Die guten Jungs aus der Josefstadt

Ungarn Die Regierung Orbán holt zum Aufräumen auf ­Straßen und Plätzen aus – neuerdings gilt ein Gesetz, das Obdachlose kriminalisiert. Doch regt sich Widerspruch

Auf dem Blaha-Lujza-Platz, einem der Verkehrsknotenpunkte von Budapest, stehen an diesem milden Winternachmittag Dutzende von Bedürftigen Schlange. Sie warten auf die warme Mahlzeit, mit der sie ein hier ansässiger christlicher Hilfsverein regelmäßig versorgt. Aus einem Lautsprecher ertönen Bibelverse. Immer wieder die gleichen. Eine Helferin schüttet einen rötlichen Bohneneintopf in Plastikschüsseln und verteilt die Suppe zusammen mit einer dicken Scheibe Schwarzbrot. „Im Namen Christi, im Namen Christi“, murmelt sie vor sich hin. Männer und Frauen löffeln und schlürfen wortlos ihre Teller leer und verschwinden wieder in die benachbarten Seitenstraßen des VIII. Bezirks.

Die meisten, die am Blaha-Lujza-Platz auftauchen, haben seit Jahren keine Wohnung mehr. Genau das stempelt sie in Ungarn mittlerweile zu Gesetzlosen. Wer ab dem 1. Dezember 2011 öffentliche Plätze „sachfremd nutzt“, sagt das Gesetz, gegen den kann eine Geldstrafe von bis zu 500 Euro oder auch eine Buße von mehreren Tagen Haft verhängt werden. „Unser bisheriger Umgang mit dem Problem Obdachlosigkeit in Ungarn ist gescheitert“, gibt sich Máté Kocsis empört. Der 30-jährige Bezirksbürgermeister im schwarzen, eng geschnittenen Mantel gilt als ambitionierter Lokalpolitiker in der regierenden Fidesz-Partei von Premier Viktor Orbán und als einer der Initiatoren des neuen Gesetzes. „Jeden Winter erfrieren immer wieder und immer mehr Wohnungslose in den Innenhöfen der Häuser oder auf Parkbänken. Und die Bürger haben Angst, mit ihren Kindern durch Budapests Straßen spazieren zu gehen. Das kann kein Zustand sein.“

Der VIII. Bezirk – auch Josefstadt genannt – liegt in der Nähe des Ostbahnhofs und genießt spätestens seit der Wende vor gut 20 Jahren den zweifelhaften Ruf, das Refugium eines verarmten, sich selbst überlassenen Milieus zu sein. Wegen der Jugendgangs, Drogensüchtigen und arbeitslosen Alkoholikern traue sich selbst die Polizei nicht mehr überall hin, wird erzählt. Der Fidesz-Bürgermeister will seit seiner Wahl im Herbst 2010 zeigen, dass er hier Ordnung schafft. Seine Bezirksverwaltung hat eine private Sicherheitsfirma engagiert, und die Jó Fiúk – zu deutsch die „guten Jungs“ – patrouillieren in ihren massiven schwarzen Geländewagen durch die Straßen des Quartiers.

Wühlen verboten

Gut ein Viertel der etwa 10.000 Budapester Obdachlosen lebt laut offizieller Statistik der Behörden in der Josefstadt. „Viel zu viel“, findet der Bürgermeister. „Die meisten hatten nie eine Wohnung in diesem Viertel, sondern in anderen Bezirken, oft in anderen Städten. Die sind nur deshalb in den VIII. Bezirk gekommen, weil schon andere Obdachlose hier leben.“ Im Frühjahr 2011 verbot Máté Kocsis per Erlass das Wühlen in den Mülltonnen. „Seitdem müssen wir viel weniger Abfall von den Straßen sammeln, die Einsatzzeit der Teams von der Müllabfuhr hat sich um die Hälfte verringert“, rühmt er sich.

