der Neuen Zürcher Zeitung und ist Professorin für Kunsttheorie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Sie ist außerdem freie Publizistin, Kuratorin und Autorin von fiktiver Literatur.
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