Was läßt sich Besseres über die Biographie eines Dichters sagen, als daß sie zu erneuter Lektüre oder zum ersten Kennenlernen des Werkes des Porträtierten herausfordert, ja sogar provoziert. Der Wunsch zu den literarischen Texten zu greifen, resultiert aus den in der vorliegenden Biographie enthaltenen Analysen und Wertungen, die man als Leser gerne nachvollziehen, prüfen oder auch korrigieren möchte. Ist diktiert von Selbstvergewisserung und Prüfung des Bildes von einem Mann, der zu den umstrittensten Künstlern dieses Jahrhunderts gehört, weil er sich in exemplarischer Weise auf die Seite der sozial Unterdrückten und Entrechteten stellte und bis zu seinem bitteren Lebensende seinen sozialistischen Idealen verbunden blieb. Es ist
st gut, daß nach den vordergründig aufgeregten und spektakulär einseitigen Enthüllungsgeschichten der Nachwendezeit ein umfangreiches Buch vorliegt, das sich die Rekonstruktion des spannenden und widerspruchsvollen Lebens des Münchener Bürgersohns Johannes R. Becher (JRB) vornimmt, dessen beispielloser Weg zum Kulturminister der DDR in seinen Höhen und Tiefen, mit allen Stolpersteinen, Schlaglöchern und Abgründen ausgebreitet wird.Motiv des Schreibens war für den 38jährigen Jenenser Biographie-Schreiber und über Ludwig Feuerbach promovierten Philosophen wohl vor allem die Ergründung der Widersprüche dieses Lebens, dessen Verirrungen er als »ein Exempel für die Irrwege des an Hoffnungen und Schrecken so überreichen Jahrhunderts« sieht.Anzuschreiben galt es also gleichermaßen gegen die einseitigen Becher-Bilder aus der Vergangenheit und Gegenwart. Und es waren die alten und zum Teil erst nach 1990 neu zugänglichen Quellen zu befragen. Was Jens-Fietje Dwars aus akribischen Archivstudien, sorgfältig-kritischer Auseinandersetzung mit der umfänglichen Sekundärliteratur und mittels bedachter Analyse zu tage gefördert hat, ist ein beachtliches Stück deutscher Geistes- und Kulturgeschichte, gespiegelt im Leben und Werk des JRB, der in seinem frühen Bekenntnis »Ich war ein Dichter mit Leib und Seele« (1910) am Lebensende genau darin sein Scheitern erblickt haben muß. Daß Dwars das Dichten, das Werk des JRB zugunsten seiner geistig-intellektuellen Verfaßtheit und des biographisch-mentalen Weges sowie des sozialen und politischen Umfeldes in die zweite Reihe verweist, wird mancher bedauern. Es hat aber den Vorteil großen Erkenntniszugewinns für Bechers geistig-moralische Physiognomie, auch seine psychologische Geprägtheit und individuelle Besonderheit.Die philosophischen und historischen Ausflüge verselbständigen sich zuweilen und scheinen ihren Bezugspunkt Becher aus den Augen zu verlieren scheinen. Sie ermöglichen aber eine genauere theoretische und historische Verortung seines Erfahrungshorizonts. Insbesondere für die zentralen Bezugspunkte Oktoberrevolution und Lenin, kommunistische Partei und sozialistische Bewegung, sind die streitbaren Darlegungen zum Leninismus, zu Rosa Luxemburg, zur konflikt reichen Entwicklung der nachrevolutionären gespaltenen Arbeiterbewegung sehr hilfreich, um Bechers Agieren und Schreiben in die politischen und literarischen Prozesse seiner Zeit einordnen zu können. Dabei bezieht der Biograph polemisch und deutlich Stellung gegen heute übliche Gleichsetzungen von Leninismus und Stalinismus oder gegen teleologische Interpretationen der Sozialismusgeschichte.In der Einbeziehung von bisher nicht beachteten oder bis jetzt nicht zugänglichen Erinnerungsberichten (Hans Taeger, Karl Theodor Bluth, Karl und Elisabeth Raichle, Erika Wiens ) läßt Dwars viele neue Facetten des Menschen aufscheinen. Erstmals wird hier auch das komplizierte Kapitel JRB und die Frauen geschrieben, dessen Ergebnis das Bild eines tendentiell liebesunfähigen und bindungsgestörten Mannes ist. Die Beziehung zu Eva Herrmann scheint seine emotional reichste gewesen zu sein. Die