Der General und das Biest

Polyphonie In seinem Roman "Ecce homo" begegnet Yitzhak Laor dem militärischen Geist Israels mit den Mitteln der Satire und Groteske

Ein Mann notiert in seinem Tagebuch, er lebe nur für seinen Sohn, aus Angst, ihn "allein, ohne Vater" auf der Welt zurückzulassen. Der Sohn stirbt vor dem Vater. Er schießt sich eine Kugel in den Kopf, weil er unmittelbar vor der letzten Prüfung, die ihm das ersehnte und erkämpfte rote Barett der Fallschirmspringer sichern sollte, grundlos degradiert wurde. Die Mutter des Selbstmörders hatte einen befreundeten General darum gebeten, einzugreifen, um den Sohn so vor jeder weiteren Zurichtung in geheimen Sonderkommandos zu bewahren. Die Verlassenheit der Söhne, die sich gegen den Willen der Eltern klar zu Militär und Staat bekennen, und die Einsamkeit der Eltern in ihrer Angst, ihr Kind werde auf Menschen zielen, liegt wie ein Flor über den zahllosen Geschichten eines in seinen Perspektiven vielfach gebrochenen Romans.

Yitzhak Laor, 1948 in Pardes Hanna - nördlich von Tel Aviv - geboren, ist für sein umfangreiches lyrisches und erzählerisches Werk mit renommierten israelischen Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Sein Theaterstück Ephraim goes back to the Army wurde 1985 mit einem Aufführungsverbot belegt. Eine "Lex Laor" hob diese Zensur wieder auf. Ministerpräsident Schamir weigerte sich dennoch, Jahre später, dem Autor persönlich einen Poesiepreis zu überreichen. Welches Gewicht seine Stimme besitzt, macht die Entscheidung des Reserve-Offiziers David Zonshine deutlich. Im November 2004 rezensierte Zonshine Laors Gedichtband Leviathan City in der Tageszeitung Ha´aretz, nicht ohne zu erwähnen, dass ihm Laors Gedichte die Kraft gegeben hätten, den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern. Zonshine ist der Mitbegründer jener kontinuierlich wachsenden Bewegung von ranghohen Offizieren und Rekruten, die im Herbst 2003 erstmalig den offenen Konflikt mit dem Staat riskierte. Einige "Refuzniks" - David Zonshine und andere - wurden mit Haft bestraft.

Erst Anfang der neunziger Jahre begann Laor Romane zu schreiben. Die Besatzung und der Libanonfeldzug, die Zwänge und Widersprüche einer Kriegsgesellschaft, nährten den Wunsch, aus mehr als nur einem Mund zu sprechen. In seinen polyphon orchestrierten Romanen (Das Volk, Futter für Könige; Steine, Gitter, Stimmen; und jetzt: Ecce homo) erkundet er die geheimen Begierden und Anfechtungen von Geheimdienstagenten, Generälen, Rekruten, Schülern, alternden Transvestiten, Mätressen, virilen Friedensaktivistinnen, Witwen und Dienstboten - Menschen, die an der zionistischen Ideologie verzweifeln und in Nischen überdauern. Er schlüpft seinen Figuren unter die Haut, erkundet ihr Inneres. Er entblößt ihre Eitelkeiten und verrät die Regungen, die sie zu verbergen suchen, doch nicht können: etwa, wenn er von der Scham erzählt, die das Kind eines Kriegsversehrten erfüllt, wenn dieser alljährlich an Gedenktagen in der Aula von der Rettung durch einen mutigen Waffenbruder berichtet, während die Klassenkameraden gelangweilt dazu grimassieren.

General Adam Lotem - Protagonist des Romans Ecce homo - ein zynischer Menschenschinder mit mehreren geheimen Leben, streift nachts über einen leeren Platz. Der verrätselte Monolog eines anderen Somnambulen weckt in ihm surreale Assoziationen. Auch Lotems plötzliches Verlangen nach Schönheit - wie er sich über Monate in die Malerei der italienischen Renaissance versenkt und zum ersten Mal eine selbstbewusste, nicht von ihm abhängige Frau begehrt - nimmt uns für diesen Mann ein. Als Sohn eines deutschen Juden zitiert er Dante, Euripides, Seneca und Platon. Dieses Zerrbild eines israelischen Befehlshabers hofft nun, mit einer wahrhaft titanischen Aktion, die als das "größte Fiasko in der Geschichte der modernen Armeen" enden soll, seine bisherigen Schandtaten auslöschen zu können. Als er jedoch die Unmöglichkeit erkennt, seinen Plan allein durchzuführen, beginnt ein innerer Amoklauf - der im Koma endet. Ein Zustand, der die Heruntergekommenheit einer Schicht symbolisiert, die als die Elite des Landes gilt.

