Die Zeit nach dem XX. Parteitag der KPdSU schien für die mit der Sowjetunion verbündeten Länder eine Chance zu eröffnen, dank der Entstalinisierung mit einem Sozialismus sowjetischer Prägung zu brechen. Vorrangig in Polen und Ungarn entstanden starke Reformbewegungen, die auf die DDR nicht ohne Einfluss blieben. Deren Situation unterschied sich freilich in mancher Hinsicht von der anderer Länder des sozialistischen Lagers - zunächst einmal war der Lebensstandard höher als sonst irgendwo in Osteuropa, eine derart grobe Rechtsbeugung wie beim Rayk-Prozess in Ungarn hatte es nicht gegeben, die "Spitzen-Intelligenz" der DDR genoss eine materielle Förderung, die im Ostblock ihresgleichen suchte. Außerdem hatte der "Neue Kurs" nach dem 17. Juni 1
Kein deutscher Gomulka war in Sicht
Ungarischer Funke Nach dem Vorbild des Budapester "Petöfi-Kreises" wollten im Herbst 1956 auch Intellektuelle in der DDR zu inneren Reformen ausholen
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i 1953 tendenziell zu mehr Liberalität geführt, so dass sich in der DDR kaum derart brisante Konflikte zu entladen drohten wie in Polen und Ungarn.Das änderte jedoch nichts an der von vielen Intellektuellen als zwingend empfundenen Notwendigkeit, mit dem Stalinismus zu brechen. Vor allem die Debatten im Budapester "Petöfi-Kreis" übten dabei einen nachhaltigeren Einfluss aus als gemeinhin angenommen wird.Letzte Ehre für László RajkDie erste Zusammenkunft dieses Gremiums hatte am 15. März 1956 in den Räumen des Budapester "Kossuth-Klubs" stattgefunden - einem Zusammenschluss sozialistischer Intellektueller, dem auch Mitglieder der Jugendorganisation und des Schriftstellerverbandes angehörten. Benannt war der Kreis nach dem Nationaldichter Sándor Petöfi (1823-1849), der im März 1848 die Pester revolutionäre Jugend führte und 1849 im ungarischen Freiheitskrieg fiel. Er hatte zunächst volksliedhafte Lyrik verfasst, dann größere, dem poetischen Realismus verpflichtete Gedichte. Er schrieb das Märchenepos Der Held Janos (1845) und den Roman Der Strick des Henkers (1846).Der "Petöfi-Kreis" debattierte besonders über die Verfassung, in die Ungarns KP unter dem Patronat des Stalinisten Mátyás Rákosi geraten war. Julia Rajk beispielsweise ging soweit, die sofortige Abdankung Rákosis und ein würdiges Begräbnis für ihren Mann zu fordern, der als ungarischer Innenminister zusammen mit seinen drei Mitangeklagten wegen angeblicher Spionage für die USA und Jugoslawien als "Titoist" und "Trotzkist" 1949 in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und gehängt worden war. Es gehörte zur bitteren Bilanz der Rákosi-Ära, dass von 1948 bis Mitte der fünfziger Jahre mehr Kommunisten in Lagern und Gefängnissen starben als unter der 25-jährigen Diktatur Admirals Horthys bis 1944.Nach dem Rücktritt Rákosis am 18. Juli 1956 sollte sich der Wunsch Julia Rajks erfüllen - am 6. Oktober versammelten sich etwa 200.000 Menschen vor dem Kossuth-Mausoleum auf dem Budapester Zentralfriedhof, um László Rajk die lange verweigerte letzte Ehre zu erweisen.Am 14. Juni sprach Georg Lukács im "Petöfi-Kreis" zum Thema "Freiheit der Kultur" vor mehr als 2.000 Zuhörern, die den 71-Jährigen enthusiastisch feierten. Lukács entstammte einer reichen Bankiersfamilie, war während seines Studiums in Deutschland Sozialist geworden und schon während der ungarischen Räterepublik unter Bélá Kún im Jahre 1919 Volkskommissar gewesen. Im sowjetischen Exil, wo er zur deutschen Sektion des Sowjet-Schriftstellerverbandes gehörte, kam er in engen Kontakt mit Schriftstellern wie Johannes R. Becher. Dabei verfiel Lukács nie dem geistlosen Dogmatismus