Alexandar Duntschew ist wieder auf die Straße gegangen, den 25. Tag in Folge. Grauer, kalter Nebel zieht über Sofia. „Ein Wetter zum Teetrinken in einer warmen Wohnung“, wie Duntschew sagt. Doch in Sofia liegen die Nerven blank. Nach dem Rücktritt der Regierung reißen die heftigen Proteste nicht ab. „Eine geheizte Wohnung ist für viele unbezahlbar geworden, und das im buchstäblichen arithmetischen Sinne. Wir haben von Monopolen und Korruption die Nase voll.“
Duntschew engagiert sich seit Langem für den Umweltschutz und gegen umstrittene Bauprojekte. „Wenn Baugenehmigungen illegal erteilt werden und zwielichtige Geschäftsleute Profite machen, etwa zu Lasten der Naturparks, haben wir es mit dem gleichen Problem zu tun wie jetzt, wenn Energiefirmen von ihrem Monopol profitieren und der Staat das erlaubt“, erklärt er. „Es ist also nur logisch, dass ich mich auch jetzt engagiere“. Unmittelbarer Anlass für die Unruhen, die zur Demission der Regierung geführt haben, waren die im Februar verschickten hohen Stromrechnungen, die viele Bulgaren nicht mehr begleichen konnten.
Deckname „Buddha“
Die Energieversorgung des Landes teilen sich drei private Unternehmen, die zu österreichischen und tschechischen Konzernen gehören. Wie in anderen Balkanstaaten auch lief der Verkauf der bis in die neunziger Jahre öffentlichen Energieversorgung wenig transparent ab. Seinerzeit geschlossene Verträge sind bis heute geheim. Entsprechend gering ist der Spielraum einer Regierung in Sofia, sollte sie auf die Idee kommen, die Strompreise regulieren zu wollen. „Die Konzerne diktieren ihre Bedingungen, und die Regierung kann nur nicken“, ist Duntschew überzeugt.
Wegen einer Umlage für Erneuerbare Energien, die auf EU-Ebene beschlossen wurde, sind zwar die Strompreise zuletzt nicht nur in Bulgarien, sondern überall in der Europäischen Union gestiegen. Doch fiel der Preisschub für das Balkan-Land besonders drastisch aus: 15 Prozent im Jahr 2012. Mit neun Cent pro Kilowattstunde kostet Strom zwar ein Drittel dessen, was für einen Durchschnittshaushalt in Deutschland anfällt (27 Cent) – doch liegt der Monatslohn im ärmsten EU-Staat im Schnitt bei umgerechnet 350 Euro.
Dabei hatte man nach dem EU-Beitritt 2007 gehofft, nun schleunigst modernisiert zu werden und nur noch europäischen Werten verpflichtet zu sein. „Wir dachten, mit den Machenschaften unserer korrupten Eliten ist es dank EU vorbei“, erinnert sich Duntschew. Stattdessen regiert in Sofia seit 2009 das wirtschaftsliberale Kabinett von Premier Bojko Borissow, eines ehemaligen Leibwächters des letzten KP-Generalsekretärs und Staatschefs Todor Schiwkow.
Bevor er seinen politischen Ambitionen nachgab, arbeitete „Bojko“, wie ihn die Bulgaren nennen, nach 1990 bei der Polizei – als V-Mann mit dem Decknamen Buddha, der bestimmte kriminelle Gruppen beobachten sollte und deshalb in dieses Milieus eingesickert war. Die mafiösen Strukturen wurden durch die Undercover-Aktivitäten von Bojko freilich nicht weiter erschüttert. Sie blieben intakt und eine Herausforderung.
Allein im Februar erlebte Sofia eine Entführung und einen Mord am helllichten Tag. Just vor dem Sitz des Obersten Gerichts wurde einer der berüchtigsten Gangster des Landes kurz vor seinem Prozess auf offener Straße niedergestreckt. Gangster dieses Kalibers nennen die Bulgaren mutri, womit Ex-Mitarbeiter der Polizei gemeint sind, die finanziell versorgt und gut vernetzt in kriminelle Biotope umgestiegen sind. In Sofias Medien spricht man heute auch von Mutrokratie. Die Kandidatin für die Kontrollbehörde „Energie und Wasser“ musste soeben zurückgezogen werden, weil sich herausgestellt hatte, dass sie in zwielichtigen Geschäften mit Zigaretten steckte und dabei die Steuerpflicht zu umgehen verstand.