seit 1935 gelebte, durch Heirat in Moskau 1938 legalisierte Beziehung zu Lilly Korpus, der bekannten Parteijournalistin der AIZ, von der Dwars zu recht anmerkt, daß eine Biographie über sie überfällig sei, geriet wohl für beide wenig glücklich. Sie erscheint als politisches Zweckbündnis und Überlebensgemeinschaft in gefährlichen und bewegten Zeiten, deren zum Teil kafkaeske Züge wohl im Dunkeln bleiben werden. Seit 1951 nicht mehr berufstätig, arbeitet sie Becher zu, um nach seinem Tod alles für seine Inthronisation als Partei- und Staatsdichter zu tun und deshalb alles politisch und persönlich Unliebsame im Nachlaß zu sekretieren.Die Proportionen des voluminösen Buches sind einleuchtend: mehr als die Hälfte des Umfangs ist der Darstellung von Bechers Werdegang bis 1933 gewidmet, die Exilzeit wird auf 150 Seiten und die Zeit nach 1945 auf 250 Seiten abgehandelt.Es ist klar, daß bei einem derart umfangreichen literarischen Werk, immerhin umfaßt die 1966 bis 1981 erschienene Werkausgabe des Aufbau-Verlages 18 dickleibige Bände, nur eine Auswahl berücksichtigt werden kann. Es ist jedoch zu bedauern, daß ausgerechnet die Lyrik generell zu kurz kommt, obwohl doch gerade seine Gedichte aus der expressionistischen Zeit, die Deutschland-Dichtung des Exils, aber auch Teile seiner politischen Dichtung, ihn zu einem in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts anerkannten Autor machen. Ausgezeichnet ist die Analyse des Großen Plans von 1931, dem Epos des sozialistischen Aufbaus, in Vergleich und Kontrastierung zu Bertolt Brechts Maßnahme und Ernst Jüngers Der Arbeiter. Sie macht die starken politischen und ästhetischen Polarisierungen am Ende der erschöpften Weimarer Republik deutlich, wirft das Problem der Politisierung der Ästhetik beziehungsweise der Ästhetisierung der Politik auf, das wenig später in eine spezifisch nationalsozialistische »Lösung« abstürzen wird. Weniger überzeugend wird mit Bechers Roman Abschied umgegangen, wenn er allzusehr autobiographisch pur genommen wird, und ganz übersehen bleibt seine hochmoderne epische Form, in der wohl Bechers produktiv-provokanter Beitrag der von ihm als scholastisch abgelehnten Expressionismus-Realismus-Debatte des Exils gesehen werden muß. Die Verwicklungen Bechers in den Stalinismus, politisch-geistig, mental und ganz individuell, werden aufgrund der nach 1990 zugänglich gewordenen Quellen und Materialien erstmals so detailliert und komplex beschrieben. Dabei kann Dwars die Haltlosigkeit des Denunzianten-Vorwurfs zeigen, ohne die schlimmen Ängste, existentiellen Konflikte und terroristischen Situationen, aber auch die panegyrischen Stalin-Elogen zu verschweigen.Bechers Bemühungen um die internationalen antifaschistischen Literaturaktivitäten, sein konzeptionelles Geschick und organisatorisches Talent zum Dialog mit Andersdenkenden wertet der Biograph zu recht als eine konstante Lebensleistung, die ihn zugleich jedoch immer wieder zum Objekt von politischen Angriffen, auch aus den eigenen Reihen, werden ließ. So war denn sein Leben in der DDR, mit der er sich als »neuem Deutschland« identifizierte und die er gleichzeitig tief traurig als nur halbes, gespaltenes Land sah, alles andere als glücklich. Mußte er doch hier nachhaltig die »Verteidigung der Poesie« anmahnen und sich gegen die offiziell geförderte »Propaganda mit literarischen Mitteln« wenden. Aufgefressen von dem ungeliebten Amt des Kulturministers, in ständige Konflikte mit der Parteiführung und Ulbricht persönlich verwickelt, mit fast versiegender dichterischer Kraft und einer nachlassenden Gesundheit bot er, der sich als Repräsentant und Sprecher der Nation stilisierte, zuletzt innerlich und äußerlich ein trauriges Bild.Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Aufbau Verlag Berlin 1998, 861 Seiten, 98,- DM
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