in den Hochzeiten des Stalin-Kults und weigerte sich, per se die Überlegenheit der sowjetischen Werke des sozialistischen Realismus anzuerkennen. Unter Mátyás Rakosi wurde ihm schließlich ab 1952 ein Vorlesungsverbot für die Budapester Universität erteilt.Entstalinisierung von obenAm 28. Juni 1956 sprach Lukács in der Politischen Akademie der ungarischen KP und entwarf einen strategischen Plan für die Periode der Koexistenz zwischen den Systemen. Er erklärte: "Je ernster wir die Koexistenz nehmen, das heißt: je menschlicher wir den Sozialismus aufbauen - menschlicher für uns, zu unserem Nutzen, vom Standpunkt unserer eigenen Entwicklung -, um so mehr dienen wir auch dem endlichen Sieg des Sozialismus im internationalen Maßstab." Vier Wochen später flog Lukács mit seiner Frau nach Ostberlin zu einem längeren Ferienaufenthalt.Auch in der DDR machten sich 1956 sowohl in der SED als auch in der Nationalen Volksarmee sowie unter den Intellektuellen überhaupt Reformkräfte bemerkbar, die darauf hofften, Walter Ulbricht durch einen "deutschen Wladislaw Gomulka" ersetzen und die DDR-Gesellschaft demokratisieren zu können. In Leipzig traf sich der "Bloch-Kreis", in Berlin der von Fritz J. Raddatz moderierte "Donnerstags-Kreis" und um den Bildhauer Fritz Cremer der "Niquet-Keller-Kreis". Die größte Bedeutung aber erlangte der "Kreis der Gleichgesinnten", den Mitarbeiter des Aufbau-Verlages und der Wochenzeitung Sonntag unter Federführung von Walter Janka sowie Gustav Just bildeten und dem sich von Anfang an auch der Philosoph Wolfgang Harich als der "Formulierungsgewandteste" des Forums zugehörig fühlte.Der Einzige unter den namhaften Ostberliner Intellektuellen, der erkennbar auf Distanz ging, war der Schriftsteller und Chefredakteur der Zeitung Aufbau, Bodo Uhse. Er vertrat die Auffassung, die Deutschen seien in ihrer Mehrheit noch immer Nazis, außerdem wollten die "Gleichgesinnten" bei der inneren Demokratisierung den Bogen überspannen. Man solle auf Ulbricht vertrauen, der dabei sei, einen angemessenen Mittelweg zwischen der stalinistischen Opposition um Hanna Wolf, Paul Fröhlich und Robert Naumann sowie ihren anti-stalinistischen Gegenspielern zu finden, die sich am Budapester "Petöfi-Kreis" orientierten.Ende Juli 1956 und dann noch einmal Mitte August und Anfang September traf sich Lukács in Ostberlin mit Janka, Harich und Just. Als sie sich bei einem Mittagessen im Hotel Newa erstmals begegneten, erinnerte sich Gustav Just später, sei er von der Höflichkeit und bescheidenen Diskretion des Gastes aus Ungarn beeindruckt gewesen. Lukács gab seinen Gastgebern zu verstehen, er glaube, nach dem Rücktritt Mátyás Rákosis sei dessen Nachfolger Ernö Gerö nur ein Mann des Übergangs. Der kommende Führer Ungarns heiße János Kádár, der unter Rákosi schwer hatte leiden müssen. Janka und Just mussten gestehen, den Namen bis dahin noch nie gehört zu haben.Rückfall ins MachtrasterHöchst aufschlussreich erschien ihnen, wie Lukács den Posener Aufstand vom Juni 1956 deutete, vertrat er doch die Ansicht, historisch gesehen seien solche Erhebungen das letzte Mittel der Arbeiter eines sozialistischen Landes, um wieder normale Beziehung zwischen Partei und Klasse herzustellen, wenn sich die Partei von den Massen entfernt habe. Man müsse die Ereignisse in Polen daher positiv bewerten, auch wenn es unumgänglich sei, solche Aufstände gewaltsam niederzuschlagen und zu verhindern, dass die Reaktion ihre Machtpositionen restauriere. Mittelbar seien derartige Konflikte jedes Mal eine Art Katalysator für eine neue, bessere Politik der Partei, die sich gezwungen sehe, ihr Verhältnis zu den Massen