Im Reich der Schatten

Auferstehung Erschreckend oft passieren Ärzten Fehler, wenn sie den Hirntod von Patienten feststellen. Die Kontrollen sind zu lasch, wie ein Fall aus Süddeutschland zeigt
Vor allem in kleineren Kliniken haben Ärzte zu wenig Erfahrung mit der Hirntoddiagnostik
Vor allem in kleineren Kliniken haben Ärzte zu wenig Erfahrung mit der Hirntoddiagnostik

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

Weltweit gibt es keinen einzigen Fall, in dem ein Mensch, der korrekt für hirntot erklärt wurde, wieder ins Leben zurückgekommen ist. Das ist ein Glaubenssatz der Transplantationschirurgie, der jeden Zweifel im Keim ersticken soll. Die Frage ist nur, ob die Diagnose auch tatsächlich immer korrekt durchgeführt wird. Daran mehren sich die Zweifel.

Bei einem Autounfall im Oktober 2011 erlitt die 19-jährige Dänin Carina Melchior schwere Hirnverletzungen. Bewusstlos wurde sie ins Universitätsklinikum Aarhus eingeliefert. Carina sei nicht mehr zu retten, sagten die Ärzte – es sei aussichtslos. Auf der Intensivstation des Universitätsklinikums drehte gerade ein Team des dänischen Fernsehens. Die Angehörigen von Carina erlaubten, dass ihr Fall dokumentiert wird. Einige Tage später fragte eine Ärztin die Angehörigen im Beisein des Kamerateams, ob sie bereit wären, Carinas Organe zu spenden. Die Familie stimmte schweren Herzens zu. Doch dann begann Carina wieder selbstständig zu atmen. Sie erwachte aus dem Koma. Heute ist sie – nach monatelangen Aufenthalten in Rehakliniken – mit kleinen Einschränkungen wiederhergestellt.

Ein Missverständnis, rechtfertigt sich die Klinik jetzt. Man habe nie behauptet, Carina sei definitiv hirntot. Aber was sollte dann die vor laufender Kamera konkret gestellte Frage nach Organen?

Logistik treibt zur Eile

Der Fall beleuchtet ein Problem, das immer wieder auftaucht: die voreilige Frage nach Organen. Von der Logistik her ist sie verständlich, denn eine Organtransplantation erfordert ein Höchstmaß an Organisation. Wenn der Patient trotz anders lautender Prognose doch noch aufwacht, kommen die Ärzte in Teufelsküche, meint der Transplantationsbeauftragte des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte, Gundolf Gubernatis. Konkret gefragt werden, sagt der Transplanteur, sollte erst nach einwandfrei abgeschlossener und dokumentierter Hirntoddiagnostik. Außerdem, meint er, hätten vor allem Ärzte in kleineren Kliniken zu wenig Erfahrung mit der Hirntoddiagnostik. Tatsache ist: Eine zertifizierte, standardisierte Ausbildung gibt es in Deutschland nicht.

Von 2000 bis 2006 untersuchte der Neurologe Herrmann Deutschmann, damals Leiter des Konsiliarteams der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) 230 Hirntoduntersuchungen im Raum Niedersachsen. In allen Fällen hatten die behandelnden Ärzte geglaubt, der Hirntod sei eingetreten. Einige hatten sogar schon das erste Hirntodprotokoll ausgefüllt. Ein Drittel der Diagnostik jedoch erwies sich bei der Prüfung als fehlerhaft. Meist handelte es sich um Dokumentationsfehler. Aber vereinzelt gab es auch falsche medizinische Diagnosen.

Viele Fallstricke

Früher gab es als Bereitschaftsdienst ein mobiles Ärzteteam, das vor allem in kleineren Krankenhäusern den Hirntod eines potenziellen Spenders feststellen konnte. Doch diese dauerhaft verfügbare mobile Einsatztruppe wurde abgeschafft. Seitdem engagiert die DSO, wenn notwendig, mehr oder weniger auf Zuruf Neurologen, die bereit sind, Hirntoddiagnostik duchzuführen. Sie werden pro Fall bezahlt. Gerade unter diesen Umständen, meint Deutschmann, wäre es notwendig, dass die Kollegen über eine zertifizierte, von der Bundesärztekammer festgelegte Ausbildung verfügen.

Dass es bei der Diagnostik zahlreiche Fallstricke gibt, ist seit langem bekannt. Eine systematische Fehleranalyse existiert dennoch nicht. Pannen müssen weder publiziert noch gemeldet werden. Sie kommen nur durch Zufall heraus. So in einem Fall, der sich Anfang der neunziger Jahre in einer großen Klinik in Süddeutschland ereignete.

Die Intensivschwester Jytte Haupt kümmerte sich gerade um einen jungen amerikanischen Soldaten, der als potenzieller Spender vorgesehen war. Die Angehörigen waren bereits in Amerika angerufen worden und hatten einer Organspende zugestimmt. Plötzlich bemerkte sie, dass der „Hirntote“ anfing, selbstständig zu atmen. „Halten sie sich da heraus, das verstehen sie nicht“, zischte der Arzt, den sie darauf aufmerksam machte. Kurz entschlossen rief Jytte Haupt nach den Kollegen. Alle starrten auf das Beatmungsgerät. Es gab keinen Zweifel: Der vermeintlich Hirntote lebte. Der Arzt reagierte erbost. Türschlagend verließ er das Zimmer.