Lotems Agonie begünstigt den Ausbruch seines Alter Ego. Der Widerpart, einst Lotems Waffenbruder, flieht in verdreckter Generalskluft nach Deutschland. Antebi - Sohn sefardischer Überlebender, Mörder eines palästinensischen Hirten, einstiger Geliebter einer Deutschen, die nach Israel aufbrach, weil sie glaubte, dort könne kein Nazi untergetaucht sein - ist die einzige Figur in diesem Kosmos, die wahrhaftig ins Ungewisse aufbricht. Antebi macht sich auf den Weg, um den nie zuvor gesehenen Sohn zu suchen und ihm die hebräischen Worte "Hiné Adam" vorzusprechen - hier ist ein Mensch - ecce homo!.

Laors Romane finden nie ein eindeutiges Ende - in Steine, Gitter, Stimmen probiert er fünf Varianten -, denn Zweifel und Misstrauen gehören zu seiner erzählerischen Grundhaltung. Er wählt deshalb einprägsame, offene Schlussbilder, die die Verletzlichkeit der Lebenden vor Augen führen. Literarischen Realismus verabscheut er. Den militärischen Geist, von dem in Ecce homo so viele Gestalten affiziert sind (und den Laor, der 1972 in einem Militärgefängnis einsaß, heute in Kommentaren, die er für die Ha´aretz schreibt, bekämpft), "erledigt" er mit den Mitteln der Satire und der Groteske. Wirkungsvoller sind bislang in der zeitgenössischen israelischen Literatur das Armeewesen und die von ihm infiltrierten Bildungseinrichtungen nicht demontiert worden. Der Ton wechselt ständig: mal flüsternd, mal großmäulig, mal zärtlich, obszön, stotternd und heiser, mal demütig oder verächtlich versuchen seine Figuren Wirklichkeiten zu durchdringen. "Die Worte vernichten etwas", schreibt der Hausmann Sha´ul in sein Tagebuch, "die Stimme läuft barfüßig über glühende Asche, hält nicht inne, aber sie - die Worte - suchen nach einem kühlen Ort, um stehen zu bleiben, wieder und wieder und wieder .... alles versucht, das Strömen einzubinden, um etwas Kaltes zu sein, aber etwas bleibt stets glühend, sinnlos, flüchtig."

Häufig sehen wir Menschen auf der Flucht. Ohne zu zögern, streifen sie ihre Identität ab wie eine alte Haut. Unbeherrschbar. Namen führen in die Irre, und die Geschichten der Figuren entwickeln sich abseits des großen Erzählflusses weiter, bilden eigene Kerne. Netzartig bleiben sie verbunden durch die sich kreuzenden Wege der Figuren. Auch aus Leitmotiven lassen sich Fäden spinnen. In Ecce homo sind es die Erinnerungen an Hände, die - einst liebend gehalten - noch nach Jahrzehnten in der eigenen Handfläche spürbar bleiben, und es sind Begebenheiten, die die Fremdheit zwischen aschkenasischen und sefardischen Juden umreißen.

Yitzhak Laors Romane sind politisch, weil es niemanden gibt, der in ihnen unschuldig bleibt. Er zeigt, dass selbst für humanitäres Eintreten und solidarische Gesten zugunsten der Palästinenser andere den Preis ungefragt mit zahlen müssen. Politisch ist auch die Weigerung des Autors, nicht zu trennen zwischen innen und außen, zwischen uns und denen. Politisch ist es, die Komplexität der Welt nicht zu reduzieren, im eigenen Namen zu sprechen und sich dazu zu bekennen, dass es den Einzelnen zu schützen und seinen Körper vor Versehrungen zu bewahren gilt. Dass sich das Politische im Werk Laors so zwanglos mit dem Poetischen verbindet, macht es zu einem in der zeitgenössischen israelischen Literatur Unvergleichlichem.

Yitzhak Laor: Ecce homo. Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Unionsverlag, Zürich 2005, 608 S., 24,90 EUR


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