kritisch zu prüfen. So sei der Kronstädter Aufstand seinerzeit in Sowjetrussland indirekt ein Anlass für die Neue Ökonomische Politik (NEP) gewesen. Und habe nicht der 17. Juni 1953 in Osteuropa Entwicklungen vorangetrieben, die zum XX. Parteitag der KPdSU führten? In gleicher Weise werde auch der Posener Aufstand seine Wirkungen auf die Volksdemokratien nicht schuldig bleiben. Für Wolfgang Harich ergab sich daraus die Schlussfolgerung, auch für die DDR sei eine antistalinistische Revolution von oben nach polnischem Muster unumgänglich.Im September-Heft des Aufbau erschien denn auch ein Aufsatz von Lukács zum Thema Der Kampf des Fortschritts und der Reaktion in der heutigen Kultur, der wesentliche Gedanken seiner in Budapest gehaltenen Vorträge enthielt. Der Sonntag hatte zuvor bereits ein Resümee dieses Traktats gedruckt und mit den Schriftstellern Tibor Déry wie Julius Háy auch andere Prominente aus dem "Petöfi-Kreis" zu Wort kommen lassen.Unverkennbar stieg das Reformfieber in der DDR: Im Frühherbst 1956 gab es Pläne, an Stelle des Dachverbandes FDJ einen christlich-demokratischen Jugendbund, eine sozialistische Jugendorganisation sowie einen Pionier- und Studentenverband zu schaffen. Es solle ein "Studentenrat" gebildet werden, hieß es am 30. Oktober in einem Beschluss des SED-Politbüros, der jedoch unter dem Eindruck der Ereignisse in Ungarn schon drei Tage später, am 2. November 1956, wieder kassiert wurde - eine entscheidende Zäsur. Denn von nun an fiel unter dem Druck Walter Ulbrichts und mit dem Segen Moskaus die SED-Führung wieder in das traditionelle Machtraster zurück. Was zuvor noch "Reform zur Stärkung der DDR" hieß, firmierte jetzt als "reformistisch", "revisionistisch" oder "konterrevolutionär". Die abrupte Wende in Ostberlin vollzog sich geradezu synchron mit den Kämpfen in Budapest.Das nackte ÜberlebenEinen gewissen Einfluss auf die Reaktionen der DDR-Führung dürften ab Ende Oktober 1956 die von der Budapester DDR-Botschaft an das Ostberliner Außenministerium übermittelten Lageberichte gehabt haben. Darin heißt es etwa über die Nacht nach dem Sturz der Stalin-Statue am 23. Oktober 1956, es sei "fast die gesamte Armee auf die Seite der Aufständischen" übergegangen. Nur noch die Donaukriegsflotte und die Sicherheitspolizei hielten zur Regierung. In den Wohnbezirken gäbe es spontan gebildete Arbeiter- und Soldatenräte, die von der Armee bewaffnet worden seien. Am 24. Oktober habe es in Budapest ständig Kämpfe gegeben - im Laufe des Tages sei die Regierung unter Imre Nagy´ gebildet worden, der auch Georg Lukács als Minister angehöre.Als die Sowjetarmee am 24. Oktober in die Kämpfe eingriff, funkte die Botschaft: "Leider hat es am ersten Tage auch Fälle gegeben, wo Panzer der Sowjetarmee auf die Seite der Aufständischen übergegangen sind. Dies geschah jedoch nur an diesem einen Tag. Später nicht wieder. Die sowjetischen Genossen hatten (...) einen Fehler gemacht. Sie hatten den Soldaten erklärt, dass sie gegen Bourgeois zu kämpfen hatten. Als sie dann in den Straßen Zehntausende von Arbeitern sahen, konnten sie sich die Zusammenhänge nicht erklären und nahmen offenbar an, auf der falschen Seite zu stehen."Am 25. Oktober versammelten sich etwa 100.000 Menschen vor dem Parlament, um den Rücktritt von KP-Chef Gerö und den Abzug der sowjetischen Truppen zu fordern. Dazu der Botschaftsbericht: "Unverständlicherweise eröffnete die Sicherheitspolizei konzentriertes Feuer auf die Menge, die sich völlig friedlich verhielt und keine Anstalten machte, etwa das Parlament zu stürmen. Es wurde auch nicht zurückgeschossen. Es gab ein entsetzliches Blutbad, das etwa 