Die Analyse des Falles ergab, dass die Rettungssanitäter dem Amerikaner am Unfallort wahrscheinlich muskelentspannende Medikamente verabreicht hatten. Diese wichtige Information wurde nicht an die Intensivstation weitergegeben. Muskelrelaxanzien führen zu einer totalen Atemlähmung. Sie täuschen den Hirntod vor. Ein klassischer Fehler, vor dem in jedem Lehrbuch über die Hirntoddiagnostik gewarnt wird. Zwei Wochen später verließ der amerikanische Soldat – im Rollstuhl, aber geistig voll wach – die Intensivstation und flog zurück in die Heimat. Jytte Haupt wollte von dem Arzt wissen, warum er so aggressiv reagiert habe. Seine Antwort: Er habe an die Patienten gedacht, die dringend Organe brauchen.

Ein Lob, dass sie dem Amerikaner das Leben gerettet hatte, bekam die Intensivschwester außer von ihren Kollegen nicht. Stattdessen eine Verwarnung. Sollte sie in der Öffentlichkeit noch einmal solche Geschichten verbreiten, drohte ihr der Chefarzt der Transplantationsmedizin, bekäme sie beruflich kein Bein mehr auf die Erde.

Whistle Blowing

Bis heute gelangen solche Fälle fast nie an die Öffentlichkeit. Auch die Überwachungskommission der Bundesärztekammer kümmerte sich bisher nur um Fälle, die von offizieller Seite angezeigt wurden. Dies soll nun anders werden. Anfang November hat die Bundesärztekammer eine Vertrauensstelle Organtransplantation eingerichtet. Dort können anonym Unregelmäßigkeiten in der Transplantationsmedizin gemeldet werden, auch bei der Hirntoddiagnostik. Ein Fortschritt, denn so sind Insider, die ihr Gewissen plagt, nicht mehr von Entlassung bedroht.

Eine Transplantationskoordinatorin der DSO, die 2008 den Gremien eine nicht rechtskonforme Organentnahme im Universitätsklinikum Düsseldorf mitteilte, bekam massiven Ärger mit ihrem Arbeitgeber. Ihr wurde gekündigt. Die Begründung: Sie habe behauptet, bei der Organentnahme 2005 wären einem Lebenden Organe entnommen worden.

In einem detaillierten Schriftsatz hatte sie lediglich bemängelt, dass vor der Explantation nicht alle notwendigen Protokolle vorgelegen hätten. Das bestätigt der Prüfbericht der Überwachungskommission der Bundesärztekammer, die den Fall zwei Jahre lang untersuchte und Anfang 2010 abschloss. Erst jetzt, Anfang November, entschied sich die Bundesärztekammer, das brisante Papier herauszugeben. Die Lektüre verblüfft. Der Bericht enthält eine Ansammlung von widersprüchlichen Fakten und Aussagen. Und er zeigt, wie eingeschränkt die Befugnisse der Überwachungskommission zumindest bisher waren. Mit dem neuen Transplantationsgesetz werde jedoch alles anders, teilt das Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage mit. Man habe gerade die Befugnisse der Kommission drastisch erweitert.

Einige Fachleute wie der Vorsitzende des Verbandes der leitenden Krankenhausärzte, Hans-Fred Weiser, trauen den Beteuerungen nicht. Sie fordern unmissverständlich, dass die Kontrolle der Transplantationsmedizin anders organisiert oder in staatliche Hände gelegt wird. Es sei nicht tragbar, dass die Durchführung der Transplantationsmedizin und ihre Kontrolle von denselben Personen geleistet werde: Die Kontrollen müssten prinzipiell von externen Fachexperten durchgeführt werden.

Faktisch ist eine Organspende in Deutschland nur bei Unfallopfern und Komapatienten möglich. Dies ergibt sich aus den Bestimmungen des Transplantationsgesetzes. Als Nachweis für die Feststellung des Todes werden dort genannt: tiefe Bewusstlosigkeit (Koma), Ausfall der Spontan-Atmung und Ausfall aller Hirnstammreflexe.
Der Katalog zur Diagnose, umfasst:
• kein Pupillenreflex,
• keine Schmerzreaktion,
• kein Würgereflex bei Berührung der hinteren Rachenwand.
Die Festellung des Todes muss in der Regel durch zwei unabhängig voneinander arbeitende Ärzte getroffen werden, die nicht an der Transplantation beteiligt sind.
Um sicherzustellen, dass der Hirnfunktionsausfall irreversibel ist, müssen die klinischen Symptome bei einer erneuten Untersuchung nach mindestens zwölf Stunden erneut nachgewiesen werden. Im Falle einer sekundären Hirnschädigung, wie sie als Folge beispielsweise eines Kreislaufstillstandes oder einer Vergiftung eintritt, beträgt die Frist mindestens drei Tage.
Damit soll ausgeschlossen werden, dass Patienten, die an Herz- und Kreislaufstillstand sterben, für die Organspende in Frage kommen: Denn innerhalb der für die Diagnose vorgeschriebenen zwölf beziehungsweise 72 Stunden werden die Organe für die Transplantation unbrauchbar. rg

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