István Tóth, 49 Jahre alt und obdachlos, meidet mittlerweile die Josefstadt. Nachmittags steht er zwei Straßen von der Bezirksgrenze entfernt, nördlich vom Blaha-Lujza-Platz, und verkauft das Obdachlosenblatt Fedél Nélkül, dessen Name so viel wie „ohne Dach“ bedeutet. „Wie die da oben gegen uns hetzen, ist unerträglich“, sagt der gebrechlich wirkende Mann mit ängstlichem Gesicht. Der gelernte Maler und Tapezierer hatte Anfang der neunziger Jahre einen Unfall und konnte nicht mehr arbeiten. Bald verlor er seine Wohnung. „In den letzten 18 Jahren habe ich meistens auf der Straße gelebt, wo ich auch meine Frau Judit Szilvai kennenlernte. Wir haben überall geschlafen, in Treppenhäusern, in Kellern, ein ganzes Jahr sogar draußen auf Parkbänken, wenn es die Jahreszeit erlaubte. Jetzt finanzieren wir unser bisschen Leben aus dem Zeitungsverkauf und aus Spenden. Das ermöglicht wenigstens eine Wohngemeinschaft mit einem anderen Paar.“

Herausgegeben wird die Fedél Nélkül von der Stiftung Menhely (Obdach), die sich seit 1989 bemüht, dem Dasein der Obdachlosen etwas von der bleiernen Trostlosigkeit zu nehmen. „Wir sind die älteste säkulare Organisation in Ungarn, die sich um diese Menschen kümmert. Unsere Sozialarbeiter versuchen, das Leben der Straßenmenschen erträglicher zu machen und ihnen eine Stimme zu geben“, sagt Menhely-Vorstand Péter Györi. Die Stiftung betreibt ein Tagesheim für Obdachlose, es gibt Abstellkammern für die persönliche Habe, Waschräume und Rechtsberatung.

„Vormittags gehen wir in die Kürt-Straße duschen, die Stiftung verteilt dann die Zeitungen, die wir ausgeben sollen“, erzählt István Tóth. An guten Tagen liege der Erlös bei umgerechnet zehn Euro. Zusammen mit der kleinen Teilrente seiner Frau Judit Szilvai sei das genug „für Miete, Brot, Wurst und Wasser“. Übrig bleibe nichts. „Die Preise für Lebensmittel sind in den vergangenen Jahren gestiegen, die ärmsten Leute hierzulande können sich nur noch das Nötigste leisten.“ Tóths Erfahrung spiegelt die offiziellen Zahlen. Mit mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit, einer hohen Inflation, einer kriselnden Wirtschaft und einer Mehrwertsteuer von 27 Prozent ist das heutige Ungarn längst nicht mehr die „fröhlichste Baracke im Osten“, wie es vor 1989 hieß.

Wenn abends, nach dem Sonnenuntergang, die Bankfilialen und Geschäfte im Erzsébet-Ring schließen, die Kassierer der Wechselstuben die Jalousien herunter lassen und der Geruch von gerösteten Maronen oder von Glühwein über den Blaha-Lujza-Platz zieht, packen István Tóth und Judit Szilvai ihre restlichen Zeitungen ein, gehen nach Hause und hoffen, am nächsten Tag wieder an dieser Stelle stehen zu können.

Beten und Arbeiten

„Für die Seiten der Fedél Nélkül schreiben meistens Menschen, die selbst obdachlos sind. Sie erzählen ihre Geschichten oder schreiben Gedichte“, erklärt Anna Orbán. Die ältere Frau ist in die Tagesstätte der Stiftung Menhely gekommen, um Texte zu redigieren. Sie hat jahrelang als Sekretärin bei Behörden und in Ministerien gearbeitet, ehe sie ein Schicksalsschlag traf: Ihr Mann starb 2002 völlig unerwartet, sie fing an zu trinken, ihre Wohnung in Budapest, ihr Arbeitsplatz und ihre 4.000 Bücher waren schnell weg. Seit mehr als acht Jahren lebt sie nun in einem Wohnheim am Stadtrand. „Mit dem Alkohol, das habe ich jetzt glücklicherweise hinter mir und angefangen zu schreiben“, erzählt sie. „So gewann ich den monatlichen Autorenwettbewerb der Obdachlosenzeitung. Und die Freude am Schreiben ist geblieben.“

Ende Januar bekam Anna zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder eine feste Stelle. Als Redakteurin und Übersetzerin aktualisiert sie unter anderem den täglichen Medienspiegel für in Ungarn ansässige ausländische Unternehmen. „Wenn alles gut geht, werde ich irgendwann eine Wohnung mieten können, aus dem Wohnheim ausziehen und es hinter mir lassen wie ein gescheitertes Leben.“

Auch danach werde sie sich weiter um die „Straßenmenschen“ kümmern. „Heute ist das wichtiger denn je“, findet Anna. Sie erzählt von der Budapester Initiative „Eine Stadt für alle“ – auf Ungarisch A város mindenkié oder kurz AVM –, die 2009 gemeinsam von Obdachlosen und Sozialarbeitern gegründet wurde, um sich gegen die ewige Stigmatisierung zu wehren und den Obdachlosen trotz allem ein würdiges Leben zu ermöglichen. „In Osteuropa mit einer schwachen, oft vom Staat abhängigen Zivilgesellschaft ist eine solche Organisation einmalig“, weiß auch Menhely-Chef Györi.