„Dies ist kein peinlicher Ausreißer, sondern fast schon die Norm in Bulgarien. Neu ist, dass der Skandal nicht einfach ignoriert wurde“, meint der Sofioter Politologe Martin Lessinski. „Wenn der deutsche Innenminister die Erweiterung des Schengen-Raums um Rumänien und Bulgarien weiter blockiert, ist das sicher billiger Vorwahlpopulismus für den Binnenkonsum. Doch haben wir unabhängig davon ein ernstes Problem mit unserer Justiz.“
Premier Borissow wurde ursprünglich von vielen Bulgaren als Alternative betrachtet, weil er einen Bruch mit der Vergangenheit versprach. Tatsächlich aber bestand sein Kabinett teils aus wirtschaftsliberalen Technokraten wie Finanzminister Simeon Djankow, der – früher bei der Weltbank in Washington tätig – den rigorosen Sparkurs der vergangenen Jahre maßgeblich geprägt hat. Eine Flat-Steuer von nur zehn Prozent auf alle Einkommen und Unternehmensprofite wurde eingeführt, um mehr ausländische Investoren für den Standort Bulgarien zu gewinnen. Gehälter im öffentlichen Sektor wurden hingegen gekürzt – Sozialleistungen gestrichen. „Die Sparmaßnahmen gingen weit darüber hinaus, was man in Westeuropa für vorstellbar hält“, urteilt Martin Lessinski. Simeon Djankows abfällige Bemerkungen über „Nichtstuer im öffentlichen Dienst“ oder bei der Akademie der Wissenschaft sorgten für eine starke Polarisierung. Am 3. März, dem Nationalfeiertag, gingen in Sofia über 100.000 Menschen auf die Straße.
Auch Maria Zlatkowa. Die 55-jährige Lehrerin stammt aus Montana, einer Stadt im Nordwesten Bulgariens, die unter Armut und Arbeitslosigkeit leidet. „Ich will nicht in einem Land leben, das Bildung und Gesundheit vernachlässigt und meine Kinder zum Auswandern zwingt“, sagt Zlatkowa. Ihre Tochter Antina studiert in Wien – wie fast eine Million ihrer Landsleute hält sie eine Rückkehr nach Bulgarien für völlig abwegig und will in Österreich bleiben.
Gewalttaten wie diese
Derzeit gilt Warna neben Sofia als zweite Hauptstadt des Aufruhrs. Dort haben sich Ende Februar mehrere Menschen aus Protest angezündet, darunter der junge Fotograf Plamen Goranow, der inzwischen den Verbrennungen erlegen ist. In der Stadt an der Schwarzmeer-Küste gehen täglich bis zu 70.000 Bürger, rund ein Drittel der Einwohnerschaft, auf die Straße, um nicht länger sozial deklassiert und gedemütigt zu werden. Am Tag, als sich Goranow verbrannte, traten endlich der Bürgermeister und sämtliche Stadträte zurück, wütende Bürger zerrissen ihre Stromrechnungen auf offener Straße und verlangten, die Energiekonzerne wieder in Staatseigentum zu überführen.
Mittlerweile geht der Protest in seinen Forderungen sehr viel weiter. Es soll eine neue Verfassung geben, die Bürgerbeteiligung auf allen institutionellen Ebenen festschreibt, so ein Bürgermeeting Mitte März in der Stadt Sliven. Nur dadurch sei eine Kontrolle über die politische Klasse möglich und könne garantiert werden, dass es keine undurchsichtigen Deals zugunsten von Privatunternehmen mehr gäbe.
Parteien wurden von diesen Debatten ganz bewusst ausgeschlossen. „Es hört sich sicher naiv an, aber die Gefahr, besonders von den Oppositionsparteien in diesem Augenblick instrumentalisiert zu werden, ist einfach zu groß“, ist Alexandar Duntschew überzeugt und dürfte besonders die Sozialisten meinen, die das Land zuletzt zwischen 2005 und 2009 regiert haben.
Präsident Rossen Plewneliew hat die von der Verfassung vorgesehene Prozedur eingeleitet und vorgezogene Parlamentswahlen für den 12. Mai anberaumt, aber vielen Bulgaren reicht das nicht. Auf dem Platz vor dem Parlament sammeln sich in Sofia täglich Tausende – manchmal Zehntausende –, die offenbar nur noch ein radikaler Wandel besänftigen kann. „Bulgarien ist nicht Russland“, wird gerufen Auf Transparenten ist von bitterer Armut, Niedrig-Renten und zu hohen Wohnkosten die Rede. Und von Gerechtigkeit. Manchmal werden Teilnehmer von der Polizei zusammengeschlagen. Es waren Gewaltakte wie diese, die Bojko Borissows Rückzug beschleunigt haben.
Silviu Mihai hat sich zuletzt mit den Folgen der EU-Spardiktate für Rumänien befasst
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