100 Tote forderte. In diesem Moment stellte sich die Sowjetarmee zwischen die Menschenmenge und eröffnete das Feuer auf die Sicherheitspolizei."Wenig später trat Gerö zurück - die Menge ließ Janos Kádár, den neuen Ersten Sekretär, hochleben. Gleichzeitig vermerkt die DDR-Botschaft "konterrevolutionäre Kräfte". Leere LKW mit Hänger seien an bestimmten Konzentrationspunkten aufgetaucht und hätten die Menge immer wieder zu neuen Orten gebracht und dort mit bestimmten Losungen versorgt. "Man vermutet" - so die Botschaft - "dass einige der Anführer hohe Offiziere des Generalstabs der Volksarmee sind." Neue Provokationen seien erfolgt, so dass wieder heftige Kämpfe unter Einsatz aller Waffen tobten: "Die Situation war jetzt so unübersichtlich, dass man von nun an nie genau sagen konnte, wer eigentlich auf wen schoss und wer auf welcher Seite stand." (Botschaftsbericht)Nach Bildung der Regierung Nagy´ habe die Sicherheitspolizei plötzlich ganz allein da gestanden. Mit der neuen Führung der Partei und Regierung konnte sie sich nicht identifizieren: "Gruppen der Sicherheitspolizei schossen sowohl gegen Aufständische wie gegen Regierungstreue. Sie kämpften einfach um das nackte Überleben", resümiert der Botschaftsbericht.Die "Gleichgesinnten" in Ostberlin gingen in jenen dramatischen Herbsttagen davon aus, es gebe in Ungarn zwar eine Revolution, in die sich allerdings konterrevolutionäre Kräfte eingemischt hätten, weil die antistalinistischen Kreise in der ungarischen KP nicht rechtzeitig imstande gewesen seien, aus den Posener Ereignissen vom Juni zu lernen. Es sei zu keiner Revolution von oben nach dem Muster des VIII. Plenums der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) gekommen. Daraus müsse die DDR ihre Lehren ziehen. Sie tat es, aber sehr viel anders, als von den "Gleichgesinnten" erhofft.Der Autor lebt und arbeitet als Historiker in Berlin. Von ihm ist in diesem Jahr erschienen: Siegfried Prokop, 1956 - DDR am Scheideweg. Opposition und neue Konzepte der Intelligenz. Edition Zeitgeschichte Band 32. Kai Homilius Verlag Berlin 2006.Warum ist Ungarn gescheitert?Auf diese Frage antwortete der Literaturwissenschaftler Hans Mayer im Jahr 2000:"Am Einmarsch der sowjetischen Panzer in Budapest natürlich. Daran, dass Imre Nagy und andere an den Galgen gekommen sind; dass Georg Lukács, der Kulturminister bei Nagy, entmachtet wurde und nur durch seine Berühmtheit dem Galgen entging ...Chruschtschow wollte unter keinen Umständen mit Panzern einmarschieren in Ungarn. Kurz vorher war in Polen nach dem Aufstand dort ein liberaler Parteiapparat mit Gomulka gewählt worden, der durchaus in der Lage gewesen war, die Krise ohne militärische Gewalt zu beseitigen. Ich weiß, dass Chruschtschow, den man ja deshalb später auch abgesägt hat, bei allen Vorbehalten der Meinung war, man müsse auch die Ungarn in Ruhe liberal weiter arbeiten lassen. Warum sind dann die Panzer trotzdem einmarschiert?Nein, die Regierung Nagy hatte alle Möglichkeiten, liberale Maßnahmen zu treffen. Nur eines hätte sie unter gar keinen Umständen tun dürfen: aus dem Warschauer Pakt demonstrativ austreten. Da mussten die Generale in Moskau reagieren, das Aufmarschgebiet der Roten Armee sichern. Wer, frage ich, hatte ein Interesse daran, dass es zu einer Krise und zu einem Bruch kam in Budapest, dass das Experiment Nagy/Lukács scheiterte? Zum einen der Vatikan und verschiedene katholische Kreise, zum anderen - I´m sorry to say - die Amerikaner. Die hatten ein vitales Interesse an der Fortsetzung des Kalten Krieges, sie wollten die Permanenz der Krise."
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