Weit weg von der Innenstadt, am Rand seines VIII. Bezirks, eröffnete Bürgermeister Kocsis Mitte Dezember vor den Kameras des Staatsfernsehens das erste „Haus der Seele“. Hier würden „zunächst 14 Obdachlosen redliche Arbeit und geistlicher Trost geboten“, meinte der Schirmherr. Das Projekt gehört zu einem Programm der Fidesz-Regierung. Jede Kommunalverwaltung soll sich an der Josefstadt ein Beispiel nehmen, „ihre“ Obdachlosen von der Straße holen und zum Einzug in ein solches, von der Polizei bewachtes Heim bewegen. Es wird gemeinsam mit christlichen Hilfswerken unterhalten, die auf einer Arbeits- und Gebetspflicht für die Insassen bestehen. „Manch ein politisch motivierter Kritiker meint, es sei das Recht der Obdachlosen zu entscheiden, ob sie draußen auf der Straße erfrieren oder in die für sie eingerichteten Heime gehen. Wer das sagt“, stellt Bürgermeister Kocsis klar, „der ist nach meinem Eindruck alles andere als ein Freund der Obdachlosen.“

Doch nicht nur die meisten Bedürftigen sehen das Modell mit den christlichen Heimen skeptisch. Bei der Einweihung einer ähnlichen Einrichtung im IX. Bezirk wurden jüngst Innenminister Sándor Pintér und Budapests Oberbürgermeister István Tarlós von laut protestierenden Studenten empfangen. „Wir wollen den Wohlstandsstaat – keinen Polizeistaat“, stand auf ihren Transparenten. „Werden die Obdachlosen hier kommen und gehen dürfen, wann sie wollen? Sagen Sie uns jetzt die Wahrheit: Ja oder nein?“ attackierte die Eine-Stadt-für-alle-Aktivistin Tessza Udvarhelyi den Innenminister.

In der Josefstadt, in Rufweite vom Blaha-Lujza-Platz, liegt der Hauptsitz der Polizeisektion für Ordnungswidrigkeiten. Seit Anfang Dezember ist das Amt dafür zuständig, die „sachfremde Nutzung öffentlicher Plätze“ zu protokollieren und die Obdachlosen mit Geldstrafen zu belegen. An einem Freitagnachmittag im März, kurz nach 17 Uhr, schlagen Dutzende Anhänger der Eine-Stadt-für-alle-Bewegung an einer benachbarten Straßenkreuzung Zelte auf. Es regnet, die improvisierten Transparente werden nass. Attila Steve Kopiás, frisch gewählter Pressesprecher der neuen Initiative „Unterkünfte statt Knast“, will trotzdem gemeinsam mit einer Handvoll Sympathisanten die ganze Nacht auf der Straße ausharren. „Hier im VIII. Bezirk wollen wir zeigen, dass die Politik der Regierung und der Stadtverwaltung heuchlerisch und menschenverachtend ist“, ruft er in ein Megaphon.

„Wir organisieren uns vorrangig über Facebook, weil wir dort angefangen haben“, erklärt Kopiás und setzt sich zurück in sein Zelt. „Wir möchten mehr als eine Internet-Gruppe sein. Wir möchten zeigen, dass viele Bürger nicht in einem Land leben wollen, in dem es diesen Politikstil gibt und Andersdenkende durch den Ministerpräsidenten persönlich zu Fremdherzigen erklärt werden.“ Zwei schwarze Geländewagen der Sicherheitsfirma Jó Fiúk ziehen vorbei. „Hallo, gute Jungs!“, rufen ihnen die Aktivisten hinterher.

Silviu Mihai hat zuletzt für den Freitag über junge moldawische Auswanderer geschrieben

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